Er ist dreizehn und wächst ohne Vater auf. Er stottert und heißt wie kein anderes Kind im Dorf, in der Schule: Dion. Dion Katthusen, Außenseiter unter den Gleichaltrigen, Einzelkind, Libellensammler in einer Moorlandschaft voller Mythen und Legenden. Am Ende seiner Kindheit erzählt er seine Geschichte: von der Sehnsucht nach einer intakten Sprache, vom Verhältnis zu seiner Mutter, einer erfolglosen Malerin, die ihr Scheitern in der Kunst und im Leben mit ihrer grenzüberschreitenden Liebe zum Sohn kompensiert. Doch wie der morastige Boden am Rand des norddeutschen Dorfes, in dem er aufwächst, ist auch Dions Sprache voller Löcher und Spalten. Unfähig, erzählend das Chaos in ihm und um ihn zu ordnen, leiht er seine Stimme einem Gegenüber, das ihm von allen am nächsten scheint: seiner Kindheitslandschaft. Und lässt so das Moor für ihn sprechen. Was Menschen tun, um der Einsamkeit zu entkommen, wie sie andere verletzen, um die eigene Versehrtheit an Körper und Seele auszuhalten, und was sie dabei der Liebe zumuten und abverlangen, davon erzählt dieser Roman - sprachmächtig, bildmächtig, kühn; und mit einer den Naturgewalten abgelauschten Erzählerstimme, die dem Leser buchstäblich den Boden unter den Füßen entzieht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.09.2013Wenn das Moor spricht, macht es leider ziemlich viele Worte
Schon an seinem Schauplatz kann ein Roman scheitern: Gunther Geltinger hat sein jüngstes Buch in einer geschwätzigen Leidenslandschaft angesiedelt
Wenn es gut läuft für den Jungen Dion, wenn also seine Mutter hinreichend nah und die Grenze zwischen ihr und ihm gerade richtig gezogen ist, dann ist auch das Moor eine Landschaft voller Verheißungen. Dion wohnt seit dem Tod des Vaters, der Bauer war, allein mit seiner Mutter im norddeutschen Fenndorf, im letzten Gebäude hinter den Ställen. In der Früh, wenn die Mutter ihr Bad im Teich nimmt, kann er den Wind in den Binsen hören. Er sieht den Dampf in den Gräben, "das unentschlossene Licht zwischen den Stämmen", und die Mutter, nackt, "ihr Spiegelbild auf dem Wasser". Dann ist es sehr laut in dem Kind, das schon fast erwachsen ist, aber eben nur fast.
Gunther Geltinger lässt die Phantasien dieses verstummten Dreizehnjährigen mit wuchtiger Sprache zirkulieren, und man muss sich manchmal davor schützen wie vor zu viel Innenwelt. In prallen Sätzen breitet sich das Elend des zu früh Erwachsenwerdens vor dem Leser aus: erste Sehnsucht nach zärtlicher Berührung, wenn der Junge seinen Finger in ein Mooskissen steckt; der Ekel beim Schnuppern an der mütterlichen Unterhose; die Libellen, die er ersatzweise liebt und penibel untersucht. So wie ein Sonderling ohne Freunde das tut: mit Lexikonwissen. Gerne vermischt Dion sein biologisches Wissen mit den Wunschfantasien über eine Schulkameradin, die darin zur liebesbereiten Partnerin wird: "Neben dir rauscht Tanja empor, das rote Kleid ausgebreitet zu Flügeln". Bis Tanja ihre Arme "flink kreiselnd" durch die Luft bewegt "wie das flirrende Rad eines Propellers", bis Dion endlich Anlauf nimmt für diesen Höhepunkt, dem unbedingt nötigen symbolischen Akt der Befreiuung aus dem Würgegriff einer durchweg beklemmenden Atmosphäre, ist schon viel geschehen und wieder zerbrochen in diesem Roman.
