Montage und Collage gelten im allgemeinen als paradigmatische Darstellungsformen der Moderne. Dennoch sind sie nur wenig erforscht worden. Die bisherigen Untersuchungen beschränken sich zumeist auf einzelne OEuvres und bleiben im Rahmen nur einer Disziplin. Anders als die Wissenschaftler waren die Montagekünstler aber darauf aus, die Grenzen ihrer Künste zu durchbrechen. Die Studie folgt ihnen und stellt den ersten umfassenden Versuch dar, die Entwicklung der Montage intermedial und interdisziplinär in ihrer historischen und systematischen Komplexität darzustellen und theoretisch zu begründen. Die Weiträumigkeit und die historische Tiefe des Themas wird in komplexer Verschränkung, aber übersichtlich präsentiert, wobei die theoretische Reflexion in eigenen Kapiteln fortlaufend entwickelt und ergänzt wird.
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Frankfurter Allgemeine ZeitungBlaumann in der Dunkelkammer
Schnipsel aus dem visuellen Chaos: Querdenken kann jeder, querlesen hingegen setzt nach Hanno Möbius Monteursbefugnis voraus
"Nehmt eine Zeitung. Nehmt Scheren. Wählt in dieser Zeitung einen Artikel von der Länge aus, die ihr eurem Gedicht zu geben beabsichtigt. Schneidet sorgfältig jedes Wort dieses Artikels aus, und gebt sie in eine Tüte. Schüttelt leicht. Nehmt dann einen Schnipsel nach dem anderen heraus. Schreibt sie gewissenhaft in der Reihenfolge ab, in der sie aus der Tüte gekommen sind. Das Gedicht wird euch ähneln. Und damit seid ihr ein unendlich origineller Schriftsteller mit einer charmanten, wenn auch von den Leuten unverstandenen Sensibilität."
Was Tristan Tzara 1916 im Dada-Manifest als Anleitung zur Herstellung von Literatur proklamierte, mag Traditionalisten erschüttert haben und als Kunstkonzept neu gewesen sein - das Verfahren der Zeitungsmontage aber war lange bekannt. "Cross-reading" hieß im achtzehnten Jahrhundert in England ein Gesellschaftsspiel, das Leser erfanden, als Zeitungsartikel erstmals im Spaltensatz gedruckt wurden und man sich an den neu vorgegebenen Leseverlauf noch nicht gewöhnt hatte. Die Spalten wurden einfach ignoriert, und lesend wurde von einer Kolumne zur anderen gesprungen. So entstanden ungewohnte Nachbarschaften, Wort- und Satzmontagen, die Sinnzusammenhänge auflösten. Wer heute Bücher und Beiträge "querliest", mag darin eine Technik sehen, ihren Sinn möglichst schnell zu erfassen. Das Gegenteil war gemeint, als Lichtenberg die "Cross-readings" aus England mit nach Deutschland brachte. Noch für die Dadaisten war jeder Querleser ein Sinn-Zersetzer und damit ein Künstler.
Auch Hanno Möbius' umfangreiche Studie über "Montage und Collage" ließe sich natürlich querlesen. Das Buch ist selbst eine Montage-Arbeit aus Teilstücken zu Kunst, Literatur, Film, Fotografie, Musik, Theater und Theorie, mit denen der Autor die Geschichte eines Verfahrens zusammensetzt. Beim Überspringen von Seiten und Kapiteln könnte dem Leser jedoch das Wichtigste entgehen. Denn nicht die theoretischen Überlegungen und Berichte zum Stand der Forschung sind das Spannende an Möbius' Untersuchung; auch nicht die langen und doch summarisch bleibenden Ausführungen über Kubisten, Futuristen, Dadaisten und Surrealisten. Vielmehr ist es die fast beiläufig erzählte Geschichte des Konstrukteurs im Blaumann, des Künstlers als Handwerker und Werksarbeiter, der, wo immer er zusammensetzte und -klebte, ein Monteur war.
