Produktdetails
- suhrkamp taschenbuch
- Verlag: Suhrkamp
- Abmessung: 176mm x 108mm x 14mm
- Gewicht: 138g
- ISBN-13: 9783518387399
- Artikelnr.: 24040626
»Zu der Zeit der Erstveröffentlichung 1975 war sich die Kritik einig, dass das Verhältnis von Mann und Frau von keinem deutschsprachigen Schriftsteller mit diesem Maß an Offenheit beschrieben wurde. Doch warum soll man Montauk heute wieder lesen? Es ist ein Schlüssel zu Frischs Werk - so einfach ist es mit diesem schmalen Band.« Wolfgang Schäuble DIE WELT 20090922
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.07.2003Packen Sie noch oder lesen Sie schon?
Wo es im Urlaub am schönsten ist und welche Lektüre unbedingt mitmuß: Eine Weltreise mit 21 Büchern / Illustration: Tim Dinter
Auckland.
Mancher wird sagen, daß Lord Jim doch nie nach Auckland gekommen ist. Ich aber sage, man muß nur Joseph Conrad beim Wort nehmen: "In den entlegensten Winkeln der Welt erinnerte sich Marlow später oft und gerne an Jim." Und entlegener als Neuseeland ist aus deutscher Sicht nun einmal nichts auf dieser Welt. Je antipodischer die Umgebung bei der Lektüre von Conrads Büchern ist, desto besser. Also lese ich "Lord Jim" in Auckland, jener Stadt, deren Lebensfreude und Topographie dem Erzählideal von Marlow entspricht: "Nichts leichter, als zweihundert Fuß überm Meer von Master Jim zu erzählen - nach einer guten, ausgiebigen Mahlzeit und mit einer Kiste köstlicher Zigarren zu gefälliger Entnahme." Ergänzen wir noch einen ordentlichen Wein aus Hawke's Bay, und schon werden wir mit dem französischen Kapitänleutnant aus Marlows Bekanntschaft ausrufen: "Mon dieu! Wie die Zeit vergeht!" Conrad behauptet im Vorwort übrigens, Marlows mehr als 370 Seiten umfassende wörtliche Erzählung im Roman könne man in weniger als drei Stunden laut vorlesen. Das ist die größte Lüge der Weltliteratur. Gut, daß dem so ist.
ANDREAS PLATTHAUS.
Joseph Conrad: Lord Jim. Fischer Verlag, 462 Seiten, 22,50 Euro.
Brasilia.
Keine gute Idee, im Juli ans Meer zu fahren. Millionen von Menschen wollen im Juli ans Meer fahren, und weil es keine millionenkilometerlangen Strände gibt, schaut man im Juli am Meer nicht aufs Meer, sondern auf Unmengen schwitzender rotköpfiger Menschen, die aufs Meer zu schauen versuchen, und garantiert trifft man dort all die Leute, vor denen man eigentlich ans Meer geflohen war. Aber:.
Nichts ist im Sommer so schön wie Brasilia, die kühle, moderne Hauptstadt Brasiliens, der einzige zivilisierte Ort der Welt, an dem es überhaupt keine Touristen gibt. Dafür gibt es: leere Hotel-Pools, einsame Seen und eine weite rotstaubige Steppe, in der man stundenlang keinen Menschen trifft. Für alle, die genug von der verstopften, überfüllten, geschmacklosen Welt der Badeorte haben, gibt es keinen besseren Ort als ein Zimmer im obersten Stockwerk des Hotel Nacional in Brasilia - und es gibt keine bessere Lektüre als das grandiose Buch "Flucht vor Gästen" des leider schon verstorbenen deutschen Literaten Reinhard Lettau: Ein unfaßbar komisches, kluges, lakonisches Buch über Eindringlinge und Fluchten, Reiselust und Reiseangst. "Beim Anblick der Gäste", heißt es da, "wenn sie vor der Tür erscheinen, braucht man Überraschungen nicht zu fürchten, man lud sie ja ein, kannte sie also. Dennoch ist es immer wieder erstaunlich, zu beobachten, wie schlecht sie insgesamt aussehen. Solche Hemden streifen sich Religionsstifter über, Violonisten. Wer sich so kleidet, hat sich beurlaubt von den Kümmernissen der Welt." Von den Kümmernissen der Welt beurlaubt auch dieses Buch - und wer es nicht in Brasilia lesen will, kann zu Hause bleiben und das Spiel spielen, das Lettau gleich auf der ersten Seite seines großartigen Werkes vorschlägt; ein Spiel, bei dem es darum geht, auf einer Weltkarte die Länder mit weißer Farbe zu bedecken, "die man sich aus der Welt wegdenken kann, ohne daß Schaden entstünde: Afrika, Asien, alles südlich von Suhl, so daß schon bald nach Beginn meiner Überlegungen nur noch Thüringen übriggeblieben war." Auch dort gibt es übrigens Orte, die, wenn man sehr viel getrunken hat oder sehr kurzsichtig ist, aus der Entfernung ein bißchen wie Brasilia aussehen; aber das ist eine andere Geschichte.
NIKLAS MAAK.
Reinhard Lettau: Flucht vor Gästen. Carl Hanser Verlag, 94 Seiten, 13,90 Euro.
Mexiko.
Mexiko ist das aufregendste Land Amerikas. Alles ist maßlos: Der Verkehr, die Kultur, die Gewalt, die Schönheit, die Korruption, die Hitze, und selbst der Tod kennt hier keine Grenze - und alle diese Themen werden ausgiebig in Oktavio Paz' "Labyrinth der Einsamkeit" behandelt. Paz hat den Nobelpreis bekommen - aber wer Mexiko wirklich begreifen will, muß etwas anderes lesen: Die Geschichten von Juan Rulfo. "Nie mehr", schreibt Gabriel García Márquez, "seit der verrückten Nacht, als ich Kafkas Verwandlung in einer düsteren Studentenpension in Bogotá gelesen hatte, war ich so bewegt gewesen." Rulfo ergeht sich nicht wie andere lateinamerikanische Bestsellerautoren in endlosen Beschreibungen üppiger magischer Natur, im Gegenteil, er hat sich lange geweigert, seine Manuskripte an den Verlag herauszurücken, aus Angst, es könnte noch ein überflüssiges Wort darin sein. Rulfo (1918-1986) hat in seinem Leben nur zwei Bücher - insgesamt karge 250 Seiten -, ein Drehbuch und ein paar Liebesbriefe verfaßt - aber weder in "Pedro Paramo" (1955) noch in dem vielleicht noch lesenswerteren Kurzgeschichtenband "El Llano en Llamas" (1953) findet sich auch nur ein überflüssiges Wort. Rulfos Werk ist Mexiko durch ein Brennglas betrachtet, es verstört, und gleich danach verzaubert es. Rulfo gibt seinen Protagonisten, und seien es noch so verlorene Existenzen, das, was in Lateinamerika ein seltenes Gut ist: Würde. Wenn etwa in "Macario" (El Llano en Llamas) ein Junge am Froschteich von seinem Leben erzählt, erfährt man vielleicht erst beim zweiten Lesen, daß er behindert ist und unter seiner Patin, die ihn zum Fröschetotschlagen am See stillgestellt hat, leidet. In "Man hat uns Land gegeben" beschreibt Rulfo in wunderbar wortkargen Dialogen seine Heimat, einen trostlosen, unfruchtbaren Landstrich, und die bittere Wahrheit nach der Mexikanischen Revolution. In "Luvina" und auch in "Sag ihnen, sie sollen mich nicht töten!" wird Angst in all ihren Variationen als wichtigstes Herrschaftsinstrument in der mexikanischen Gesellschaft entlarvt. Obwohl die Kurzgeschichten vor 50 Jahren geschrieben wurden, wirken sie, als seien sie erst gestern entstanden. Und es ist schön, daß Rulfo nur 250 Seiten geschrieben hat, denn diese 250 Seiten muß man immer und immer wieder lesen.
BARBARA LIEPERT.
Juan Rulfo: Der Llano in Flammen. Suhrkamp Verlag, 145 Seiten, 11,80 Euro.
Alaska.
Die Welt begann in Eden und endete in Los Angeles. Dort lebte T. C. Boyle, als "World's End" erschien, sein dritter und schönster Roman. "World's End" liegt in Barrow, das ist ein Outpost an der Nordspitze Alaskas. "Hier, am hintersten, fernsten, abgefrorensten Ende der Welt", findet Walter van Brunt, Boyles gebeutelte Hauptfigur, seinen Vater. Der hatte sich vor zwanzig Jahren aus dem Staub gemacht, und in Schnee und Eis begegnen sich die beiden nun wieder, inmitten von Eskimos, die Walter feindselig anstarren, weswegen er sich fürchtet wie damals, als er zum ersten Mal in Harlem war. Vater und Sohn reden sich das Leben vom Leib, doch es führt zu nichts. Für den Roman ist Barrow der Fluchtpunkt, für Walter eine Sackgasse: Ein paar Seiten später ist das Buch aus und Walter tot. Diese schillernd fabulierte Familiengeschichte niederländischer Kolonisten wird von Boyle einfach im Eis Alaskas schockgefrostet. Zuvor hatte der Dichter uns 500 Seiten lang Einwanderer und Indianer, Bürgerrechtler und Erdfresser gezeigt, wie im Zirkus. Erst das fischige, arktische, finstere Barrow T. C. Boyles aber schlägt einem wirklich aufs Gemüt. Wer sich vor der Welt verstecken möchte - hier ist die Adresse.
TOBIAS RÜTHER.
T. C. Boyle: World's End. Roman. Deutscher Taschenbuch Verlag, 616 Seiten, 10 Euro.
Los Angeles.
Wer auf dem Flug nach Los Angeles oder San Francisco partout etwas über Wellenreiter, Muskelmänner und Neonbabies lesen will, muß ein anderes Buch einpacken. In Frank Norris' "Der Octopus" findet sich nichts von den gängigen Baywatch-Klischees. Und doch sagt der kolossale Roman, zuerst 1901, ein Jahr vor dem Tod des Autors, erschienen, mehr über Kalifornien als alle Fernsehserien. Es ist ein Epos, das etwas von der ungeheuren Weite des Landes am Pazifik ahnen läßt und von den rohen Kräften, die halfen, den Westen zu gewinnen. Der "Octopus" ist drastisch und dramatisch, manchmal plump, geschwätzig, philosophisch anspruchslos und doch ganz ohne Frage eine große amerikanische Erzählung. Sie handelt, inspiriert von einer wahren Begebenheit, vom aussichtslosen Widerstand einiger Farmer gegen die Übermacht der "Southern Pacific Railroad", deren Schienenstränge sich wie die Tentakeln eines Krakentieres über das Land ausbreiten. Es ist ein Ringen von zolascher Wucht, ein blutiger Kampf zwischen Freiheit und Ordnung, zwischen Pioniergeist und Zivilisation, ein Abgesang auf die "last frontier", die an der Pazifikküste endgültig erreicht wurde, eine wütende Abrechnung mit der brutalen Gewalt des Kapitalismus und ein Hohelied auf das moderne Kalifornien, das seit hundert Jahren Mythen und Technik verschmilzt.