Ein Albtraum mit durchaus starken, surrealistischen Passagen ist das. Aber ebenso ein Sozialdrama, das leider nicht nur bei der Perspektive dieses gebrochenen Jungen bleibt, sondern unbedingt auch der anderen Seite, der völlig überforderten Mutter, eine Stimme mehr überstülpt als verleiht. Marga bekommt viel Raum. Eine Zugezogene, vor vierzehn Jahren von einem ihrer Freier in dieses Kaff verschleppt, hat sie so gar nichts Warmes. Im besten Fall duftet sie nach Lavendel, meistens aber stinkt sie nach Alkohol, nach Schlafschweiß und Abgestandenem. Tablettensüchtig seit Jahren, pendelt sie immer noch täglich in die Stadt, wo sie bei einem Herrenausstatter mit Hinterzimmer arbeitet. Bald hat sie sich an dieses Leben gewöhnt, und mehr schlecht als recht hilft sie sich über Widersprüche mit Launen hinweg. Mal kocht sie ausgiebig, dann wieder gar nicht. Mal nimmt sie Anteil an Dion, dann wieder gar nicht. Mal hat sie deswegen ein schlechtes Gewissen, dann wieder vergisst sie ihren Sohn ganz. Eigentlich wollte sie Malerin werden, hatte aber keinen Erfolg. Den Abend, an welchem ihr die Zukunftslosigkeit klarwird, bestimmt sie zu ihrem letzten. Der Selbstmordversuch im Bett ihres Sohnes, den sie im Schlaf mit Erbrochenem begießt, misslingt. "Sauer, voll abgestorbenem Leben", so ist der Geruch dieser Szene, die einen Wendepunkt einleiten könnte. Sie findet sich etwa in der Mitte dieses aus vielerlei Stimmen angerichteten Buches, das alles, aber auch alles einfangen will und die Wirklichkeit wortreich verwandelt. Andererseits zerschellt es an ebendieser Wirklichkeit, am zermürbenden Vorführen ihrer ganzen Trostlosigkeit. Als dürfe zur Rechtfertigung dieses Schrift gewordenen Racheaktes eines Sohnes kein Beweismittel ausgelassen werden.
Gunther Geltinger hat Film studiert und beweist Sinn für anspruchsvolle erzählerische Formen. Schon sein erster Roman "Mensch Engel" (2010) handelte von Enttäuschungen und wie sie mit Sprache zu überleben seien. Das nötige Sprachvermögen hat er und den Mut zum Risiko ebenfalls. Er beschreibt die karge Landschaft nicht nur in kraftvollen Bildern, er lässt das Moor sprechen. So liegt es vor uns, als Leidenslandschaft, ein schwarzer Kadaver, "überzogen von eiternden Kratern und Heidegrind, mit einem Bohlenweg als künstlicher Wirbelsäule, gedränt, zerstochen und abgeplaggt". Ökologen wollen es retten mit kompliziertem Gerät, doch trotz aller Bandagen "winde ich mich in hohem Fieber, blute ich aus, magere ab und verröchele". Vielleicht hätte ja das Fieber gereicht.
