»Da haben wir`s, dachte ich, schon wieder eine wahre Fiktion, als zöge ich es an [...]«Mit dem anachronistischen Ziel, ein Schriftsteller der 20er-Jahre zu werden, reist der Erzähler dieses Buches 1974 nach Paris. Anstatt dort aber zu schreiben, betätigt er sich zunächst als Drogendealer auf schlecht beleuchteten Straßen und besucht billige Partys, bis er beginnt, an Türen und Nebenräumen Symbole und Signale zu erkennen. Diese verbinden nicht nur weitere Orte miteinander - Paris, Montevideo, Reykjavík, Bogotá, St. Gallen -, sondern führen ihn auch zum Wesen seines Schreibens sowie seinem Wunsch nahe, Erfahrungen in lebendige Seiten zu verwandeln. - Und wenn das Leben das ist, was uns passiert, weil wir Literatur haben?»Montevideo« ist eine wahre Fiktion, eine großartige literarische Erzählung über die Mehrdeutigkeit und das Spiegelkabinett unserer Welt. Vila-Matas findet hier einen Weg, über Dinge noch einmal ganz neu zu schreiben, über die bereits alles gesagt schien - über den zentralen Kern seines Werks, über die Modernität des Romans. Über Autofiktion, die es gar nicht gibt: »da alles autofiktional ist, denn was man schreibt, kommt immer von einem selbst«.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Lerke von Saalfeld warnt vor und empfiehlt zugleich Enrique Vila-Matas und seinen neuen, versponnenen Roman, in dem der Leser eine durchgängige Geschichte zwar mit der Lupe suchen muss, dafür aber belohnt wird mit allerhand Stoff und Lesefunden, Autorengeschichten und kuriosen Begebenheiten in Montevideo, St. Gallen, Bogota oder Cascais. Die Belesenheit und der Humor des katalanischen Autors sorgen dabei laut Saalfeld für geistreichen Spaß. Der Leser folgt ihm gern durch eingebildete Türen zu magischen Koffern und philosophischen Reflexionen. Dass der Erzähler unter einer Schreibblockade leidet, was ihn erst zu solcherlei Abenteuer anstiftet, hält Saalfeld für einen gelungenen Witz.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.07.2024Das lachende Idol im Nachbarzimmer
Der katalanische Schriftsteller Enrique Vila-Matas lässt in seinem neuen Roman "Montevideo" viele Türen für einen namenlosen Erzähler aufgehen
Der Katalane Enrique Vila-Matas (1948 in Barcelona geboren, wo er auch heute lebt) gehört zu den renommiertesten spanischen Autoren, ausgezeichnet mit allen wichtigen Literaturpreisen seines Landes. Inzwischen ist sein umfangreiches Werk in 32 Sprachen übersetzt. Während er in Frankreich hochgeehrt ist, gilt es ihn in Deutschland noch zu entdecken. Hier schreibt einer wie besessen in und mit der Literatur, ist stupend belesen und spielt graziös und frech mit Zitaten aus dem Kosmos der Weltliteratur. Vila-Matas gesteht, er sei umgeben von Buchzitaten und Autoren, "ich leide an der Literaturkrankheit". Wenn er an seinen Büchern sitze, "ist das für mich die Ausübung von Freiheit, alle Genres stelle ich mir zur Verfügung, alle Waffen, die ich habe, um zu schreiben". Nicht zufällig sind Vila-Matas' wichtigste Quellen "Ulysses", "Tristram Shandy", "Don Quijote" und "Moby-Dick".
In seinem jüngsten Roman führt ihn Julio Cortázar durch das fiktive Labyrinth literarischer Räume und Verschachtelungen. Zwar heißt der Roman "Montevideo", aber erst nach der Hälfte des Buches gelangt der namenlose Ich-Erzähler dorthin. Zunächst reist der Schriftsteller, der unter erheblichen Schreibblockaden leidet, im Jahr 1974 nach Paris, wo Vila-Matas von 1974 bis 1976 gelebt hat, "in der anachronistischen Absicht, ein Schriftsteller der 20er Jahre zu werden, Typ 'verlorene Generation'". Er möchte "ein Löwenjäger à la Hemingway" werden. Das klappt natürlich nicht, und die Hemmungen, überhaupt etwas zu erzählen, setzen vehement ein und verführen den Gescheiterten zu den irrwitzigsten Überlegungen über das Wesen und Unwesen des Schreibens. Um nicht belästigt zu werden von neugierigen Nachfragen zu seinem Schaffen, leiht er sich einen Satz von Marcel Duchamp aus: "Je n'ai plus d'idées" - ich habe keine Ideen mehr. Ob dies ein echtes Zitat ist, da kann man sich bei Vila-Matas nie sicher sein.