HEINRICH WEFING.
Frank Norris: The Octopus. A Story of California. Penguin Verlag, 692 Seiten, 13,59 Euro.
Buenos Aires.
Alleinreisende soll man nicht aufhalten. Sie kommen ohnehin nirgendwo zur Ruhe, während sie versuchen, die eigene Unrast durch raschen Wechsel der Orte zu überspielen. Tatsächlich sähe ihr innerer Flugschreiber so aus: "Montag Ich. Dienstag Ich. Mittwoch Ich. Donnerstag Ich." So lauten die ersten Einträge im Tagebuch, das der polnische Schriftsteller Witold Gombrowicz 1953 im argentinischen Exil begann und bis zu seinem Tode 1967 weiterführte. Der deutsche Überfall auf Polen hatte ihn während einer Schiffsreise in Buenos Aires überrascht; er blieb fast 24 Jahre. Für den Dandy und Bürgerschreck adeliger Abstammung blieb Argentinien stets Inbegriff einer unverbildeten Jugendlichkeit, nach der er sich - nicht zuletzt in erotischer Hinsicht - sehnte und von der er doch durch das Panzerglas der Reflexion wesenhaft getrennt war. Es gebe keinen größeren Gegensatz als "den zwischen aufsteigender und absteigender Biographie, zwischen Entwicklung und Dekadenz", zwischen Menschen über und denen unter dreißig, heißt es einmal in diesem Jahrhundertwerk, das nicht nur Argentinien, sondern auch die geistigen Strömungen Europas aus einer inneren Distanz von ozeanischen Ausmaßen mustert. In der "Anderen Bibliothek" erschien im vergangenen Jahr eine Auswahl, die sich bestens als Reiselektüre für einsame Geister eignet. Wer in der Fremde einer fernen Schönheit begegnet, die packt "wie eine Hand, die würgt", der wird dankbar zu diesem Buch greifen, um wieder Luft zu bekommen.
RICHARD KÄMMERLINGS.
Witold Gombrowicz: Sakrilegien. Aus den Tagebüchern 1953 bis 1967. Eichborn Verlag, 359 Seiten, 27,50 Euro.
Washington.
In den Ferien begegnen wir uns, wie wir als Kinder waren, denn die Erinnerungen aus der Kindheit sind Erinnerungen an Schulferien, an Wasser, Hitze und die lange Langeweile vergangener Jahrzehnte. Die gleichzeitige Anwesenheit von schattiger Erinnerung und sonniger Gegenwart inszeniert Gore Vidal in seiner Autobiographie "Palimpsest" aus dem Jahre 1995: Ein Teil spielt in Ravello in Süditalien, wo Vidal heute lebt, der andere im verschlafenen, nach Lilien duftenden Washington seiner Kinder- und Teenagerjahre. Mit Jimmie Trimble, seiner großen Liebe, schwimmt er nackt im Potomac, dann schlafen sie miteinander und lassen sich auf einem großen Felsen von der Sonne trocknen. So klar ist dieser Moment Vidal bei der Niederschrift vor Augen, während Jimmie schon seit über fünfzig Jahren im Sarg liegt, er fiel 1944. Auch Staaten haben eine Biographie, und die Jugend Gore Vidals ist auch die Jugend der Vereinigten Staaten. Washington ist in "Palimpsest" noch eine mittlere Provinzstadt, in der manche Familien Politik betreiben wie andere anderswo einen Laden. Jack Kennedy schlurft durch die Straßen, versucht, sich interessant zu machen, und heiratet Gore Vidals Cousine Jackie. Die langen Nachmittage werden auf dem Rasen oder der Veranda mit Blick auf den Fluß verdämmert, und allen ist klar, daß Jack einmal Präsident werden wird. Aus diesen Kreisen und dieser Südstaatenstadt würde ein Imperium entstehen, aber das hat damals noch keinen wirklich beschäftigt. Es waren ja Ferien.
NILS MINKMAR.
Gore Vidal: Palimpsest. btb bei Goldmann, 638 Seiten, 12,50 Euro.
Usedom.
Wenn man rechts geht in Ahlbeck, immer weiter rechts, dann enden irgendwann die Hotels, und die Sanatorien beginnen, und dann enden auch die Sanatorien, und es gibt nur noch Kiefern. Hohe, schöne, grüne Kiefern. Nach den Kiefern beginnt Polen. Aber wenn man kurz vor Polen nach links abbiegt und zwanzig, dreißig Schritte läuft, dann kann man sich einfach fallen lassen in eine der Sandkuhlen, geschützt vorm Wind. Man kann am Boden liegen und mit der Hand eine noch unreife Frucht von der Heckenrose abknipsen und dann die kleinen klebrigen Körnchen zwischen den Fingern zerreiben. So liegt man da, denkt daran, daß es hier, in der Düne, genauso riecht wie früher auf Sylt, und nimmt das leuchtend blaue Suhrkamp-Taschenbuch und liest und liest und liest irgendwann: "Er denkt an Sylt. Es stört ihn, daß immer Erinnerungen da sind." Es gibt Glücksmomente mit Literatur, die einem selbst unwahrscheinlich vorkommen. Aber zum Glück liest man dann weiter, immer weiter, das Meer rauscht ein träges Ostseerauschen, oben Möwen auf Blau, und dann darf man lesen: "Es kommt ihm alles etwas unwahrscheinlich vor." So also schreibt Max Frisch in seinem wahrscheinlich wahrscheinlichsten Buch, in "Montauk", der Lebensliebenkrisenbeichte, die auch davon erzählt, daß das Leben diese winzigen Zeitfenster der Unwahrscheinlichkeit für uns bereithält, in die uns ansonsten nur die Literatur selbst abtauchen läßt. Dann: Auftauchen. Zurück ins Hotel. Zurück nach Berlin. In die Wohnung und in das Regal. Der Rücken des blauen Suhrkamp-Bandes jedoch ist bis heute gewellt vom Salzwasserwind, und zwischen den Seiten sind netterweise auch zwei, drei Sandkörner hängengeblieben. Es stört plötzlich gar nicht, daß Erinnerungen da sind. Es ist wahrscheinlich sogar sehr schön.
FLORIAN ILLIES.
Max Frisch: Montauk. Suhrkamp Verlag, 224 Seiten, 8 Euro.
Novi Sad.
Kennen Sie Novi Sad? Ich auch nicht. Aber eines Tages fahre ich hin. Sicherlich ist das kommerzielle Zentrum der Vojvodina (vor den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs ein Schmelztiegel serbischer, ungarischer, kroatischer, slowakischer, rumänischer und deutscher Kultur) nicht die schönste Stadt des ehemaligen Jugoslawien. Novi Sad liegt an der Donau, aber das ist wohl kaum genug. Und doch verfolgt mich diese Stadt, wenn ich an die beste Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts denke: Denn hier laufen, taumeln, träumen, versacken oder verzweifeln die Figuren des serbischen Schriftstellers Aleksandar Tisma, der vor ein paar Monaten starb, ohne je den Nobelpreis erhalten zu haben. Fünf Romane sind es, die Tisma seiner Heimat gewidmet hat. Alle handeln vom Zweiten Weltkrieg, von Zerstörung, Vertreibung, Vergeltung und dem grauen Neubeginn in den fünfziger Jahren. Allein "Das Buch Blam" reicht aus, um uns ein Gefühl für Novi Sad zu geben. Wie die spinnennetzartige Fischersiedlung entstand. Wohin sich Handwerker und Weinhändler ausbreiteten. Mit welchem Blick die Nazi-Okkupanten den Stadtplan studierten. Wie die große Razzia verlief. Und wie Wohnungen ohne Wände aussehen. Diese Stadt mit ihren schlecht verheilten Narben lebt schon allein dadurch, daß Aleksandar Tisma über sie geschrieben hat.
PAUL INGENDAAY.
Aleksandar Tisma: Das Buch Blam. Deutscher Taschenbuch Verlag, 261 Seiten, 8 Euro.
Venedig.
Von allen Autoren, die über Venedig geschrieben haben - und das sind die meisten -, hat vielleicht Henry James diese Stadt am kongenialsten beschrieben. In den "Aspern-Schriften" finden sich kaum atmosphärische Schilderungen, keine historischen Exkurse, keine Veduten von Kirchen oder Plätzen. Der Erzähler, ein angehender Literaturwissenschaftler, kommt unfreiwillig in die Stadt, in der sich die frühere Geliebte des berühmten, lange verstorbenen Dichtergenies Henry Aspern niedergelassen hat. Hier muß der Forscher - auf der Suche nach sensationellen Liebesbriefen und Papieren - antichambrieren, intrigieren und schließlich einfach abwarten. In den Hallen eines venezianischen Palazzos, im stillen Garten hinter einem Kanal, im Caffe Florian. Denn nichts geschieht. Die schönsten Monate seines Lebens ziehen vorbei, ohne daß unser Reisender dessen gewahr wird. Am Ende ist alles verloren: die Papiere, die Liebe, die Ambitionen. So ist Venedig; es könnte passieren, hier das eigene Leben zu verdämmern. Und man hat es nicht einmal gemerkt.
DIRK SCHÜMER.
Henry James: Die Aspern-Schriften. Tryptichon-Verlag, 207 Seiten, 19,80 Euro.
Schweiz.