Offenbar will Geltinger hier gegen die gesamte Droste-Hülshoff-Schauerromantik spielen. Es gilt, das Moor von Klischees zu befreien. Exzessiv hat er recherchiert und sein "artifizielles Literaturmoor" geschaffen, das die Menschen um sich herum verschlingt und ausspeit, im besten Fall spiegelt als "nicht lebendig noch gänzlich tot". Was auf den ersten Blick noch beeindruckt, erweist sich auf den zweiten Blick und bei anhaltender Lektüre als unsauber geschliffen. "Zischende" Bustüren oder Augen, die auf eine Frau "deuten", was doch eher ein Zeigefinger macht, mag man noch hinnehmen. Anstrengend wird jedes Stilmittel erst in der Redundanz. Die permanente Ansprache an ein "du", die Geltingers selbstzweifelnde Figuren unter Überwachung des ordnenden, aber selbst von allem betroffenen Erzählers stellt, nimmt den Szenen viel von ihrer Lebendigkeit. Und selbst wenn genau das anvisiert ist, wenn die Sprache als Mittel dienen soll, die Kälte dieser Beziehungen gegen die sprudelnde Bildgenerierungsmaschine des völlig überforderten Jungen zu markieren, so läuft diese anfangs so reiche Sprache allmählich ins Leere. Dies nicht zuletzt, weil nie recht klarwird, was denn nun diesen Erzähler, jenen schon erwachsenen Dion, antreibt, das alles mitzuteilen. Da hilft es wenig, dass er selbst zunehmend genervt ist: "Mir dauert das alles zu lang", murrt er. Manchmal ruft er seinen Figuren zu: "Also los, Kinder, ein bisschen mehr Mumm und Zack!" Oder er gibt sachliche Regieanweisungen: "Alle ab." Wenn schon der Erzähler die Figuren nicht liebt, liebt sie vielleicht auch der Autor nicht. Warum sollten wir uns dann mit ihnen abgeben?
"Zum Durchschiffen zu trocken, für den Fußmarsch zu nass", heißt es über das Moor. Das Gleiche ließe sich über diesen ambitionierten Roman sagen, der seinen Mitteln nicht vertraut. Man hätte sich diesen Mutter-Sohn-Konflikt als konzise Erzählung gewünscht. Ein paar Nebenfiguren und Adjektive weniger, weil sie sich in der Häufung gegenseitig schwächen; entschiedenere Wechsel zwischen den Tonarten: Dann wäre der Text nicht überladen, sondern vielleicht ein gelungenes Kammerstück.
ANJA HIRSCH.
Gunther Geltinger: "Moor". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 440 S., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schon an seinem Schauplatz kann ein Roman scheitern: Gunther Geltinger hat sein jüngstes Buch in einer geschwätzigen Leidenslandschaft angesiedelt
Wenn es gut läuft für den Jungen Dion, wenn also seine Mutter hinreichend nah und die Grenze zwischen ihr und ihm gerade richtig gezogen ist, dann ist auch das Moor eine Landschaft voller Verheißungen. Dion wohnt seit dem Tod des Vaters, der Bauer war, allein mit seiner Mutter im norddeutschen Fenndorf, im letzten Gebäude hinter den Ställen. In der Früh, wenn die Mutter ihr Bad im Teich nimmt, kann er den Wind in den Binsen hören. Er sieht den Dampf in den Gräben, "das unentschlossene Licht zwischen den Stämmen", und die Mutter, nackt, "ihr Spiegelbild auf dem Wasser". Dann ist es sehr laut in dem Kind, das schon fast erwachsen ist, aber eben nur fast.
Gunther Geltinger lässt die Phantasien dieses verstummten Dreizehnjährigen mit wuchtiger Sprache zirkulieren, und man muss sich manchmal davor schützen wie vor zu viel Innenwelt. In prallen Sätzen breitet sich das Elend des zu früh Erwachsenwerdens vor dem Leser aus: erste Sehnsucht nach zärtlicher Berührung, wenn der Junge seinen Finger in ein Mooskissen steckt; der Ekel beim Schnuppern an der mütterlichen Unterhose; die Libellen, die er ersatzweise liebt und penibel untersucht. So wie ein Sonderling ohne Freunde das tut: mit Lexikonwissen. Gerne vermischt Dion sein biologisches Wissen mit den Wunschfantasien über eine Schulkameradin, die darin zur liebesbereiten Partnerin wird: "Neben dir rauscht Tanja empor, das rote Kleid ausgebreitet zu Flügeln". Bis Tanja ihre Arme "flink kreiselnd" durch die Luft bewegt "wie das flirrende Rad eines Propellers", bis Dion endlich Anlauf nimmt für diesen Höhepunkt, dem unbedingt nötigen symbolischen Akt der Befreiuung aus dem Würgegriff einer durchweg beklemmenden Atmosphäre, ist schon viel geschehen und wieder zerbrochen in diesem Roman.
