Produktdetails
  • Verlag: SEIX BARRAL
  • Seitenzahl: 300
  • Erscheinungstermin: September 2022
  • Spanisch
  • Abmessung: 225mm x 137mm x 25mm
  • Gewicht: 413g
  • ISBN-13: 9788432241086
  • ISBN-10: 8432241083
  • Artikelnr.: 64999284
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.07.2024

Das lachende Idol im Nachbarzimmer
Der katalanische Schriftsteller Enrique Vila-Matas lässt in seinem neuen Roman "Montevideo" viele Türen für einen namenlosen Erzähler aufgehen

Der Katalane Enrique Vila-Matas (1948 in Barcelona geboren, wo er auch heute lebt) gehört zu den renommiertesten spanischen Autoren, ausgezeichnet mit allen wichtigen Literaturpreisen seines Landes. Inzwischen ist sein umfangreiches Werk in 32 Sprachen übersetzt. Während er in Frankreich hochgeehrt ist, gilt es ihn in Deutschland noch zu entdecken. Hier schreibt einer wie besessen in und mit der Literatur, ist stupend belesen und spielt graziös und frech mit Zitaten aus dem Kosmos der Weltliteratur. Vila-Matas gesteht, er sei umgeben von Buchzitaten und Autoren, "ich leide an der Literaturkrankheit". Wenn er an seinen Büchern sitze, "ist das für mich die Ausübung von Freiheit, alle Genres stelle ich mir zur Verfügung, alle Waffen, die ich habe, um zu schreiben". Nicht zufällig sind Vila-Matas' wichtigste Quellen "Ulysses", "Tristram Shandy", "Don Quijote" und "Moby-Dick".

In seinem jüngsten Roman führt ihn Julio Cortázar durch das fiktive Labyrinth literarischer Räume und Verschachtelungen. Zwar heißt der Roman "Montevideo", aber erst nach der Hälfte des Buches gelangt der namenlose Ich-Erzähler dorthin. Zunächst reist der Schriftsteller, der unter erheblichen Schreibblockaden leidet, im Jahr 1974 nach Paris, wo Vila-Matas von 1974 bis 1976 gelebt hat, "in der anachronistischen Absicht, ein Schriftsteller der 20er Jahre zu werden, Typ 'verlorene Generation'". Er möchte "ein Löwenjäger à la Hemingway" werden. Das klappt natürlich nicht, und die Hemmungen, überhaupt etwas zu erzählen, setzen vehement ein und verführen den Gescheiterten zu den irrwitzigsten Überlegungen über das Wesen und Unwesen des Schreibens. Um nicht belästigt zu werden von neugierigen Nachfragen zu seinem Schaffen, leiht er sich einen Satz von Marcel Duchamp aus: "Je n'ai plus d'idées" - ich habe keine Ideen mehr. Ob dies ein echtes Zitat ist, da kann man sich bei Vila-Matas nie sicher sein.

Nach seinem eigenen Bekenntnis interessiert ihn am meisten "die Wahrheit einer Lüge". Nicht erlogen ist das immer wieder gern wiederholte Zitat des Schreibers Bartleby von Herman Melville: "I would prefer not to . . ." - ich würde vorziehen, das nicht zu tun. Vila-Matas liebt die Sonderlinge und kauzigen literarischen Typen, sie regen seine Phantasie an, versteht er sich doch selbst als "Phantast unter Phantasten".

Zweite Station des Reisetagebuchs, das kein Reisetagebuch ist, ist der portugiesische Küstenort Cascais, wohin der Autor zu einem Filmfestival eingeladen ist. Vila-Matas war früher Redakteur der Filmzeitschrift "Fotogramas", und Filme, Regisseure, Schauspieler geistern oft durch seine Texte. Nun trifft die Ich-Figur auf den Schauspieler Jean-Pierre Léaud, eine Ikone aus ihrer Jugendzeit. Sie wagt ihn aus Scham nicht anzusprechen, aber Léaud, der im Nebenzimmer schläft, peinigt sie nachts durch ununterbrochene heftigste Lachanfälle. Der Erzähler weiß sich nicht anders zu helfen, als an Kafka zu denken.