Obwohl das Buch unmißverständlich warnt, man solle eines nicht tun, "nämlich das Unerklärliche erklären", muß es gleich am Anfang gesagt werden: Vladimir Nabokov gelingt es, wie zu erwarten war. Das Unerklärliche, das ist die Schweiz, und obwohl ich bei der ersten Lektüre von "Durchsichtige Dinge" die Schweiz nur aus der Perspektive einer adoleszenten Nachtschnellzugfahrt im Liegewagen kannte, war mir sofort klar: Dieses Land verlangt viele Besuche, weit mehr als die vier, die ihm der Held des Buches, Hugh Person, abstattet, um einen derart luziden Roman aus ihm zu destillieren. Man reise mit ihm ins Land und stelle fest: Wer den ersten Kanton betritt, befindet sich, wie der Held gleich zu Beginn des Romans, im Bann eines überdimensionalen Andenkenladens und ist "von der zufälligen Übereinstimmung von Symbolen gepeinigt". Die Schweiz dürstet danach, durchschaut zu werden oder, besser gesagt: ihr gelingt es, sich selbst ohne Widerrede dem Besucher als Rätsel aufzugeben, das gelöst werden will. Was bedeutet die Schweiz? Wer in der Lage ist, die durchsichtigen Dinge, wie das gleichnamige Buch, zu lesen, ist im Besitz einer Fähigkeit, die Nabokov im Buch, und das darf ohne Abzug des Literaturvergnügens verraten werden, nur den Toten zugesteht. Sie sehen in den geschnitzten Resten eines gespitzten Bleistifts in der Schublade eines Hotelzimmers in der Schweiz nicht nur die ganze Geschichte des Holzes, für sie schwingt darin selbst noch der Besuch eines russischen Großschriftstellers in ebendiesem Zimmer mit. Womit als erzählerische Pointe diskret verraten wird, daß es im Leben allein die Schriftsteller mit der Allwissenheit des Todes aufnehmen können. Nur eines bleibt auch ihnen vorbehalten wie dem Helden des Buches: das Vermögen, sich mit Hilfe der Erkenntnis die Frauen zu erschließen, besser gesagt, die Frau. Denn Armande Chamar, die Geliebte von Hugh Person, ist wie die Schweiz: kühl, hübsch, unwiderstehlich und dabei von einem perfiden Irrsinn getrieben, der es ihm nicht erlaubt, über sie hinwegzukommen, ein unbezwingbares Gebirgsmassiv, an dem er letztendlich nur scheitern kann. Na dann, gute Reise.
ECKHART NICKEL.
Vladimir Nabokov: Die durchsichtigen Dinge. Rowohlt Verlag, 546 Seiten, 28 Euro.
Ibiza.
Die Elfen-DJs des Café del Mar geben ihr Bestes. Sphärenmusik, weich und laut, mit Harfentönen und Umschmeichlungsposaunen. Die Sonne nähert sich dem Horizont. Liebespaare sitzen auf den Felsen am Meer und schenken sich Wein in die Gläser. Der Himmel wird gelb. Stolze Menschen des Glücks kreuzen mit ihren Motorbooten am Horizont, ankern, werfen ihr Haar in den Wind, küssen sich, der Himmel wird langsam rot. Es ist ein Traum, als glücklicher Mensch im Café del Mar zu sitzen, zu schauen, zu hören, zu küssen, zu sitzen, einfach nur zu sitzen, wieder zu küssen und "Eugenie Grandet" zu lesen. Die traurigste Liebesgeschichte der Welt. Vom Warten Eugenies, dem Traum von Indien, dem ersten Kuß, dem letzten Kuß, dem Brief des Verrats, das große, große Unglück ganz am Schluß, während die Sonne langsam untergeht und die Elfen ihre Harfen einpacken und die Gäste der verschwundenen Sonne leise applaudieren.
VOLKER WEIDERMANN.
Honoré de Balzac: Eugenie Grandet. Diogenes Verlag, 288 Seiten, 9,90 Euro.
Prignitz.
Manche Jugendbücher vermitteln wunderliche Kenntnisse: Wie man eine verschlossene Tür öffnet ("Kalle Blomquist lebt gefährlich"), was Dosenmilch und Pfirsichkonserven in jungen Mägen anrichten ("Hanni und Nanni", alle Bände) oder warum man Geldscheine grundsätzlich mit Stecknadeln befestigen sollte ("Emil und die Detektive"). Von der kleinen Dott kann man lernen, daß man niemals in der Johanninacht über feuchte Wiesen gehen darf, besonders, wenn darauf die Rennefarre wächst. Denn weil dem Mädchen diese Blüte in den Schuh fällt, ist sie seither verzaubert: Für Menschen ist die kleine Dott unsichtbar, dafür versteht sie die Sprache der Tiere. Auf der Suche nach Erlösung durchstreift sie ihre Heimat, die Prignitz, ganz im Nordwesten der Mark Brandenburg gelegen, ein vergessener Winkel Deutschlands. Durch diese Landschaft wanderte auch die Autorin Tamara Ramsay, 1895 bei Kiew geboren und nach der russischen Revolution nach Deutschland geflohen. Sie war Lehrerin, illustrierte Kinderbücher und veröffentlichte in den dreißiger Jahren den ersten Band der "Wunderbaren Fahrten und Abenteuer der kleinen Dott", dem in den Fünfzigern zwei weitere folgten. Die kleine Dott jedenfalls zieht kreuz und quer durch die Prignitz (später auch Berlin, Schlesien und Sachsen), sie erlebt visionsartig die Vergangenheit der besuchten Orte wie Lenzen oder Havelberg, und weil sie dabei immer eine ziemlich widerspenstige, witzige und eminent gutherzige Zwölfjährige bleibt, ist das Buch weit entfernt davon, zur heimatkundlichen Schullektüre zu gerinnen. Wer heute, zwei Generationen später, mit dem Buch in der Hand nach Wittenberge oder Perleberg, in die Lenzer Wische oder in die Plattenburg geht, wird nicht nur eine hinreißende Landschaft erleben - er wird auch irritiert feststellen, daß sich seit Ramsays Zeichnungen nicht allzuviel geändert hat. Und wird sich vielleicht, wenn auf der sommerheißen leeren Dorfstraße plötzlich ein kühler Luftzug aufkommt, manchmal fragen, ob das nicht mit dem Zauber der Rennefarre zusammenhängt.
TILMAN SPRECKELSEN.
Tamara Ramsays "Kleine Dott" ist vergriffen, aber online erhältlich unter www.zvab.de.
Kamerun.
Es erwartet den Europäer eine überwältigende Einsamkeit in Kamerun - und natürlich merkt er das nicht sofort, sondern denkt sich, ganz im Gegenteil, daß Yaounde, die Hauptstadt, ja eine erstaunlich fröhliche Stadt sei, voll von lauten und sehr gesprächigen Menschen, welche angeblich auch noch französisch sprechen, weshalb eine Verständigung durchaus möglich sein sollte. Das Dumme dabei ist aber, daß die Leute hier zwar französisch schreiben, so daß man einander beispielsweise kleine Zettel mit kurzen Mitteilungen zuschieben kann. Was sie hier aber sprechen, ist eine kehlige Sprache, die ganz interessant klingt - nur absolut unfranzösisch und also unverständlich. Besonders dumm steht man da, wenn man dann selber in seinem Schulfranzösisch ein paar Sätze sagt, "pas si vite!" vielleicht oder "excusez moi!". Das klingt in kamerunischen Ohren so, als spräche da ein Franzose, und dann reden sie noch schneller und noch lauter in ihrem unfranzösischen Französisch, und wenn man nicht antwortet, weil man kein Wort verstanden hat, gilt man als Schnösel, und wenn man jemanden doch versteht, dann ist es meistens eine Frau, die den Fremden fragt, ob er sie nicht heiraten und mit ins gelobte Europa nehmen wolle, wovon einer dann schon richtig traurig werden kann: also kehrt man erst mal ins Hotel zurück, ins Hilton, das mitten in Yaounde steht wie ein Raumschiff, das eben gelandet ist; hier sprechen alle englisch und manche sogar deutsch; hier könnte man sich verständigen, hat aber die Lust verloren, und man setzt sich an den Swimmingpool und nimmt Jack Miles' großartiges Buch "Gott - Eine Biographie" zur Hand, ein Werk, das man aus vielen Gründen loben möchte, das aber hier, in Kamerun, vor allem aus einem Grund so unwiderstehlich wirkt: Es beschreibt den jüdisch-christlichen Gott als das einsamste Wesen des ganzen Universums. Gott hat, am Anfang aller Zeiten, noch zu den Menschen gesprochen, aber weil die ihn nicht verstanden haben, ist er schließlich verstummt. Na gut, dankt sich da der Fremde: Im Vergleich dazu habe ich mich richtig gut unterhalten mit den Leuten hier.
CLAUDIUS SEIDL.
Jack Miles: Gott. Eine Biographie. Deutscher Taschenbuch Verlag, 498 Seiten, 13,50 Euro.
Botswana.
Wer in den Busch fährt, braucht nicht nur Zeckenimpfung und Malariaprophylaxe. Vor dem gerade auf Safaris virulenten khaki fever bewahrt Afrikareisende nur Ernest Hemingway, der diesem hormonellen Brodeln unter heißer Sonne mit der Erzählung "Das kurze glückliche Leben des Francis Macomber" ein beängstigend realistisches literarisches Denkmal gesetzt hat. Hemingway bremst, wo ein romantisch-rustikaler Hauch "Out of Africa" die Phantasie nur gefährlich beflügeln würde. Denn khaki fever nennen die Wildhüter jene Begeisterung, die Frauen aller Temperamente gelegentlich für Mannsbilder in sandfarbenen Shorts empfinden können, die, das Gewehr so lässig von der Schulter baumelnd wie bei besagten Damen daheim die Handtaschen, Foto- und Jagdsafaris begleiten. Genüßlich schildert Hemingway, wie sich die attraktive Frau des Hobbygroßwildjägers Francis Macomber aus Verachtung für ihren feige herumballernden Mann ostentativ dem professionellen Jäger zuwendet und am Schluß ihren Gatten - Absicht oder Jagdunfall? - zur Strecke bringt. Keiner der Männer kann sich der kühlen Raubkatzennatur dieser Frau entziehen: "Jetzt ist sie wieder da, von Kopf bis Fuß emailliert mit jener amerikanischen Weibergrausamkeit. Es sind die verfluchtesten Weiber der Welt. Wahrhaftig die allerverfluchtesten." Um die archaischen Gesetze Schwarzafrikas zu begreifen, sollte man also unbedingt Ernest Hemingway einpacken. Und daß sich die Erzählung in dem angenehm dünnen, aber gewichtigen Band "Schnee auf dem Kilimandscharo" befindet, dessen titelgebende Story mit Gregory Peck und Ava Gardner verfilmt wurde, wird die Versuchung des Abenteuers kaum dämpfen.
FELICITAS VON LOVENBERG.
Ernest Hemingway: Schnee auf dem Kilimandscharo. 6 Stories. rororo, 124 Seiten, 5 Euro.
Seychellen.
Mit dem Zug kann man nicht nach Mahé fahren. Es ist das Flugzeug, das täglich die Urlauber von weit her auf die Hauptinsel der Seychellen bringt. Sobald man das Flugzeug verläßt, knallt die Sonne nahezu vertikal vom Himmel herab, jeden Tag, das ganze Jahr hindurch. In dem Roman, den man als Urlaubslektüre dabeihat, ist es frostiger. Ein Zug nähert sich an einem feucht-nebligen Novembertag "mit vollem Dampfe" der Stadt Petersburg. Die Passagiere frösteln, ihre Gesichter sind gelblich, von der gleichen Farbe wie der Nebel. Unter ihnen befindet sich der psychisch kranke Fürst Myschkin, der Dostojewskis Roman den Titel gibt: "Der Idiot". Kann man den Idioten hier lesen? Kann man zwischen Sonnenanbetung und kreolischer Küche dabei zusehen, wie Myschkin schließlich an seiner Liebe zu zwei Frauen, der anmutigen Aglaja und der verrufenen, undurchsichtigen Nastasja Filippowna, zerbricht? Die Spannung zwischen der moralisch reinen Innenwelt des Idioten und heilloser Wirklichkeit wiederholt sich im Kontrast zwischen Romanwelt im unberechenbaren Rußland des 19. Jahrhunderts und der ruhigen Schönheit der Inseln im Indischen Ozean. Es heißt, wer Kultur auf den Seychellen suche, sei dort fehl am Platz. Wem das nicht angenehm ist, der sollte diesen dicken Schinken einpacken.