Ein Albtraum mit durchaus starken, surrealistischen Passagen ist das. Aber ebenso ein Sozialdrama, das leider nicht nur bei der Perspektive dieses gebrochenen Jungen bleibt, sondern unbedingt auch der anderen Seite, der völlig überforderten Mutter, eine Stimme mehr überstülpt als verleiht. Marga bekommt viel Raum. Eine Zugezogene, vor vierzehn Jahren von einem ihrer Freier in dieses Kaff verschleppt, hat sie so gar nichts Warmes. Im besten Fall duftet sie nach Lavendel, meistens aber stinkt sie nach Alkohol, nach Schlafschweiß und Abgestandenem. Tablettensüchtig seit Jahren, pendelt sie immer noch täglich in die Stadt, wo sie bei einem Herrenausstatter mit Hinterzimmer arbeitet. Bald hat sie sich an dieses Leben gewöhnt, und mehr schlecht als recht hilft sie sich über Widersprüche mit Launen hinweg. Mal kocht sie ausgiebig, dann wieder gar nicht. Mal nimmt sie Anteil an Dion, dann wieder gar nicht. Mal hat sie deswegen ein schlechtes Gewissen, dann wieder vergisst sie ihren Sohn ganz. Eigentlich wollte sie Malerin werden, hatte aber keinen Erfolg. Den Abend, an welchem ihr die Zukunftslosigkeit klarwird, bestimmt sie zu ihrem letzten. Der Selbstmordversuch im Bett ihres Sohnes, den sie im Schlaf mit Erbrochenem begießt, misslingt. "Sauer, voll abgestorbenem Leben", so ist der Geruch dieser Szene, die einen Wendepunkt einleiten könnte. Sie findet sich etwa in der Mitte dieses aus vielerlei Stimmen angerichteten Buches, das alles, aber auch alles einfangen will und die Wirklichkeit wortreich verwandelt. Andererseits zerschellt es an ebendieser Wirklichkeit, am zermürbenden Vorführen ihrer ganzen Trostlosigkeit. Als dürfe zur Rechtfertigung dieses Schrift gewordenen Racheaktes eines Sohnes kein Beweismittel ausgelassen werden.
Gunther Geltinger hat Film studiert und beweist Sinn für anspruchsvolle erzählerische Formen. Schon sein erster Roman "Mensch Engel" (2010) handelte von Enttäuschungen und wie sie mit Sprache zu überleben seien. Das nötige Sprachvermögen hat er und den Mut zum Risiko ebenfalls. Er beschreibt die karge Landschaft nicht nur in kraftvollen Bildern, er lässt das Moor sprechen. So liegt es vor uns, als Leidenslandschaft, ein schwarzer Kadaver, "überzogen von eiternden Kratern und Heidegrind, mit einem Bohlenweg als künstlicher Wirbelsäule, gedränt, zerstochen und abgeplaggt". Ökologen wollen es retten mit kompliziertem Gerät, doch trotz aller Bandagen "winde ich mich in hohem Fieber, blute ich aus, magere ab und verröchele". Vielleicht hätte ja das Fieber gereicht.