Nach seinem eigenen Bekenntnis interessiert ihn am meisten "die Wahrheit einer Lüge". Nicht erlogen ist das immer wieder gern wiederholte Zitat des Schreibers Bartleby von Herman Melville: "I would prefer not to . . ." - ich würde vorziehen, das nicht zu tun. Vila-Matas liebt die Sonderlinge und kauzigen literarischen Typen, sie regen seine Phantasie an, versteht er sich doch selbst als "Phantast unter Phantasten".
Zweite Station des Reisetagebuchs, das kein Reisetagebuch ist, ist der portugiesische Küstenort Cascais, wohin der Autor zu einem Filmfestival eingeladen ist. Vila-Matas war früher Redakteur der Filmzeitschrift "Fotogramas", und Filme, Regisseure, Schauspieler geistern oft durch seine Texte. Nun trifft die Ich-Figur auf den Schauspieler Jean-Pierre Léaud, eine Ikone aus ihrer Jugendzeit. Sie wagt ihn aus Scham nicht anzusprechen, aber Léaud, der im Nebenzimmer schläft, peinigt sie nachts durch ununterbrochene heftigste Lachanfälle. Der Erzähler weiß sich nicht anders zu helfen, als an Kafka zu denken.
Nach hundert Seiten gelangt der namenlose Schriftsteller endlich nach Montevideo, der Hauptstadt Uruguays, einer Kapitale von Kunst und Kultur in Südamerika. In einem dortigen Hotel spielt die Erzählung "Die verstellte Tür" von Cortázar. Der Protagonist findet das Hotel im Zentrum, früher hieß es Hotel Cervantes, es geht um das Zimmer 205 im zweiten Stock, ein düsteres Verlies mit einem Schrank, hinter dem sich eine Tür ins Nebenzimmer befindet. "Mir wurde immer klarer, dass die Atmosphäre im Hotel zum Gruseln war, und jede Nachforschung, die Licht ins Dunkel bringen wollte, würde sich als eine Art verstellte Tür erweisen und sich tendenziell in einen falschen Schritt meinerseits verkehren."
Nun beginnt ein heilloses Verwirrspiel. Der Erzähler rückt den Schrank von der Wand, die Tür dahinter ist leicht geöffnet. Zimmer 206 ist dunkel und leer, dort steht nur ein roter Koffer, angeblich von Marlene Dietrich. Wie von magischen Kräften gezogen, begibt sich der Erzähler in ein Abenteuer ohne Ende. Er beginnt über den Sinn von Türen zu reflektieren: als Transit, Einladung zum Eintritt, Metapher für das Weibliche. Irritiert zieht sich der Besucher zurück, und als er ein zweites Mal den Ort aufsuchen will, ist alles verschwunden. Das Zimmer ist plötzlich hell und licht, statt der Tür ist ein Lichtschalter an der Wand, die verstellte Tür hat sich in ein Nichts aufgelöst.
Weitere Stationen sind Reykjavík, dann Bogotá und schließlich wieder Paris. Die verstellte Tür aus Montevideo ist immer mit dabei, mal als Realität, mal als Fiktion. Dazwischengeschoben ist ein Spaziergang durch St. Gallen und ein Besuch der berühmten Bibliothek. Auch ein Besuch des Münsters von Basel mit innerer Einkehr am Grabmal des Humanisten Erasmus. Enrique Vila- Matas geht der Stoff nicht aus, denn er will keine durchgehende Geschichte erzählen, er lässt gewitzt und selbstironisch seinen Gedanken übers Schreiben freien Lauf. Da gibt es keine Ordnung oder Logik, sondern philosophische Reflexionen, manchmal auch lustige Geschichten über Zechprellerei und immer wieder geistreiche Anspielungen und Zitate aus seinem schier unerschöpflichen Lesefundus. Ein Salto folgt dem anderen: Robert Walser, Kafka, Proust, Melville, Barthes, Valéry, Perec . . . - lustig und verzweifelt zugleich. Die Übersetzerin Petra Strien-Bourmer folgt diesen Spuren mit Bravour.
Leitfaden des Autors scheint der berühmte Satz des jungen Arthur Rimbaud zu sein: "Je est un autre" - ich ist ein anderer. Wie Leser und Leserin damit klarkommen, ist ihm gleichgültig. Sein Wunsch ist: "Ich würde egal was dafür geben, einen Tag lang durch die Straßen irgendeiner Stadt auf der Welt zu spazieren und dort jemandem zu begegnen, der mich anspricht, um mir zu sagen, es falle ihm jeden Tag schwerer zu verstehen, was ich schreibe. Das zu hören, wäre phantastisch." LERKE VON SAALFELD
Enrique Vila-Matas:
"Montevideo". Roman.