EDO REENTS.
Fjodor Dostojewski: Der Idiot. Aufbau Taschenbuch Verlag, 865 Seiten, 14 Euro.
Nachtflug.
Egal, wo ich hinfliege, nach Washington, nach Afrika oder über den nahen und ferneren Osten. Ich nehme für lange Nachtflüge stets ein dickes Buch (Dünndruck 1174 Seiten) mit. Immer dasselbe. Der Text läßt sich nur in kleinen Dosierungen verarbeiten. In zwölf Stunden komme ich gerade mal fünfzig oder hundert Seiten voran. Merkwürdigerweise war der Autor ein Popstar, seine Bücher waren im 19. Jahrhundert Bestseller. Vor allem von Frauen gelesen. "Titan" heißt der Titel. Und es gibt einen komischen Anhang auf den Seiten 830 bis 1010. Im zweiten Teil des Anhangs ab Seite 927 kann man eine köstliche Geschichte lesen. Das Logbuch eines Luftschiffers, der über die Rettiche hinwegfegt, die in der Erde stecken. Über Bösewichte und Amtstrottel, über Nationen, die gegeneinander kämpfen, und über Schlösser, in denen eigensinnige Fürsten herrschen, die ihre Untertanen nerven.
Der Text ist eine der ersten Weltanklagen in der Literatur, die aus einem Fluggerät heraus gesprochen werden. Und wenn man nachts Länder überfliegt, in denen man niemals am Boden sein möchte, dann lese ich in "Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch" von Jean Paul, in dem es heißt: "Entsetzlich! - Jetzt darf ich sie recht hassen, die Menschen, diese lächerlichen Kauze und Weisheitsvögel im Hellen, die sogleich zerrupfende Raunvögel werden, sobald sie ein wenig Finsternis gewinnen. Nur mit Schießpulver tun sie alles; nur damit reinigen sie die Kerkerluft der Länder."
MICHAEL WINTER.
Jean Paul: Sämtliche Werke. Sechs Bände. Carl Hanser Verlag, 48 Euro pro Band.
Indien.
Wer durch das anstrengende Indien reist, muß sich nicht noch literarisch beschweren. Am besten läßt er sich von Shashi Tharoor begleiten und seiner Liebesgeschichte "Aufruhr", die im vergangenen Jahr in deutscher Übersetzung bei Insel erschienen ist. Obwohl Tharoor seit vielen Jahren bei den Vereinten Nationen in New York verbeamtet ist (und von manchen sogar als Nachfolger Kofi Annans gehandelt wird), atmet sein Buch nicht die Spur von Bürokratengeist. Frisch und temperamentvoll protokolliert es den mysteriösen Tod einer jungen Amerikanerin, die in einem "Frauenprojekt" im Norden Indiens gearbeitet hat. Dabei nimmt Tharoor den Leser mit auf eine Entdeckungsreise ins Innere der indischen Gesellschaft.
Unterhalten von der tragischen Liebe zweier Seelenverwandter, die ihrer Herkunft wegen nicht zusammenkommen können, erfährt der Leser mehr über Land und Leute als aus den meisten Sachbüchern. Die für Westler unbegreiflichen Sozialstrukturen, die blutigen Religionskonflikte, das zwischen Resignation und Überheblichkeit schwankende Selbstverständnis der Inder - all das Verstörende dieses fremden Kontinents wird auf anregende Weise erhellt. Daß man das Buch am Ende nicht mit dem Gefühl zuklappt, große Literatur gelesen zu haben, verzeiht man dem Autor gerne.
JOCHEN BUCHSTEINER.
Shashi Tharoor: Aufruhr. Eine Liebesgeschichte. Suhrkamp Verlag, 331 Seiten, 24,90 Euro.
Tibet.
Die Kontinente lernte ich mit den Augen Hergés kennen. George Remi war im Grunde seines Herzens Reiseschriftsteller, ein Fernwehkranker, der seine Figuren bis auf den Mond trieb, zu den Inkas und auf den Grund aller Meere. "Männer Fahrten Abenteuer" also, wie eine Serie dicker Sammelbände hieß, voller Geschichten für Kinder, die nicht genug bekamen von Luftschiffen, Botanisiertrommeln und Nordpolexpeditionen. Nichts war je langweilig. So war die Welt, wie Tim sie sah, der Reporter, Ethnologe, Kriminalist und Weltretter. Altklug und frigide haben Spötter ihn genannt und vor allem den frühen Hergé wegen seines Kolonialherrengehabes verteufelt. Hergé hat sich nie vergeben, was er in Heften wie "Tim im Kongo" verbrach. Die späten, lebensklugen Geschichten sind eine einzige Abbitte, sie zeigen Tim und Struppi meist in Gesellschaft bedrohter Völker. Zum Beispiel "Tim in Tibet". Da eilt der Reporter seinem Freund Tschang zu Hilfe, der über dem Himalaya mit dem Flugzeug abstürzte und als tot gilt. Tim nimmt Haddock und Hund und spürt den Verschollenen auf - und einen Yeti, der Tschang gerettet hatte. "Wisse, edler Fremdling, daß hier in Tibet Dinge möglich sind, die die Menschen des Westens für unmöglich halten", spricht weise der Abt eines Buddhistenklosters, wo Tim und die anderen unterschlüpften. Und die Westler sperren den Mund auf und beginnen zu begreifen. Wer mit Tim und Struppi, Haddock und Bienlein die Länder der Erde bereist, ist nie Tourist, sondern immer ein Freund.
TOBIAS RÜTHER.
Hergé: Tim in Tibet. Carlsen Verlag, 64 Seiten, 9 Euro.
Kyoto.
Kyoto, die alte japanische Kaiserstadt, ist mit ihren vielen Tempeln und Palästen ein einziges Weltkulturerbe. Man kann sich vorstellen, wie es da aussieht, die Eigenlogik des Kulturtourismus macht sich alle Orte ähnlich. Auch in Yasunari Kawabatas Roman "Schönheit und Trauer" (ein furchtbar plakativer Titel für ein gänzlich unplakatives Buch) fährt der Held nach Kyoto, um das berühmte Neujahrsglockenläuten zu hören, ein Kulturtourist, wenn man so will, auch er. Aber zugleich reist er, von einer merkwürdig selbstzerstörerischen Kraft getrieben, um die Frau wiederzusehen, die er vor zwei Jahrzehnten verführte und danach hart am Rande des Wahnsinns zurückließ; inzwischen ist sie als Malerin berühmt geworden und lebt mit einer jungen Schülerin zusammen. Ein seltsames Spiel beginnt, dessen Ausgang, wie man bald ahnt, tödlich ist. Das stille Auge des Orkans indessen ist die Stadt, die Kawabata als Hintergrund des Geschehens ebenso unaufdringlich wie beharrlich präsent hält, ein somnambules Wesen, wo die Menschen wie schwerelos ihrem Verhängnis entgegentreiben. Wer weiß, ob Kyoto wirklich so ist, aber niemand, der hinreist, nachdem er diesen Roman gelesen hat, wird die Tempel und Paläste anders als in diesem unheimlichen Zwielicht sehen können.
MARK SIEMONS.
Yasunari Kawabata: Schönheit und Trauer. Deutscher Taschenbuch Verlag, 186 Seiten, 7,62 Euro.
Rußland.
Glücklich der Mann, der sich nicht einbildet, jede Möglichkeit stehe ihm offen. So lautet einer der ersten Sätze in Walker Percys Roman "Der Idiot des Südens". Glücklich der Leser, der weiß, welches Buch er wo lesen muß. Die Lektüre von Percys Debüt "Der Kinogeher" sollte tunlichst in einem Lichtspielhaus stattfinden, aber nicht während der Vorführung beim Licht der Taschenlampe, das stört die anderen Kinogeher, sondern in den Pausen zwischen den Aufführungen. Percys zweites Buch hingegen läßt sich scheinbar an vielen Orten lesen: Im New Yorker Central Park, wo es beginnt, in den Südstaaten, wo es weitergeht, in Florenz, wo Dostojewski im Januar 1869 die Arbeit am "Idioten" abschließt, oder in der Schweizer Heilanstalt, aus der Fürst Myschkin nach Rußland heimkehrt. Man muß eine Entscheidung treffen. Aber wie können wir das, wenn uns so viele Möglichkeiten offenstehen? Das ist das größte Problem von Walker Percys Helden. Er ist ein Gottesnarr im Reich der unbegrenzten Möglichkeiten, folglich glaubt er, jedweder sein und alles tun zu müssen. Dabei ist er unfähig zu handeln, bevor er alle Umstände und möglichen Folgen seiner Handlung kennt. Als Kind brachte er einen ganzen Tag damit zu, einen Nachbarn zu beobachten, der verrückt geworden war und nun im Hinterhof saß, mit Steinen spielte und seine unsichtbaren Feinde verfluchte. Der Junge glaubte, wenn er herausfände, was dem Mann fehlte, so erführe er das große Geheimnis des Lebens. Der Junge wird ein Betrachter und ein Lauscher und ein Wanderer. Zwischen Dostojewskis Fürsten und Percys "Techniker", wie der gründliche verstörte junge Held genannt wird, klaffen genau jene 99 Jahre, in denen Amerika wurde, was es heute ist. Natürlich könnte man den "Idioten" in St. Petersburg lesen und "The Last Gentleman", so Percys Originaltitel, in Lousiana. Aber glücklich werden wir nur, wenn wir uns nicht einbilden, diese Möglichkeit stünde uns offen.
HUBERT SPIEGEL.
Walker Percys "Idiot des Südens" ist vergriffen, aber online erhältlich unter www.zvab.de.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wo es im Urlaub am schönsten ist und welche Lektüre unbedingt mitmuß: Eine Weltreise mit 21 Büchern / Illustration: Tim Dinter
Auckland.