Offenbar will Geltinger hier gegen die gesamte Droste-Hülshoff-Schauerromantik spielen. Es gilt, das Moor von Klischees zu befreien. Exzessiv hat er recherchiert und sein "artifizielles Literaturmoor" geschaffen, das die Menschen um sich herum verschlingt und ausspeit, im besten Fall spiegelt als "nicht lebendig noch gänzlich tot". Was auf den ersten Blick noch beeindruckt, erweist sich auf den zweiten Blick und bei anhaltender Lektüre als unsauber geschliffen. "Zischende" Bustüren oder Augen, die auf eine Frau "deuten", was doch eher ein Zeigefinger macht, mag man noch hinnehmen. Anstrengend wird jedes Stilmittel erst in der Redundanz. Die permanente Ansprache an ein "du", die Geltingers selbstzweifelnde Figuren unter Überwachung des ordnenden, aber selbst von allem betroffenen Erzählers stellt, nimmt den Szenen viel von ihrer Lebendigkeit. Und selbst wenn genau das anvisiert ist, wenn die Sprache als Mittel dienen soll, die Kälte dieser Beziehungen gegen die sprudelnde Bildgenerierungsmaschine des völlig überforderten Jungen zu markieren, so läuft diese anfangs so reiche Sprache allmählich ins Leere. Dies nicht zuletzt, weil nie recht klarwird, was denn nun diesen Erzähler, jenen schon erwachsenen Dion, antreibt, das alles mitzuteilen. Da hilft es wenig, dass er selbst zunehmend genervt ist: "Mir dauert das alles zu lang", murrt er. Manchmal ruft er seinen Figuren zu: "Also los, Kinder, ein bisschen mehr Mumm und Zack!" Oder er gibt sachliche Regieanweisungen: "Alle ab." Wenn schon der Erzähler die Figuren nicht liebt, liebt sie vielleicht auch der Autor nicht. Warum sollten wir uns dann mit ihnen abgeben?
"Zum Durchschiffen zu trocken, für den Fußmarsch zu nass", heißt es über das Moor. Das Gleiche ließe sich über diesen ambitionierten Roman sagen, der seinen Mitteln nicht vertraut. Man hätte sich diesen Mutter-Sohn-Konflikt als konzise Erzählung gewünscht. Ein paar Nebenfiguren und Adjektive weniger, weil sie sich in der Häufung gegenseitig schwächen; entschiedenere Wechsel zwischen den Tonarten: Dann wäre der Text nicht überladen, sondern vielleicht ein gelungenes Kammerstück.
ANJA HIRSCH.
Gunther Geltinger: "Moor". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 440 S., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Christoph Schröder vermutet, dass es an dem starken Bücherherbst dieses Jahres liegt, dass Gunther Geltingers zweiter Roman "Moor" unbeachtet geblieben ist - zu wenig beachtet jedenfalls, findet der Rezensent. Das Buch konfrontiert den Leser auf großartige Weise mit sämtlichen Zumutungen der Dorfwelt, alles ist "schicksalsbesetzt" und "psychosengesättigt", erklärt der Rezensent, und Geltinger tut das in einer überbordenden Sprache, die dem kaputten Sprechen des stotternden Protagonisten, der sich später selbst als Autor entpuppt, den Kampf ansagt, fasst Schröder zusammen. "Wenn K und D gemeinsam aufmarschieren, kannst du nur die Waffen strecken", heißt es an einer Stelle im Roman, doch Dion Katthusen - schon sein eigener Name ist ihm eine Qual, weiß der Rezensent - schreibt wütend gegen die Sprachlosigkeit an, berichtet Schröder. Besonders hat den Rezensenten die Perspektive fasziniert, die Geltinger gewählt hat: das Moor selbst erzählt die Geschichte, verrät Schröder.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.01.2014Wind im Mund
Gunther Geltingers rätselhafter, packender Roman „Moor“ über eine entgrenzte Mutter-Sohn-Beziehung
ist eines der interessantesten Beispiele für den derzeitigen Trend der Literatur, von seelischen Krankheiten zu erzählen
VON INA HARTWIG
Es ist erst sein zweiter Roman nach „Mensch Engel“, und schon jetzt lässt sich sagen: Gunther Geltinger schreibt über die Entgrenzungen der Seele wie derzeit kein anderer. Seine Helden: Borderliner (in „Mensch Engel“) oder, wie nun in „Moor“, Depressive, Angstgestörte, Süchtige. Das Extreme und Kaputte der menschlichen Existenz scheint diesen 1974 in Erlenbach am Main geborenen Autor brennend zu interessieren. Mehr noch, es scheint ihn im Griff zu haben. Denn auch wenn biografische Spekulation sich verbietet, so drängt sich doch der Eindruck auf, hier wisse einer wirklich, wovon er spricht.