Nach hundert Seiten gelangt der namenlose Schriftsteller endlich nach Montevideo, der Hauptstadt Uruguays, einer Kapitale von Kunst und Kultur in Südamerika. In einem dortigen Hotel spielt die Erzählung "Die verstellte Tür" von Cortázar. Der Protagonist findet das Hotel im Zentrum, früher hieß es Hotel Cervantes, es geht um das Zimmer 205 im zweiten Stock, ein düsteres Verlies mit einem Schrank, hinter dem sich eine Tür ins Nebenzimmer befindet. "Mir wurde immer klarer, dass die Atmosphäre im Hotel zum Gruseln war, und jede Nachforschung, die Licht ins Dunkel bringen wollte, würde sich als eine Art verstellte Tür erweisen und sich tendenziell in einen falschen Schritt meinerseits verkehren."

Nun beginnt ein heilloses Verwirrspiel. Der Erzähler rückt den Schrank von der Wand, die Tür dahinter ist leicht geöffnet. Zimmer 206 ist dunkel und leer, dort steht nur ein roter Koffer, angeblich von Marlene Dietrich. Wie von magischen Kräften gezogen, begibt sich der Erzähler in ein Abenteuer ohne Ende. Er beginnt über den Sinn von Türen zu reflektieren: als Transit, Einladung zum Eintritt, Metapher für das Weibliche. Irritiert zieht sich der Besucher zurück, und als er ein zweites Mal den Ort aufsuchen will, ist alles verschwunden. Das Zimmer ist plötzlich hell und licht, statt der Tür ist ein Lichtschalter an der Wand, die verstellte Tür hat sich in ein Nichts aufgelöst.

Weitere Stationen sind Reykjavík, dann Bogotá und schließlich wieder Paris. Die verstellte Tür aus Montevideo ist immer mit dabei, mal als Realität, mal als Fiktion. Dazwischengeschoben ist ein Spaziergang durch St. Gallen und ein Besuch der berühmten Bibliothek. Auch ein Besuch des Münsters von Basel mit innerer Einkehr am Grabmal des Humanisten Erasmus. Enrique Vila- Matas geht der Stoff nicht aus, denn er will keine durchgehende Geschichte erzählen, er lässt gewitzt und selbstironisch seinen Gedanken übers Schreiben freien Lauf. Da gibt es keine Ordnung oder Logik, sondern philosophische Reflexionen, manchmal auch lustige Geschichten über Zechprellerei und immer wieder geistreiche Anspielungen und Zitate aus seinem schier unerschöpflichen Lesefundus. Ein Salto folgt dem anderen: Robert Walser, Kafka, Proust, Melville, Barthes, Valéry, Perec . . . - lustig und verzweifelt zugleich. Die Übersetzerin Petra Strien-Bourmer folgt diesen Spuren mit Bravour.

Leitfaden des Autors scheint der berühmte Satz des jungen Arthur Rimbaud zu sein: "Je est un autre" - ich ist ein anderer. Wie Leser und Leserin damit klarkommen, ist ihm gleichgültig. Sein Wunsch ist: "Ich würde egal was dafür geben, einen Tag lang durch die Straßen irgendeiner Stadt auf der Welt zu spazieren und dort jemandem zu begegnen, der mich anspricht, um mir zu sagen, es falle ihm jeden Tag schwerer zu verstehen, was ich schreibe. Das zu hören, wäre phantastisch." LERKE VON SAALFELD

Enrique Vila-Matas:

"Montevideo". Roman.

Aus dem Spanischen von Petra Strien-Bourmer.

Wallstein Verlag,

Göttingen 2024.

268 S., geb., 26,50 Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
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