Mancher wird sagen, daß Lord Jim doch nie nach Auckland gekommen ist. Ich aber sage, man muß nur Joseph Conrad beim Wort nehmen: "In den entlegensten Winkeln der Welt erinnerte sich Marlow später oft und gerne an Jim." Und entlegener als Neuseeland ist aus deutscher Sicht nun einmal nichts auf dieser Welt. Je antipodischer die Umgebung bei der Lektüre von Conrads Büchern ist, desto besser. Also lese ich "Lord Jim" in Auckland, jener Stadt, deren Lebensfreude und Topographie dem Erzählideal von Marlow entspricht: "Nichts leichter, als zweihundert Fuß überm Meer von Master Jim zu erzählen - nach einer guten, ausgiebigen Mahlzeit und mit einer Kiste köstlicher Zigarren zu gefälliger Entnahme." Ergänzen wir noch einen ordentlichen Wein aus Hawke's Bay, und schon werden wir mit dem französischen Kapitänleutnant aus Marlows Bekanntschaft ausrufen: "Mon dieu! Wie die Zeit vergeht!" Conrad behauptet im Vorwort übrigens, Marlows mehr als 370 Seiten umfassende wörtliche Erzählung im Roman könne man in weniger als drei Stunden laut vorlesen. Das ist die größte Lüge der Weltliteratur. Gut, daß dem so ist.
ANDREAS PLATTHAUS.
Joseph Conrad: Lord Jim. Fischer Verlag, 462 Seiten, 22,50 Euro.
Brasilia.
Keine gute Idee, im Juli ans Meer zu fahren. Millionen von Menschen wollen im Juli ans Meer fahren, und weil es keine millionenkilometerlangen Strände gibt, schaut man im Juli am Meer nicht aufs Meer, sondern auf Unmengen schwitzender rotköpfiger Menschen, die aufs Meer zu schauen versuchen, und garantiert trifft man dort all die Leute, vor denen man eigentlich ans Meer geflohen war. Aber:.
Nichts ist im Sommer so schön wie Brasilia, die kühle, moderne Hauptstadt Brasiliens, der einzige zivilisierte Ort der Welt, an dem es überhaupt keine Touristen gibt. Dafür gibt es: leere Hotel-Pools, einsame Seen und eine weite rotstaubige Steppe, in der man stundenlang keinen Menschen trifft. Für alle, die genug von der verstopften, überfüllten, geschmacklosen Welt der Badeorte haben, gibt es keinen besseren Ort als ein Zimmer im obersten Stockwerk des Hotel Nacional in Brasilia - und es gibt keine bessere Lektüre als das grandiose Buch "Flucht vor Gästen" des leider schon verstorbenen deutschen Literaten Reinhard Lettau: Ein unfaßbar komisches, kluges, lakonisches Buch über Eindringlinge und Fluchten, Reiselust und Reiseangst. "Beim Anblick der Gäste", heißt es da, "wenn sie vor der Tür erscheinen, braucht man Überraschungen nicht zu fürchten, man lud sie ja ein, kannte sie also. Dennoch ist es immer wieder erstaunlich, zu beobachten, wie schlecht sie insgesamt aussehen. Solche Hemden streifen sich Religionsstifter über, Violonisten. Wer sich so kleidet, hat sich beurlaubt von den Kümmernissen der Welt." Von den Kümmernissen der Welt beurlaubt auch dieses Buch - und wer es nicht in Brasilia lesen will, kann zu Hause bleiben und das Spiel spielen, das Lettau gleich auf der ersten Seite seines großartigen Werkes vorschlägt; ein Spiel, bei dem es darum geht, auf einer Weltkarte die Länder mit weißer Farbe zu bedecken, "die man sich aus der Welt wegdenken kann, ohne daß Schaden entstünde: Afrika, Asien, alles südlich von Suhl, so daß schon bald nach Beginn meiner Überlegungen nur noch Thüringen übriggeblieben war." Auch dort gibt es übrigens Orte, die, wenn man sehr viel getrunken hat oder sehr kurzsichtig ist, aus der Entfernung ein bißchen wie Brasilia aussehen; aber das ist eine andere Geschichte.
NIKLAS MAAK.
Reinhard Lettau: Flucht vor Gästen. Carl Hanser Verlag, 94 Seiten, 13,90 Euro.
Mexiko.
Mexiko ist das aufregendste Land Amerikas. Alles ist maßlos: Der Verkehr, die Kultur, die Gewalt, die Schönheit, die Korruption, die Hitze, und selbst der Tod kennt hier keine Grenze - und alle diese Themen werden ausgiebig in Oktavio Paz' "Labyrinth der Einsamkeit" behandelt. Paz hat den Nobelpreis bekommen - aber wer Mexiko wirklich begreifen will, muß etwas anderes lesen: Die Geschichten von Juan Rulfo. "Nie mehr", schreibt Gabriel García Márquez, "seit der verrückten Nacht, als ich Kafkas Verwandlung in einer düsteren Studentenpension in Bogotá gelesen hatte, war ich so bewegt gewesen." Rulfo ergeht sich nicht wie andere lateinamerikanische Bestsellerautoren in endlosen Beschreibungen üppiger magischer Natur, im Gegenteil, er hat sich lange geweigert, seine Manuskripte an den Verlag herauszurücken, aus Angst, es könnte noch ein überflüssiges Wort darin sein. Rulfo (1918-1986) hat in seinem Leben nur zwei Bücher - insgesamt karge 250 Seiten -, ein Drehbuch und ein paar Liebesbriefe verfaßt - aber weder in "Pedro Paramo" (1955) noch in dem vielleicht noch lesenswerteren Kurzgeschichtenband "El Llano en Llamas" (1953) findet sich auch nur ein überflüssiges Wort. Rulfos Werk ist Mexiko durch ein Brennglas betrachtet, es verstört, und gleich danach verzaubert es. Rulfo gibt seinen Protagonisten, und seien es noch so verlorene Existenzen, das, was in Lateinamerika ein seltenes Gut ist: Würde. Wenn etwa in "Macario" (El Llano en Llamas) ein Junge am Froschteich von seinem Leben erzählt, erfährt man vielleicht erst beim zweiten Lesen, daß er behindert ist und unter seiner Patin, die ihn zum Fröschetotschlagen am See stillgestellt hat, leidet. In "Man hat uns Land gegeben" beschreibt Rulfo in wunderbar wortkargen Dialogen seine Heimat, einen trostlosen, unfruchtbaren Landstrich, und die bittere Wahrheit nach der Mexikanischen Revolution. In "Luvina" und auch in "Sag ihnen, sie sollen mich nicht töten!" wird Angst in all ihren Variationen als wichtigstes Herrschaftsinstrument in der mexikanischen Gesellschaft entlarvt. Obwohl die Kurzgeschichten vor 50 Jahren geschrieben wurden, wirken sie, als seien sie erst gestern entstanden. Und es ist schön, daß Rulfo nur 250 Seiten geschrieben hat, denn diese 250 Seiten muß man immer und immer wieder lesen.
BARBARA LIEPERT.
Juan Rulfo: Der Llano in Flammen. Suhrkamp Verlag, 145 Seiten, 11,80 Euro.
Alaska.
Die Welt begann in Eden und endete in Los Angeles. Dort lebte T. C. Boyle, als "World's End" erschien, sein dritter und schönster Roman. "World's End" liegt in Barrow, das ist ein Outpost an der Nordspitze Alaskas. "Hier, am hintersten, fernsten, abgefrorensten Ende der Welt", findet Walter van Brunt, Boyles gebeutelte Hauptfigur, seinen Vater. Der hatte sich vor zwanzig Jahren aus dem Staub gemacht, und in Schnee und Eis begegnen sich die beiden nun wieder, inmitten von Eskimos, die Walter feindselig anstarren, weswegen er sich fürchtet wie damals, als er zum ersten Mal in Harlem war. Vater und Sohn reden sich das Leben vom Leib, doch es führt zu nichts. Für den Roman ist Barrow der Fluchtpunkt, für Walter eine Sackgasse: Ein paar Seiten später ist das Buch aus und Walter tot. Diese schillernd fabulierte Familiengeschichte niederländischer Kolonisten wird von Boyle einfach im Eis Alaskas schockgefrostet. Zuvor hatte der Dichter uns 500 Seiten lang Einwanderer und Indianer, Bürgerrechtler und Erdfresser gezeigt, wie im Zirkus. Erst das fischige, arktische, finstere Barrow T. C. Boyles aber schlägt einem wirklich aufs Gemüt. Wer sich vor der Welt verstecken möchte - hier ist die Adresse.
TOBIAS RÜTHER.
T. C. Boyle: World's End. Roman. Deutscher Taschenbuch Verlag, 616 Seiten, 10 Euro.
Los Angeles.
Wer auf dem Flug nach Los Angeles oder San Francisco partout etwas über Wellenreiter, Muskelmänner und Neonbabies lesen will, muß ein anderes Buch einpacken. In Frank Norris' "Der Octopus" findet sich nichts von den gängigen Baywatch-Klischees. Und doch sagt der kolossale Roman, zuerst 1901, ein Jahr vor dem Tod des Autors, erschienen, mehr über Kalifornien als alle Fernsehserien. Es ist ein Epos, das etwas von der ungeheuren Weite des Landes am Pazifik ahnen läßt und von den rohen Kräften, die halfen, den Westen zu gewinnen. Der "Octopus" ist drastisch und dramatisch, manchmal plump, geschwätzig, philosophisch anspruchslos und doch ganz ohne Frage eine große amerikanische Erzählung. Sie handelt, inspiriert von einer wahren Begebenheit, vom aussichtslosen Widerstand einiger Farmer gegen die Übermacht der "Southern Pacific Railroad", deren Schienenstränge sich wie die Tentakeln eines Krakentieres über das Land ausbreiten. Es ist ein Ringen von zolascher Wucht, ein blutiger Kampf zwischen Freiheit und Ordnung, zwischen Pioniergeist und Zivilisation, ein Abgesang auf die "last frontier", die an der Pazifikküste endgültig erreicht wurde, eine wütende Abrechnung mit der brutalen Gewalt des Kapitalismus und ein Hohelied auf das moderne Kalifornien, das seit hundert Jahren Mythen und Technik verschmilzt.
HEINRICH WEFING.
Frank Norris: The Octopus. A Story of California. Penguin Verlag, 692 Seiten, 13,59 Euro.
Buenos Aires.