Aus dem Spanischen von Petra Strien-Bourmer.
Wallstein Verlag,
Göttingen 2024.
268 S., geb., 26,50 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Der katalanische Schriftsteller Enrique Vila-Matas lässt in seinem neuen Roman "Montevideo" viele Türen für einen namenlosen Erzähler aufgehen
Der Katalane Enrique Vila-Matas (1948 in Barcelona geboren, wo er auch heute lebt) gehört zu den renommiertesten spanischen Autoren, ausgezeichnet mit allen wichtigen Literaturpreisen seines Landes. Inzwischen ist sein umfangreiches Werk in 32 Sprachen übersetzt. Während er in Frankreich hochgeehrt ist, gilt es ihn in Deutschland noch zu entdecken. Hier schreibt einer wie besessen in und mit der Literatur, ist stupend belesen und spielt graziös und frech mit Zitaten aus dem Kosmos der Weltliteratur. Vila-Matas gesteht, er sei umgeben von Buchzitaten und Autoren, "ich leide an der Literaturkrankheit". Wenn er an seinen Büchern sitze, "ist das für mich die Ausübung von Freiheit, alle Genres stelle ich mir zur Verfügung, alle Waffen, die ich habe, um zu schreiben". Nicht zufällig sind Vila-Matas' wichtigste Quellen "Ulysses", "Tristram Shandy", "Don Quijote" und "Moby-Dick".
In seinem jüngsten Roman führt ihn Julio Cortázar durch das fiktive Labyrinth literarischer Räume und Verschachtelungen. Zwar heißt der Roman "Montevideo", aber erst nach der Hälfte des Buches gelangt der namenlose Ich-Erzähler dorthin. Zunächst reist der Schriftsteller, der unter erheblichen Schreibblockaden leidet, im Jahr 1974 nach Paris, wo Vila-Matas von 1974 bis 1976 gelebt hat, "in der anachronistischen Absicht, ein Schriftsteller der 20er Jahre zu werden, Typ 'verlorene Generation'". Er möchte "ein Löwenjäger à la Hemingway" werden. Das klappt natürlich nicht, und die Hemmungen, überhaupt etwas zu erzählen, setzen vehement ein und verführen den Gescheiterten zu den irrwitzigsten Überlegungen über das Wesen und Unwesen des Schreibens. Um nicht belästigt zu werden von neugierigen Nachfragen zu seinem Schaffen, leiht er sich einen Satz von Marcel Duchamp aus: "Je n'ai plus d'idées" - ich habe keine Ideen mehr. Ob dies ein echtes Zitat ist, da kann man sich bei Vila-Matas nie sicher sein.
Nach seinem eigenen Bekenntnis interessiert ihn am meisten "die Wahrheit einer Lüge". Nicht erlogen ist das immer wieder gern wiederholte Zitat des Schreibers Bartleby von Herman Melville: "I would prefer not to . . ." - ich würde vorziehen, das nicht zu tun. Vila-Matas liebt die Sonderlinge und kauzigen literarischen Typen, sie regen seine Phantasie an, versteht er sich doch selbst als "Phantast unter Phantasten".
Zweite Station des Reisetagebuchs, das kein Reisetagebuch ist, ist der portugiesische Küstenort Cascais, wohin der Autor zu einem Filmfestival eingeladen ist. Vila-Matas war früher Redakteur der Filmzeitschrift "Fotogramas", und Filme, Regisseure, Schauspieler geistern oft durch seine Texte. Nun trifft die Ich-Figur auf den Schauspieler Jean-Pierre Léaud, eine Ikone aus ihrer Jugendzeit. Sie wagt ihn aus Scham nicht anzusprechen, aber Léaud, der im Nebenzimmer schläft, peinigt sie nachts durch ununterbrochene heftigste Lachanfälle. Der Erzähler weiß sich nicht anders zu helfen, als an Kafka zu denken.