Apropos Sprechen. Damit sind wir gleich mittendrin im Drama von Dion Katthusen, einer Hauptfigur des Romans „Moor“. Dion nämlich ist Stotterer und allein seinen Namen am Telefon auszusprechen ein Ding der Unmöglichkeit, wegen der schlimmen Konsonanten D und K, die, wenn überhaupt, nur mithilfe eines vorgeschalteten Hs über seine Lippen kommen, „hDion hKatthusen“. Da das H zu den wenigen Lauten zählt, die keinen Krieg gegen Dion führen, tüftelt er sein Schulreferat über „Der Lebenszyklus der Libellen“ so aus, dass möglichst viele Hs darin vorkommen; eine erste, wenn auch negativ motivierte Sprachschule, die Dion den Weg als Schriftsteller, der er als Erwachsener sein wird, bereits weisen. So ließe sich die hier erzählte Geschichte deuten: Der Wind im Mund des Stotterers als Schule der Poesie. Das Referat über die Libellen wird Dion allerdings nicht halten, weil er in letzter Sekunde ausbüxt.
Ein schwieriges, wagemutiges Motiv hat Gunther Geltinger, der in Köln und in Wien Drehbuch und Dramaturgie studierte, sich mit dem titelgebenden „Moor“ beschert. Dem Moor entschlüpfen nicht nur die Libellen, die Dion so liebt. Das Moor spricht auch, und zwar zu Dion, dem „Sprechkrüppel“. Über weite Strecken des Romans scheint das Moor selbst als Erzähler aufzutreten, sich an Dion wendend: „Niemand redet, wenn du mich belauschst. In Wahrheit bin ich stumm wie ein Fisch, doch nicht einmal Fische sind in den Tümpeln zu finden, nur Alpträume und Schauergeschichten, totes Zeug, das im sauren Wasser nicht verwesen kann.“ Klar darf da die Moorleiche nicht fehlen; der Junge, den sie eines Tages herausziehen, ist fünftausend Jahre alt und bestens erhalten.
Auf dem Nachbarhof, einer Schweinemast, leben Onkel, Tante und deren Kinder, darunter Hannes. Der etwas ältere Cousin mit den kräftigen Händen ist ein zwielichtiger, manchmal zärtlicher, dann krass gewalttätiger Jüngling, dem Dion, keineswegs unbemerkt, sehnsüchtige Blicke zuwirft. Neben Tanja, der Schulbanknachbarin mit den Glasknochen, einer Pastorentochter von rebellischem Naturell, das wiederum ein Auge auf Dion geworfen hat, zählt Hannes zu den großartig gelungenen Nebenfiguren dieses Romans.
Die Ortschaft, in der Dion, Hannes und Tanja auf eine gefährlich knisternde Dreiecksgeschichte zuschlittern, die sich in einer stürmischen Winternacht schicksalhaft entlädt, heißt Fenndorf und liegt am Rande des Moors. Dorthin hat es Dions Mutter verschlagen, ein Hamburger Heimkind und Straßenmädchen, das sich den erstbesten Mann schnappte, einen Bauern aus Fenndorf eben, der jedoch bald schon im Moor versank. Ein nie aufgeklärter Unfall, und nicht der einzige in diesem Buch.
So kommt es, dass die junge Witwe Marga Katthusen allein lebt mit Dion, ihrem Kind, das sie mit ihrer kranken Liebe umschlingt und bedrängt, solange sie die Kraft dafür hat. Das baufällige Haus am Ende der Straße, die todessüchtige Landschaft – verfilmt ergäbe das eine schönunheimliche, nebeldurchwirkte Szenerie. Das hat man noch nicht gelesen: Eine Mutter wie eine schwarze Naturgewalt, gierig und bedürftig, fies und bedauernswert. Im Dorf gilt sie als die Fremde, die Hure, die Trinkerin, die Rabenmutter, was nicht nur üble Nachrede ist, sondern der Wirklichkeit entspricht, die allein ihr Sohn lange nicht wahrhaben will.