Alleinreisende soll man nicht aufhalten. Sie kommen ohnehin nirgendwo zur Ruhe, während sie versuchen, die eigene Unrast durch raschen Wechsel der Orte zu überspielen. Tatsächlich sähe ihr innerer Flugschreiber so aus: "Montag Ich. Dienstag Ich. Mittwoch Ich. Donnerstag Ich." So lauten die ersten Einträge im Tagebuch, das der polnische Schriftsteller Witold Gombrowicz 1953 im argentinischen Exil begann und bis zu seinem Tode 1967 weiterführte. Der deutsche Überfall auf Polen hatte ihn während einer Schiffsreise in Buenos Aires überrascht; er blieb fast 24 Jahre. Für den Dandy und Bürgerschreck adeliger Abstammung blieb Argentinien stets Inbegriff einer unverbildeten Jugendlichkeit, nach der er sich - nicht zuletzt in erotischer Hinsicht - sehnte und von der er doch durch das Panzerglas der Reflexion wesenhaft getrennt war. Es gebe keinen größeren Gegensatz als "den zwischen aufsteigender und absteigender Biographie, zwischen Entwicklung und Dekadenz", zwischen Menschen über und denen unter dreißig, heißt es einmal in diesem Jahrhundertwerk, das nicht nur Argentinien, sondern auch die geistigen Strömungen Europas aus einer inneren Distanz von ozeanischen Ausmaßen mustert. In der "Anderen Bibliothek" erschien im vergangenen Jahr eine Auswahl, die sich bestens als Reiselektüre für einsame Geister eignet. Wer in der Fremde einer fernen Schönheit begegnet, die packt "wie eine Hand, die würgt", der wird dankbar zu diesem Buch greifen, um wieder Luft zu bekommen.
RICHARD KÄMMERLINGS.
Witold Gombrowicz: Sakrilegien. Aus den Tagebüchern 1953 bis 1967. Eichborn Verlag, 359 Seiten, 27,50 Euro.
Washington.
In den Ferien begegnen wir uns, wie wir als Kinder waren, denn die Erinnerungen aus der Kindheit sind Erinnerungen an Schulferien, an Wasser, Hitze und die lange Langeweile vergangener Jahrzehnte. Die gleichzeitige Anwesenheit von schattiger Erinnerung und sonniger Gegenwart inszeniert Gore Vidal in seiner Autobiographie "Palimpsest" aus dem Jahre 1995: Ein Teil spielt in Ravello in Süditalien, wo Vidal heute lebt, der andere im verschlafenen, nach Lilien duftenden Washington seiner Kinder- und Teenagerjahre. Mit Jimmie Trimble, seiner großen Liebe, schwimmt er nackt im Potomac, dann schlafen sie miteinander und lassen sich auf einem großen Felsen von der Sonne trocknen. So klar ist dieser Moment Vidal bei der Niederschrift vor Augen, während Jimmie schon seit über fünfzig Jahren im Sarg liegt, er fiel 1944. Auch Staaten haben eine Biographie, und die Jugend Gore Vidals ist auch die Jugend der Vereinigten Staaten. Washington ist in "Palimpsest" noch eine mittlere Provinzstadt, in der manche Familien Politik betreiben wie andere anderswo einen Laden. Jack Kennedy schlurft durch die Straßen, versucht, sich interessant zu machen, und heiratet Gore Vidals Cousine Jackie. Die langen Nachmittage werden auf dem Rasen oder der Veranda mit Blick auf den Fluß verdämmert, und allen ist klar, daß Jack einmal Präsident werden wird. Aus diesen Kreisen und dieser Südstaatenstadt würde ein Imperium entstehen, aber das hat damals noch keinen wirklich beschäftigt. Es waren ja Ferien.
NILS MINKMAR.
Gore Vidal: Palimpsest. btb bei Goldmann, 638 Seiten, 12,50 Euro.
Usedom.
Wenn man rechts geht in Ahlbeck, immer weiter rechts, dann enden irgendwann die Hotels, und die Sanatorien beginnen, und dann enden auch die Sanatorien, und es gibt nur noch Kiefern. Hohe, schöne, grüne Kiefern. Nach den Kiefern beginnt Polen. Aber wenn man kurz vor Polen nach links abbiegt und zwanzig, dreißig Schritte läuft, dann kann man sich einfach fallen lassen in eine der Sandkuhlen, geschützt vorm Wind. Man kann am Boden liegen und mit der Hand eine noch unreife Frucht von der Heckenrose abknipsen und dann die kleinen klebrigen Körnchen zwischen den Fingern zerreiben. So liegt man da, denkt daran, daß es hier, in der Düne, genauso riecht wie früher auf Sylt, und nimmt das leuchtend blaue Suhrkamp-Taschenbuch und liest und liest und liest irgendwann: "Er denkt an Sylt. Es stört ihn, daß immer Erinnerungen da sind." Es gibt Glücksmomente mit Literatur, die einem selbst unwahrscheinlich vorkommen. Aber zum Glück liest man dann weiter, immer weiter, das Meer rauscht ein träges Ostseerauschen, oben Möwen auf Blau, und dann darf man lesen: "Es kommt ihm alles etwas unwahrscheinlich vor." So also schreibt Max Frisch in seinem wahrscheinlich wahrscheinlichsten Buch, in "Montauk", der Lebensliebenkrisenbeichte, die auch davon erzählt, daß das Leben diese winzigen Zeitfenster der Unwahrscheinlichkeit für uns bereithält, in die uns ansonsten nur die Literatur selbst abtauchen läßt. Dann: Auftauchen. Zurück ins Hotel. Zurück nach Berlin. In die Wohnung und in das Regal. Der Rücken des blauen Suhrkamp-Bandes jedoch ist bis heute gewellt vom Salzwasserwind, und zwischen den Seiten sind netterweise auch zwei, drei Sandkörner hängengeblieben. Es stört plötzlich gar nicht, daß Erinnerungen da sind. Es ist wahrscheinlich sogar sehr schön.
FLORIAN ILLIES.
Max Frisch: Montauk. Suhrkamp Verlag, 224 Seiten, 8 Euro.
Novi Sad.
Kennen Sie Novi Sad? Ich auch nicht. Aber eines Tages fahre ich hin. Sicherlich ist das kommerzielle Zentrum der Vojvodina (vor den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs ein Schmelztiegel serbischer, ungarischer, kroatischer, slowakischer, rumänischer und deutscher Kultur) nicht die schönste Stadt des ehemaligen Jugoslawien. Novi Sad liegt an der Donau, aber das ist wohl kaum genug. Und doch verfolgt mich diese Stadt, wenn ich an die beste Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts denke: Denn hier laufen, taumeln, träumen, versacken oder verzweifeln die Figuren des serbischen Schriftstellers Aleksandar Tisma, der vor ein paar Monaten starb, ohne je den Nobelpreis erhalten zu haben. Fünf Romane sind es, die Tisma seiner Heimat gewidmet hat. Alle handeln vom Zweiten Weltkrieg, von Zerstörung, Vertreibung, Vergeltung und dem grauen Neubeginn in den fünfziger Jahren. Allein "Das Buch Blam" reicht aus, um uns ein Gefühl für Novi Sad zu geben. Wie die spinnennetzartige Fischersiedlung entstand. Wohin sich Handwerker und Weinhändler ausbreiteten. Mit welchem Blick die Nazi-Okkupanten den Stadtplan studierten. Wie die große Razzia verlief. Und wie Wohnungen ohne Wände aussehen. Diese Stadt mit ihren schlecht verheilten Narben lebt schon allein dadurch, daß Aleksandar Tisma über sie geschrieben hat.
PAUL INGENDAAY.
Aleksandar Tisma: Das Buch Blam. Deutscher Taschenbuch Verlag, 261 Seiten, 8 Euro.
Venedig.
Von allen Autoren, die über Venedig geschrieben haben - und das sind die meisten -, hat vielleicht Henry James diese Stadt am kongenialsten beschrieben. In den "Aspern-Schriften" finden sich kaum atmosphärische Schilderungen, keine historischen Exkurse, keine Veduten von Kirchen oder Plätzen. Der Erzähler, ein angehender Literaturwissenschaftler, kommt unfreiwillig in die Stadt, in der sich die frühere Geliebte des berühmten, lange verstorbenen Dichtergenies Henry Aspern niedergelassen hat. Hier muß der Forscher - auf der Suche nach sensationellen Liebesbriefen und Papieren - antichambrieren, intrigieren und schließlich einfach abwarten. In den Hallen eines venezianischen Palazzos, im stillen Garten hinter einem Kanal, im Caffe Florian. Denn nichts geschieht. Die schönsten Monate seines Lebens ziehen vorbei, ohne daß unser Reisender dessen gewahr wird. Am Ende ist alles verloren: die Papiere, die Liebe, die Ambitionen. So ist Venedig; es könnte passieren, hier das eigene Leben zu verdämmern. Und man hat es nicht einmal gemerkt.
DIRK SCHÜMER.
Henry James: Die Aspern-Schriften. Tryptichon-Verlag, 207 Seiten, 19,80 Euro.
Schweiz.
Obwohl das Buch unmißverständlich warnt, man solle eines nicht tun, "nämlich das Unerklärliche erklären", muß es gleich am Anfang gesagt werden: Vladimir Nabokov gelingt es, wie zu erwarten war. Das Unerklärliche, das ist die Schweiz, und obwohl ich bei der ersten Lektüre von "Durchsichtige Dinge" die Schweiz nur aus der Perspektive einer adoleszenten Nachtschnellzugfahrt im Liegewagen kannte, war mir sofort klar: Dieses Land verlangt viele Besuche, weit mehr als die vier, die ihm der Held des Buches, Hugh Person, abstattet, um einen derart luziden Roman aus ihm zu destillieren. Man reise mit ihm ins Land und stelle fest: Wer den ersten Kanton betritt, befindet sich, wie der Held gleich zu Beginn des Romans, im Bann eines überdimensionalen Andenkenladens und ist "von der zufälligen Übereinstimmung von Symbolen gepeinigt". Die Schweiz dürstet danach, durchschaut zu werden oder, besser gesagt: ihr gelingt es, sich selbst ohne Widerrede dem Besucher als Rätsel aufzugeben, das gelöst werden will. Was bedeutet die Schweiz? Wer in der Lage ist, die durchsichtigen Dinge, wie das gleichnamige Buch, zu lesen, ist im Besitz einer Fähigkeit, die Nabokov im Buch, und das darf ohne Abzug des Literaturvergnügens verraten werden, nur den Toten zugesteht. Sie sehen in den geschnitzten Resten eines gespitzten Bleistifts in der Schublade eines Hotelzimmers in der Schweiz nicht nur die ganze Geschichte des Holzes, für sie schwingt darin selbst noch der Besuch eines russischen Großschriftstellers in ebendiesem Zimmer mit. Womit als erzählerische Pointe diskret verraten wird, daß es im Leben allein die Schriftsteller mit der Allwissenheit des Todes aufnehmen können. Nur eines bleibt auch ihnen vorbehalten wie dem Helden des Buches: das Vermögen, sich mit Hilfe der Erkenntnis die Frauen zu erschließen, besser gesagt, die Frau. Denn Armande Chamar, die Geliebte von Hugh Person, ist wie die Schweiz: kühl, hübsch, unwiderstehlich und dabei von einem perfiden Irrsinn getrieben, der es ihm nicht erlaubt, über sie hinwegzukommen, ein unbezwingbares Gebirgsmassiv, an dem er letztendlich nur scheitern kann. Na dann, gute Reise.