Nach hundert Seiten gelangt der namenlose Schriftsteller endlich nach Montevideo, der Hauptstadt Uruguays, einer Kapitale von Kunst und Kultur in Südamerika. In einem dortigen Hotel spielt die Erzählung "Die verstellte Tür" von Cortázar. Der Protagonist findet das Hotel im Zentrum, früher hieß es Hotel Cervantes, es geht um das Zimmer 205 im zweiten Stock, ein düsteres Verlies mit einem Schrank, hinter dem sich eine Tür ins Nebenzimmer befindet. "Mir wurde immer klarer, dass die Atmosphäre im Hotel zum Gruseln war, und jede Nachforschung, die Licht ins Dunkel bringen wollte, würde sich als eine Art verstellte Tür erweisen und sich tendenziell in einen falschen Schritt meinerseits verkehren."
Nun beginnt ein heilloses Verwirrspiel. Der Erzähler rückt den Schrank von der Wand, die Tür dahinter ist leicht geöffnet. Zimmer 206 ist dunkel und leer, dort steht nur ein roter Koffer, angeblich von Marlene Dietrich. Wie von magischen Kräften gezogen, begibt sich der Erzähler in ein Abenteuer ohne Ende. Er beginnt über den Sinn von Türen zu reflektieren: als Transit, Einladung zum Eintritt, Metapher für das Weibliche. Irritiert zieht sich der Besucher zurück, und als er ein zweites Mal den Ort aufsuchen will, ist alles verschwunden. Das Zimmer ist plötzlich hell und licht, statt der Tür ist ein Lichtschalter an der Wand, die verstellte Tür hat sich in ein Nichts aufgelöst.
Weitere Stationen sind Reykjavík, dann Bogotá und schließlich wieder Paris. Die verstellte Tür aus Montevideo ist immer mit dabei, mal als Realität, mal als Fiktion. Dazwischengeschoben ist ein Spaziergang durch St. Gallen und ein Besuch der berühmten Bibliothek. Auch ein Besuch des Münsters von Basel mit innerer Einkehr am Grabmal des Humanisten Erasmus. Enrique Vila- Matas geht der Stoff nicht aus, denn er will keine durchgehende Geschichte erzählen, er lässt gewitzt und selbstironisch seinen Gedanken übers Schreiben freien Lauf. Da gibt es keine Ordnung oder Logik, sondern philosophische Reflexionen, manchmal auch lustige Geschichten über Zechprellerei und immer wieder geistreiche Anspielungen und Zitate aus seinem schier unerschöpflichen Lesefundus. Ein Salto folgt dem anderen: Robert Walser, Kafka, Proust, Melville, Barthes, Valéry, Perec . . . - lustig und verzweifelt zugleich. Die Übersetzerin Petra Strien-Bourmer folgt diesen Spuren mit Bravour.
Leitfaden des Autors scheint der berühmte Satz des jungen Arthur Rimbaud zu sein: "Je est un autre" - ich ist ein anderer. Wie Leser und Leserin damit klarkommen, ist ihm gleichgültig. Sein Wunsch ist: "Ich würde egal was dafür geben, einen Tag lang durch die Straßen irgendeiner Stadt auf der Welt zu spazieren und dort jemandem zu begegnen, der mich anspricht, um mir zu sagen, es falle ihm jeden Tag schwerer zu verstehen, was ich schreibe. Das zu hören, wäre phantastisch." LERKE VON SAALFELD
Enrique Vila-Matas:
"Montevideo". Roman.
Aus dem Spanischen von Petra Strien-Bourmer.
Wallstein Verlag,
Göttingen 2024.
268 S., geb., 26,50 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
»eine fluide, elegante Schreibweise« (Marko Martin, Deutschlandfunk Kultur Lesart, 10.04.2024) »Vila-Matas (spielt) meisterlich auf der Klaviatur des Fantastischen, des Möglichen, ja, er öffnet den Raum von Parallelwelten. (...) (D)ie Lektüre lohnt sich allemal: einmal als genüssliche Denkübung, einmal als Freude an gut geschriebener Literatur.« (Andreas Puff-Trojan, Die Presse/Spectrum, 08.06.2024) »Vila-Matas geht der Stoff nicht aus, denn er will keine durchgehende Geschichte erzählen, er lässt gewitzt und selbstironisch seinen Gedanken übers Schreiben freien Lauf.« (Lerke von Saalfeld, FAZ, 16.07.2024) »Da gibt es keine Ordnung oder Logik, sondern philosophische Reflexionen, manchmal auch lustige Geschichten über Zechprellerei und immer wieder geistreiche Anspielungen und Zitate aus seinem schier unerschöpflichen Lesefundus.« (Lerke von Saalfeld, FAZ, 16.07.2024) »Enrique Vila-Matas zündet (...) erneut ein literarisches Feuerwerk, das in unzähligen geistreich-witzigen intertextuellen Fäden auf uns LeserInnen herabregnet.« (Thomas Plaul, Lesart 2/2024)