Als John Heartfield und George Grosz sich während des Ersten Weltkriegs als Foto-Monteure ausgaben, traten sie in blauer Arbeitskleidung auf und waren so die ersten Blaumänner der Dunkelkammer. Von "Montur" hatte man zuerst beim Militär gesprochen und die Ausrüstung eines Soldaten gemeint. Im achtzehnten Jahrhundert verlagert sich der Begriff dann in die Sphäre des Handwerks und der Industrie. Dort bezeichnet er jenen Vorgang, bei dem Bestandteile einer Vorrichtung zusammengeführt und in einen gebrauchsfähigen Zustand versetzt wurden. Möbius verfolgt das handwerkliche Zusammensetzen von Vorrichtungen zurück bis in die Volkskunst der Frankfurter Lokalposse, wo der erste Hampelmann konstruiert wurde, und geht von dort aus zur Mechanik der Automaten-Figuren. 1773 erstellte der Automatenbauer Jacquet-Droz seinen bekannten "Schreiber", eine mit Federkiel und Papier an einem Schreibtisch sitzende Puppe, die auf scheinbar natürliche Weise mehrere kleine Texte schreiben konnte. Was er verfertigte, war die Miniatur "homme machine", ein aus Einzelbestandteilen montierter künstlicher Mensch.
Immer wieder deutet die Studie Zusammenhänge zwischen den Arbeitswissenschaften und der Montagekunst des frühen Films an. Expliziert werden sie leider genausowenig wie an anderen Stellen der historische Konnex von Montage und Krieg. Die Frage etwa, warum die Hochzeit des Montageverfahrens ausgerechnet in die Zeit des Ersten Weltkriegs fällt, verkürzt Möbius auf die lakonische Bemerkung, daß das "unsinnige Rezept" Tristan Tzaras eine "Reaktion auf die Unsinnigkeit des Krieges" sei. Eine Verbindung zwischen dem Kriegserlebnis und dem des industrialisierten Großstadtalltags, wie Benjamin sie als Reizansturm auf Augen und Ohren hergestellt hat, läßt das Buch selbst in den Abschnitten über Großstadt und Gleichzeitigkeit außer acht.
"Wie soll sich ein unbewaffnetes Auge im visuellen Chaos hastenden Lebens zurechtfinden?" fragte 1928 der russische Regisseur Dziga Vertov im Manifest zum Film "Der Mann mit der Kamera". Ausgerüstet mit Kurbelapparat und Stativ, verläßt der Operateur in seinem Film das Attrappenreich der Fiktion und zieht aus in das Leben, erklettert Schornsteine, hängt sich an die Außenseite fahrender Trambahnen, filmt vom Auto aus oder gräbt sich mit seinem Kasten unter den Schienen der Eisenbahn ein, um den ihn überrollenden Zug von unten zu fotografieren. Das erjagte Leben kehrt als Bildstreifen auf der Kinoleinwand wieder, wo sich doppelbelichtete Straßenbahnen überkreuzen und Bewegungen zum Standbild erstarren. Dazwischen erscheinen in kurzen Intervallen montierte Bilder von Augen und Objektiven.
Vertovs Kameraauge, sein "Kinoglas", ist der Star eines Films im Film, den man mit Möbius den Inbegriff des modernen Montagewerks nennen könnte. Denn was "Der Mann mit der Kamera" vorführt, ist nicht nur die "Gleichzeitigkeit der Großstadt" im Schuß und Gegenschuß rasanter Parallelmontage. Es ist auch der Produktionsweg von der Aufnahme über Laboratorium und Montagewerkstatt bis hin zur Kinoleinwand. Wenn Vertov auch keinen Blaumann getragen haben mag, so ist er doch ein Monteur in diesem Sinne, ein Werksarbeiter, der das Kurbeln der Kameras, den Cut am Schneidetisch und das Rattern der Projektoren zu den Verrichtungen in der Großstadt zählt.
Hanno Möbius hat sich in seiner Studie bei weitem nicht am bekannten Kanon der Montagekunst orientiert. Sein Buch gleicht einem nahezu überbordenden Materialfundus, der die verschiedensten Formen des Montage- und Collageverfahrens versammelt und im Zusammenspiel der Medien in Beziehung setzt. Zahlreiche Abbildungen von Automaten, Lautgedichten, Fotocollagen oder Geräuscherzeugern rücken den Reichtum des Gegenstands, dessen kleinteilige Darstellung die vielen Entdeckungen manchmal außer Sicht geraten läßt, wieder vor Augen. Dem Verlag ist zu danken, daß die Druckqualität diesmal gar keinen Anlaß zum Klagen bietet.
JULIA ENCKE.