ECKHART NICKEL.
Vladimir Nabokov: Die durchsichtigen Dinge. Rowohlt Verlag, 546 Seiten, 28 Euro.
Ibiza.
Die Elfen-DJs des Café del Mar geben ihr Bestes. Sphärenmusik, weich und laut, mit Harfentönen und Umschmeichlungsposaunen. Die Sonne nähert sich dem Horizont. Liebespaare sitzen auf den Felsen am Meer und schenken sich Wein in die Gläser. Der Himmel wird gelb. Stolze Menschen des Glücks kreuzen mit ihren Motorbooten am Horizont, ankern, werfen ihr Haar in den Wind, küssen sich, der Himmel wird langsam rot. Es ist ein Traum, als glücklicher Mensch im Café del Mar zu sitzen, zu schauen, zu hören, zu küssen, zu sitzen, einfach nur zu sitzen, wieder zu küssen und "Eugenie Grandet" zu lesen. Die traurigste Liebesgeschichte der Welt. Vom Warten Eugenies, dem Traum von Indien, dem ersten Kuß, dem letzten Kuß, dem Brief des Verrats, das große, große Unglück ganz am Schluß, während die Sonne langsam untergeht und die Elfen ihre Harfen einpacken und die Gäste der verschwundenen Sonne leise applaudieren.
VOLKER WEIDERMANN.
Honoré de Balzac: Eugenie Grandet. Diogenes Verlag, 288 Seiten, 9,90 Euro.
Prignitz.
Manche Jugendbücher vermitteln wunderliche Kenntnisse: Wie man eine verschlossene Tür öffnet ("Kalle Blomquist lebt gefährlich"), was Dosenmilch und Pfirsichkonserven in jungen Mägen anrichten ("Hanni und Nanni", alle Bände) oder warum man Geldscheine grundsätzlich mit Stecknadeln befestigen sollte ("Emil und die Detektive"). Von der kleinen Dott kann man lernen, daß man niemals in der Johanninacht über feuchte Wiesen gehen darf, besonders, wenn darauf die Rennefarre wächst. Denn weil dem Mädchen diese Blüte in den Schuh fällt, ist sie seither verzaubert: Für Menschen ist die kleine Dott unsichtbar, dafür versteht sie die Sprache der Tiere. Auf der Suche nach Erlösung durchstreift sie ihre Heimat, die Prignitz, ganz im Nordwesten der Mark Brandenburg gelegen, ein vergessener Winkel Deutschlands. Durch diese Landschaft wanderte auch die Autorin Tamara Ramsay, 1895 bei Kiew geboren und nach der russischen Revolution nach Deutschland geflohen. Sie war Lehrerin, illustrierte Kinderbücher und veröffentlichte in den dreißiger Jahren den ersten Band der "Wunderbaren Fahrten und Abenteuer der kleinen Dott", dem in den Fünfzigern zwei weitere folgten. Die kleine Dott jedenfalls zieht kreuz und quer durch die Prignitz (später auch Berlin, Schlesien und Sachsen), sie erlebt visionsartig die Vergangenheit der besuchten Orte wie Lenzen oder Havelberg, und weil sie dabei immer eine ziemlich widerspenstige, witzige und eminent gutherzige Zwölfjährige bleibt, ist das Buch weit entfernt davon, zur heimatkundlichen Schullektüre zu gerinnen. Wer heute, zwei Generationen später, mit dem Buch in der Hand nach Wittenberge oder Perleberg, in die Lenzer Wische oder in die Plattenburg geht, wird nicht nur eine hinreißende Landschaft erleben - er wird auch irritiert feststellen, daß sich seit Ramsays Zeichnungen nicht allzuviel geändert hat. Und wird sich vielleicht, wenn auf der sommerheißen leeren Dorfstraße plötzlich ein kühler Luftzug aufkommt, manchmal fragen, ob das nicht mit dem Zauber der Rennefarre zusammenhängt.
TILMAN SPRECKELSEN.
Tamara Ramsays "Kleine Dott" ist vergriffen, aber online erhältlich unter www.zvab.de.
Kamerun.
Es erwartet den Europäer eine überwältigende Einsamkeit in Kamerun - und natürlich merkt er das nicht sofort, sondern denkt sich, ganz im Gegenteil, daß Yaounde, die Hauptstadt, ja eine erstaunlich fröhliche Stadt sei, voll von lauten und sehr gesprächigen Menschen, welche angeblich auch noch französisch sprechen, weshalb eine Verständigung durchaus möglich sein sollte. Das Dumme dabei ist aber, daß die Leute hier zwar französisch schreiben, so daß man einander beispielsweise kleine Zettel mit kurzen Mitteilungen zuschieben kann. Was sie hier aber sprechen, ist eine kehlige Sprache, die ganz interessant klingt - nur absolut unfranzösisch und also unverständlich. Besonders dumm steht man da, wenn man dann selber in seinem Schulfranzösisch ein paar Sätze sagt, "pas si vite!" vielleicht oder "excusez moi!". Das klingt in kamerunischen Ohren so, als spräche da ein Franzose, und dann reden sie noch schneller und noch lauter in ihrem unfranzösischen Französisch, und wenn man nicht antwortet, weil man kein Wort verstanden hat, gilt man als Schnösel, und wenn man jemanden doch versteht, dann ist es meistens eine Frau, die den Fremden fragt, ob er sie nicht heiraten und mit ins gelobte Europa nehmen wolle, wovon einer dann schon richtig traurig werden kann: also kehrt man erst mal ins Hotel zurück, ins Hilton, das mitten in Yaounde steht wie ein Raumschiff, das eben gelandet ist; hier sprechen alle englisch und manche sogar deutsch; hier könnte man sich verständigen, hat aber die Lust verloren, und man setzt sich an den Swimmingpool und nimmt Jack Miles' großartiges Buch "Gott - Eine Biographie" zur Hand, ein Werk, das man aus vielen Gründen loben möchte, das aber hier, in Kamerun, vor allem aus einem Grund so unwiderstehlich wirkt: Es beschreibt den jüdisch-christlichen Gott als das einsamste Wesen des ganzen Universums. Gott hat, am Anfang aller Zeiten, noch zu den Menschen gesprochen, aber weil die ihn nicht verstanden haben, ist er schließlich verstummt. Na gut, dankt sich da der Fremde: Im Vergleich dazu habe ich mich richtig gut unterhalten mit den Leuten hier.
CLAUDIUS SEIDL.
Jack Miles: Gott. Eine Biographie. Deutscher Taschenbuch Verlag, 498 Seiten, 13,50 Euro.
Botswana.
Wer in den Busch fährt, braucht nicht nur Zeckenimpfung und Malariaprophylaxe. Vor dem gerade auf Safaris virulenten khaki fever bewahrt Afrikareisende nur Ernest Hemingway, der diesem hormonellen Brodeln unter heißer Sonne mit der Erzählung "Das kurze glückliche Leben des Francis Macomber" ein beängstigend realistisches literarisches Denkmal gesetzt hat. Hemingway bremst, wo ein romantisch-rustikaler Hauch "Out of Africa" die Phantasie nur gefährlich beflügeln würde. Denn khaki fever nennen die Wildhüter jene Begeisterung, die Frauen aller Temperamente gelegentlich für Mannsbilder in sandfarbenen Shorts empfinden können, die, das Gewehr so lässig von der Schulter baumelnd wie bei besagten Damen daheim die Handtaschen, Foto- und Jagdsafaris begleiten. Genüßlich schildert Hemingway, wie sich die attraktive Frau des Hobbygroßwildjägers Francis Macomber aus Verachtung für ihren feige herumballernden Mann ostentativ dem professionellen Jäger zuwendet und am Schluß ihren Gatten - Absicht oder Jagdunfall? - zur Strecke bringt. Keiner der Männer kann sich der kühlen Raubkatzennatur dieser Frau entziehen: "Jetzt ist sie wieder da, von Kopf bis Fuß emailliert mit jener amerikanischen Weibergrausamkeit. Es sind die verfluchtesten Weiber der Welt. Wahrhaftig die allerverfluchtesten." Um die archaischen Gesetze Schwarzafrikas zu begreifen, sollte man also unbedingt Ernest Hemingway einpacken. Und daß sich die Erzählung in dem angenehm dünnen, aber gewichtigen Band "Schnee auf dem Kilimandscharo" befindet, dessen titelgebende Story mit Gregory Peck und Ava Gardner verfilmt wurde, wird die Versuchung des Abenteuers kaum dämpfen.
FELICITAS VON LOVENBERG.
Ernest Hemingway: Schnee auf dem Kilimandscharo. 6 Stories. rororo, 124 Seiten, 5 Euro.
Seychellen.
Mit dem Zug kann man nicht nach Mahé fahren. Es ist das Flugzeug, das täglich die Urlauber von weit her auf die Hauptinsel der Seychellen bringt. Sobald man das Flugzeug verläßt, knallt die Sonne nahezu vertikal vom Himmel herab, jeden Tag, das ganze Jahr hindurch. In dem Roman, den man als Urlaubslektüre dabeihat, ist es frostiger. Ein Zug nähert sich an einem feucht-nebligen Novembertag "mit vollem Dampfe" der Stadt Petersburg. Die Passagiere frösteln, ihre Gesichter sind gelblich, von der gleichen Farbe wie der Nebel. Unter ihnen befindet sich der psychisch kranke Fürst Myschkin, der Dostojewskis Roman den Titel gibt: "Der Idiot". Kann man den Idioten hier lesen? Kann man zwischen Sonnenanbetung und kreolischer Küche dabei zusehen, wie Myschkin schließlich an seiner Liebe zu zwei Frauen, der anmutigen Aglaja und der verrufenen, undurchsichtigen Nastasja Filippowna, zerbricht? Die Spannung zwischen der moralisch reinen Innenwelt des Idioten und heilloser Wirklichkeit wiederholt sich im Kontrast zwischen Romanwelt im unberechenbaren Rußland des 19. Jahrhunderts und der ruhigen Schönheit der Inseln im Indischen Ozean. Es heißt, wer Kultur auf den Seychellen suche, sei dort fehl am Platz. Wem das nicht angenehm ist, der sollte diesen dicken Schinken einpacken.
EDO REENTS.
Fjodor Dostojewski: Der Idiot. Aufbau Taschenbuch Verlag, 865 Seiten, 14 Euro.
Nachtflug.