Hanno Möbius: "Montage und Collage". Literatur, bildende Künste, Film, Fotografie, Musik, Theater bis 1933. Wilhelm Fink Verlag, München 2000. 498 S., br., 138,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schnipsel aus dem visuellen Chaos: Querdenken kann jeder, querlesen hingegen setzt nach Hanno Möbius Monteursbefugnis voraus
"Nehmt eine Zeitung. Nehmt Scheren. Wählt in dieser Zeitung einen Artikel von der Länge aus, die ihr eurem Gedicht zu geben beabsichtigt. Schneidet sorgfältig jedes Wort dieses Artikels aus, und gebt sie in eine Tüte. Schüttelt leicht. Nehmt dann einen Schnipsel nach dem anderen heraus. Schreibt sie gewissenhaft in der Reihenfolge ab, in der sie aus der Tüte gekommen sind. Das Gedicht wird euch ähneln. Und damit seid ihr ein unendlich origineller Schriftsteller mit einer charmanten, wenn auch von den Leuten unverstandenen Sensibilität."
Was Tristan Tzara 1916 im Dada-Manifest als Anleitung zur Herstellung von Literatur proklamierte, mag Traditionalisten erschüttert haben und als Kunstkonzept neu gewesen sein - das Verfahren der Zeitungsmontage aber war lange bekannt. "Cross-reading" hieß im achtzehnten Jahrhundert in England ein Gesellschaftsspiel, das Leser erfanden, als Zeitungsartikel erstmals im Spaltensatz gedruckt wurden und man sich an den neu vorgegebenen Leseverlauf noch nicht gewöhnt hatte. Die Spalten wurden einfach ignoriert, und lesend wurde von einer Kolumne zur anderen gesprungen. So entstanden ungewohnte Nachbarschaften, Wort- und Satzmontagen, die Sinnzusammenhänge auflösten. Wer heute Bücher und Beiträge "querliest", mag darin eine Technik sehen, ihren Sinn möglichst schnell zu erfassen. Das Gegenteil war gemeint, als Lichtenberg die "Cross-readings" aus England mit nach Deutschland brachte. Noch für die Dadaisten war jeder Querleser ein Sinn-Zersetzer und damit ein Künstler.
Auch Hanno Möbius' umfangreiche Studie über "Montage und Collage" ließe sich natürlich querlesen. Das Buch ist selbst eine Montage-Arbeit aus Teilstücken zu Kunst, Literatur, Film, Fotografie, Musik, Theater und Theorie, mit denen der Autor die Geschichte eines Verfahrens zusammensetzt. Beim Überspringen von Seiten und Kapiteln könnte dem Leser jedoch das Wichtigste entgehen. Denn nicht die theoretischen Überlegungen und Berichte zum Stand der Forschung sind das Spannende an Möbius' Untersuchung; auch nicht die langen und doch summarisch bleibenden Ausführungen über Kubisten, Futuristen, Dadaisten und Surrealisten. Vielmehr ist es die fast beiläufig erzählte Geschichte des Konstrukteurs im Blaumann, des Künstlers als Handwerker und Werksarbeiter, der, wo immer er zusammensetzte und -klebte, ein Monteur war.
Als John Heartfield und George Grosz sich während des Ersten Weltkriegs als Foto-Monteure ausgaben, traten sie in blauer Arbeitskleidung auf und waren so die ersten Blaumänner der Dunkelkammer. Von "Montur" hatte man zuerst beim Militär gesprochen und die Ausrüstung eines Soldaten gemeint. Im achtzehnten Jahrhundert verlagert sich der Begriff dann in die Sphäre des Handwerks und der Industrie. Dort bezeichnet er jenen Vorgang, bei dem Bestandteile einer Vorrichtung zusammengeführt und in einen gebrauchsfähigen Zustand versetzt wurden. Möbius verfolgt das handwerkliche Zusammensetzen von Vorrichtungen zurück bis in die Volkskunst der Frankfurter Lokalposse, wo der erste Hampelmann konstruiert wurde, und geht von dort aus zur Mechanik der Automaten-Figuren. 1773 erstellte der Automatenbauer Jacquet-Droz seinen bekannten "Schreiber", eine mit Federkiel und Papier an einem Schreibtisch sitzende Puppe, die auf scheinbar natürliche Weise mehrere kleine Texte schreiben konnte. Was er verfertigte, war die Miniatur "homme machine", ein aus Einzelbestandteilen montierter künstlicher Mensch.
Immer wieder deutet die Studie Zusammenhänge zwischen den Arbeitswissenschaften und der Montagekunst des frühen Films an. Expliziert werden sie leider genausowenig wie an anderen Stellen der historische Konnex von Montage und Krieg. Die Frage etwa, warum die Hochzeit des Montageverfahrens ausgerechnet in die Zeit des Ersten Weltkriegs fällt, verkürzt Möbius auf die lakonische Bemerkung, daß das "unsinnige Rezept" Tristan Tzaras eine "Reaktion auf die Unsinnigkeit des Krieges" sei. Eine Verbindung zwischen dem Kriegserlebnis und dem des industrialisierten Großstadtalltags, wie Benjamin sie als Reizansturm auf Augen und Ohren hergestellt hat, läßt das Buch selbst in den Abschnitten über Großstadt und Gleichzeitigkeit außer acht.
"Wie soll sich ein unbewaffnetes Auge im visuellen Chaos hastenden Lebens zurechtfinden?" fragte 1928 der russische Regisseur Dziga Vertov im Manifest zum Film "Der Mann mit der Kamera". Ausgerüstet mit Kurbelapparat und Stativ, verläßt der Operateur in seinem Film das Attrappenreich der Fiktion und zieht aus in das Leben, erklettert Schornsteine, hängt sich an die Außenseite fahrender Trambahnen, filmt vom Auto aus oder gräbt sich mit seinem Kasten unter den Schienen der Eisenbahn ein, um den ihn überrollenden Zug von unten zu fotografieren. Das erjagte Leben kehrt als Bildstreifen auf der Kinoleinwand wieder, wo sich doppelbelichtete Straßenbahnen überkreuzen und Bewegungen zum Standbild erstarren. Dazwischen erscheinen in kurzen Intervallen montierte Bilder von Augen und Objektiven.
Vertovs Kameraauge, sein "Kinoglas", ist der Star eines Films im Film, den man mit Möbius den Inbegriff des modernen Montagewerks nennen könnte. Denn was "Der Mann mit der Kamera" vorführt, ist nicht nur die "Gleichzeitigkeit der Großstadt" im Schuß und Gegenschuß rasanter Parallelmontage. Es ist auch der Produktionsweg von der Aufnahme über Laboratorium und Montagewerkstatt bis hin zur Kinoleinwand. Wenn Vertov auch keinen Blaumann getragen haben mag, so ist er doch ein Monteur in diesem Sinne, ein Werksarbeiter, der das Kurbeln der Kameras, den Cut am Schneidetisch und das Rattern der Projektoren zu den Verrichtungen in der Großstadt zählt.
Hanno Möbius hat sich in seiner Studie bei weitem nicht am bekannten Kanon der Montagekunst orientiert. Sein Buch gleicht einem nahezu überbordenden Materialfundus, der die verschiedensten Formen des Montage- und Collageverfahrens versammelt und im Zusammenspiel der Medien in Beziehung setzt. Zahlreiche Abbildungen von Automaten, Lautgedichten, Fotocollagen oder Geräuscherzeugern rücken den Reichtum des Gegenstands, dessen kleinteilige Darstellung die vielen Entdeckungen manchmal außer Sicht geraten läßt, wieder vor Augen. Dem Verlag ist zu danken, daß die Druckqualität diesmal gar keinen Anlaß zum Klagen bietet.
JULIA ENCKE.
Hanno Möbius: "Montage und Collage". Literatur, bildende Künste, Film, Fotografie, Musik, Theater bis 1933. Wilhelm Fink Verlag, München 2000. 498 S., br., 138,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Julia Encke zeigt sich geteilter Meinung über diesen Band. Ihr gefällt die Fülle an Material, die der Autor hier zusammengetragen hat, ob es nun um "Automaten, Lautgedichte, Fotocollagen oder Geräuscherzeuger" geht. Das Buch selbst hat ihrer Ansicht nach ebenfalls etwas von einer "Montage-Arbeit", weil der Autor hier die verschiedenen Disziplinen zum Thema Collage zusammenbringt. Die Stärke des Buchs liegt nach Encke hier weniger in theoretischen Abhandlungen oder den Ausführungen über Kunstrichtungen, als vielmehr in weithin unbekannten Geschichten wie der über Künstler im Blaumann: Dort wo John Heartfield und George Grosz in blauer Arbeitskleidung zur künstlerischen Tat in die Dunkelkammer schritten, weil sie sich als Montage-Handwerker bzw. Monteure verstanden. Etwas ausführlicher hätte nach Encke insgesamt die Darstellung des historischen Kontextes ausfallen können, schließlich sei es kein Zufall gewesen, dass das Montageverfahren gerade während der Zeit des Ersten Weltkriegs seins Blütezeit erlebte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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