Egal, wo ich hinfliege, nach Washington, nach Afrika oder über den nahen und ferneren Osten. Ich nehme für lange Nachtflüge stets ein dickes Buch (Dünndruck 1174 Seiten) mit. Immer dasselbe. Der Text läßt sich nur in kleinen Dosierungen verarbeiten. In zwölf Stunden komme ich gerade mal fünfzig oder hundert Seiten voran. Merkwürdigerweise war der Autor ein Popstar, seine Bücher waren im 19. Jahrhundert Bestseller. Vor allem von Frauen gelesen. "Titan" heißt der Titel. Und es gibt einen komischen Anhang auf den Seiten 830 bis 1010. Im zweiten Teil des Anhangs ab Seite 927 kann man eine köstliche Geschichte lesen. Das Logbuch eines Luftschiffers, der über die Rettiche hinwegfegt, die in der Erde stecken. Über Bösewichte und Amtstrottel, über Nationen, die gegeneinander kämpfen, und über Schlösser, in denen eigensinnige Fürsten herrschen, die ihre Untertanen nerven.
Der Text ist eine der ersten Weltanklagen in der Literatur, die aus einem Fluggerät heraus gesprochen werden. Und wenn man nachts Länder überfliegt, in denen man niemals am Boden sein möchte, dann lese ich in "Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch" von Jean Paul, in dem es heißt: "Entsetzlich! - Jetzt darf ich sie recht hassen, die Menschen, diese lächerlichen Kauze und Weisheitsvögel im Hellen, die sogleich zerrupfende Raunvögel werden, sobald sie ein wenig Finsternis gewinnen. Nur mit Schießpulver tun sie alles; nur damit reinigen sie die Kerkerluft der Länder."
MICHAEL WINTER.
Jean Paul: Sämtliche Werke. Sechs Bände. Carl Hanser Verlag, 48 Euro pro Band.
Indien.
Wer durch das anstrengende Indien reist, muß sich nicht noch literarisch beschweren. Am besten läßt er sich von Shashi Tharoor begleiten und seiner Liebesgeschichte "Aufruhr", die im vergangenen Jahr in deutscher Übersetzung bei Insel erschienen ist. Obwohl Tharoor seit vielen Jahren bei den Vereinten Nationen in New York verbeamtet ist (und von manchen sogar als Nachfolger Kofi Annans gehandelt wird), atmet sein Buch nicht die Spur von Bürokratengeist. Frisch und temperamentvoll protokolliert es den mysteriösen Tod einer jungen Amerikanerin, die in einem "Frauenprojekt" im Norden Indiens gearbeitet hat. Dabei nimmt Tharoor den Leser mit auf eine Entdeckungsreise ins Innere der indischen Gesellschaft.
Unterhalten von der tragischen Liebe zweier Seelenverwandter, die ihrer Herkunft wegen nicht zusammenkommen können, erfährt der Leser mehr über Land und Leute als aus den meisten Sachbüchern. Die für Westler unbegreiflichen Sozialstrukturen, die blutigen Religionskonflikte, das zwischen Resignation und Überheblichkeit schwankende Selbstverständnis der Inder - all das Verstörende dieses fremden Kontinents wird auf anregende Weise erhellt. Daß man das Buch am Ende nicht mit dem Gefühl zuklappt, große Literatur gelesen zu haben, verzeiht man dem Autor gerne.
JOCHEN BUCHSTEINER.
Shashi Tharoor: Aufruhr. Eine Liebesgeschichte. Suhrkamp Verlag, 331 Seiten, 24,90 Euro.
Tibet.
Die Kontinente lernte ich mit den Augen Hergés kennen. George Remi war im Grunde seines Herzens Reiseschriftsteller, ein Fernwehkranker, der seine Figuren bis auf den Mond trieb, zu den Inkas und auf den Grund aller Meere. "Männer Fahrten Abenteuer" also, wie eine Serie dicker Sammelbände hieß, voller Geschichten für Kinder, die nicht genug bekamen von Luftschiffen, Botanisiertrommeln und Nordpolexpeditionen. Nichts war je langweilig. So war die Welt, wie Tim sie sah, der Reporter, Ethnologe, Kriminalist und Weltretter. Altklug und frigide haben Spötter ihn genannt und vor allem den frühen Hergé wegen seines Kolonialherrengehabes verteufelt. Hergé hat sich nie vergeben, was er in Heften wie "Tim im Kongo" verbrach. Die späten, lebensklugen Geschichten sind eine einzige Abbitte, sie zeigen Tim und Struppi meist in Gesellschaft bedrohter Völker. Zum Beispiel "Tim in Tibet". Da eilt der Reporter seinem Freund Tschang zu Hilfe, der über dem Himalaya mit dem Flugzeug abstürzte und als tot gilt. Tim nimmt Haddock und Hund und spürt den Verschollenen auf - und einen Yeti, der Tschang gerettet hatte. "Wisse, edler Fremdling, daß hier in Tibet Dinge möglich sind, die die Menschen des Westens für unmöglich halten", spricht weise der Abt eines Buddhistenklosters, wo Tim und die anderen unterschlüpften. Und die Westler sperren den Mund auf und beginnen zu begreifen. Wer mit Tim und Struppi, Haddock und Bienlein die Länder der Erde bereist, ist nie Tourist, sondern immer ein Freund.
TOBIAS RÜTHER.
Hergé: Tim in Tibet. Carlsen Verlag, 64 Seiten, 9 Euro.
Kyoto.
Kyoto, die alte japanische Kaiserstadt, ist mit ihren vielen Tempeln und Palästen ein einziges Weltkulturerbe. Man kann sich vorstellen, wie es da aussieht, die Eigenlogik des Kulturtourismus macht sich alle Orte ähnlich. Auch in Yasunari Kawabatas Roman "Schönheit und Trauer" (ein furchtbar plakativer Titel für ein gänzlich unplakatives Buch) fährt der Held nach Kyoto, um das berühmte Neujahrsglockenläuten zu hören, ein Kulturtourist, wenn man so will, auch er. Aber zugleich reist er, von einer merkwürdig selbstzerstörerischen Kraft getrieben, um die Frau wiederzusehen, die er vor zwei Jahrzehnten verführte und danach hart am Rande des Wahnsinns zurückließ; inzwischen ist sie als Malerin berühmt geworden und lebt mit einer jungen Schülerin zusammen. Ein seltsames Spiel beginnt, dessen Ausgang, wie man bald ahnt, tödlich ist. Das stille Auge des Orkans indessen ist die Stadt, die Kawabata als Hintergrund des Geschehens ebenso unaufdringlich wie beharrlich präsent hält, ein somnambules Wesen, wo die Menschen wie schwerelos ihrem Verhängnis entgegentreiben. Wer weiß, ob Kyoto wirklich so ist, aber niemand, der hinreist, nachdem er diesen Roman gelesen hat, wird die Tempel und Paläste anders als in diesem unheimlichen Zwielicht sehen können.
MARK SIEMONS.
Yasunari Kawabata: Schönheit und Trauer. Deutscher Taschenbuch Verlag, 186 Seiten, 7,62 Euro.
Rußland.
Glücklich der Mann, der sich nicht einbildet, jede Möglichkeit stehe ihm offen. So lautet einer der ersten Sätze in Walker Percys Roman "Der Idiot des Südens". Glücklich der Leser, der weiß, welches Buch er wo lesen muß. Die Lektüre von Percys Debüt "Der Kinogeher" sollte tunlichst in einem Lichtspielhaus stattfinden, aber nicht während der Vorführung beim Licht der Taschenlampe, das stört die anderen Kinogeher, sondern in den Pausen zwischen den Aufführungen. Percys zweites Buch hingegen läßt sich scheinbar an vielen Orten lesen: Im New Yorker Central Park, wo es beginnt, in den Südstaaten, wo es weitergeht, in Florenz, wo Dostojewski im Januar 1869 die Arbeit am "Idioten" abschließt, oder in der Schweizer Heilanstalt, aus der Fürst Myschkin nach Rußland heimkehrt. Man muß eine Entscheidung treffen. Aber wie können wir das, wenn uns so viele Möglichkeiten offenstehen? Das ist das größte Problem von Walker Percys Helden. Er ist ein Gottesnarr im Reich der unbegrenzten Möglichkeiten, folglich glaubt er, jedweder sein und alles tun zu müssen. Dabei ist er unfähig zu handeln, bevor er alle Umstände und möglichen Folgen seiner Handlung kennt. Als Kind brachte er einen ganzen Tag damit zu, einen Nachbarn zu beobachten, der verrückt geworden war und nun im Hinterhof saß, mit Steinen spielte und seine unsichtbaren Feinde verfluchte. Der Junge glaubte, wenn er herausfände, was dem Mann fehlte, so erführe er das große Geheimnis des Lebens. Der Junge wird ein Betrachter und ein Lauscher und ein Wanderer. Zwischen Dostojewskis Fürsten und Percys "Techniker", wie der gründliche verstörte junge Held genannt wird, klaffen genau jene 99 Jahre, in denen Amerika wurde, was es heute ist. Natürlich könnte man den "Idioten" in St. Petersburg lesen und "The Last Gentleman", so Percys Originaltitel, in Lousiana. Aber glücklich werden wir nur, wenn wir uns nicht einbilden, diese Möglichkeit stünde uns offen.
HUBERT SPIEGEL.
Walker Percys "Idiot des Südens" ist vergriffen, aber online erhältlich unter www.zvab.de.
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»Ein egoistisches Buch? Gewiss. Aber auch eines, das den Mut aufbringt, grenzenlos persönlich zu werden. … Diesmal ist das Schreiben der Versuch, das Glück ewig zu erleben, das Glück der letzten, rauschhaften Liebe.«
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
So muss sie sich anhören, eine Hörbuchproduktion. Keinen Zweifel lässt Wolfgang Schneider: Der performative Zugewinn gegenüber dem Buch "Montauk" von Max Frisch ist hier beträchtlich. Dabei hat das "Erzählkunststück" schon viel zu bieten, wie Schneider uns erinnert: Die ganze Nachdenklichkeit und Zeitentiefe eines Spätwerks steckt darin, meint er, wenn Frisch das Alter, die Schriftstellerei und die Liebe (etwa zu Ingeborg Bachmann) reflektiert. Dass der sehr persönliche Text jetzt eine Stimme bekommt, erscheint Schneider folgerichtig, dass diese Stimme Felix von Manteuffel gehört, hält er für einen Glücksfall erster Klasse. Schneider kann Manteuffels Nase fürs Introspektive und sein "feines Spektrum an Ausdrucksmitteln" gar nicht genug loben. Wer wollte schon die Altersmilde plaudern hören?! Viel lieber ist Schneider der konzentrierte, strenge Ton, der Frischs Schonungslosigkeit mit sich selbst, aber auch seiner Ironie und den aphoristischen Qualitäten des Textes, wie er findet, entspricht. Um diesem Sprachkunstwerk zwischendrin nachzuhorchen, hätte Schneider es ganz schön gefunden - das Sahnehäubchen -, wären die Pausen zwischen den Erzählsegmenten deutlicher ausgefallen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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