Denn Dion ist, wie Gunther Geltinger bravourös und tabufrei schildert, ihr ausgeliefert in seiner Not, ist abhängig von ihren Liebesschwüren, weiß keine Grenzen zu ziehen gegen ihre inzestuöse Vereinnahmung, gegen ihre Nervosität und Verzweiflung, ihre Tabletten- und Alkohol- und Zigarettensucht, ihre unkalkulierbaren Kälteanfälle. Bis die Pubertät dann doch die schmerzliche Klarheit verschafft, als seine Wut plötzlich ausbricht und, siehe da, das Stottern beendet: „Lass mich.“
Gunther Geltinger geht dem „Fall“ Marga Katthusen so weit auf den Grund, dass es weh tut. Er will offenkundig diese Schmerzgrenze spürbar machen. Und er schafft es, dass man die zerstörte, zerstörerische Frau zu verstehen beginnt. Vorausgesetzt, man ist bereit, das lesend auszuhalten: Wie sie, als blutjunges Ding, dem Heim entkommen, in dem Altonaer Bordell landet. Die mit russischem Akzent säuselnde Puffmutter Siana wirft sie dem Boss zum Fraß vor, damit ihr „Talent“ mit größtmöglicher Brutalität „geprüft“ wird. Die Kleiderbügel, im Heim zum Prügeln benutzt, klötern auf den Kleiderständern, als lustiges Dekor. Marga flippt irgendwann aus wegen der Bügel. Dennoch: Hier, im „Modehaus Siana“, verdient sie als
„Mira“ jahrelang Geld, um Dion wenigstens ab und zu seinen geliebten „Allestopf“ zu kochen, draußen in Fenndorf.
Aber Dion wendet sich ab, Schritt für Schritt. Spätestens seit dem Selbstmordversuch der Mutter bleibt ihm nichts anderes übrig, will er nicht in ihrem Elend mit untergehen („das hingespeichelte, fast schon ausgewürgte ,Ich lieb dich doch so!‘ an seiner Wange, bevor sie wegkippte“). Er zieht zu Hannes’ Eltern, Tante Marianne wird seine bäuerlich-verlässliche Pflegemutter, ein ungewohntes Schutzschild. Schreibend wird Dion sich befreien, um den Preis allerdings, seine Mutter zu opfern, so wie diese ihn zuvor ihrer untröstlichen, unrettbaren Seele geopfert hat.
Um die moralische Schuld geht es Gunther Geltinger jedoch so wenig wie Terézia Mora, die in ihrem, mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman „Das Ungeheuer“ die Geschichte einer tödlich endenden weiblichen Depression erzählt, diese allerdings in den Kontext der Einwanderungshärten stellt. Bei Geltinger gilt die Devise: Wenn schon Psycho, dann richtig. Kein Sozialkitsch, keine Gesellschaftskritik. Auch keine Psychiatrie-Poetik, wie sie etwa Marion Poschmann in der „Sonnenposition“ entwirft. Stattdessen als Rahmenhandlung eine Überhöhung der Natur zur tödlichen Seelenland.
Die schwarze Romantik daran mag nicht jedem gefallen, aber unübersehbar hat Gunther Geltinger gerade dieser ungewöhnlichen Erzählkonstellation – der sprechenden Naturgewalt – die schönsten, aufregendsten Passagen seines Romans entlockt. Etwa, als der nächtliche Wintersturm zum Zeremonienmeister eines Pubertäts-Veitstanzes von Dion, Hannes und Tanja wird. Margas Kleiderschrank ist geplündert worden für dieses erste und letzte gemeinsame Spiel; während Marga in der „Klapse“ ausgepumpt wird, wie es im Dorf unverblümt heißt.
„Ihr seid mutterseelenallein“, stellt der stürmische Eros fest und nutzt die Gelegenheit, um das Dach zu öffnen und Wind und Schnee ins brüchige Haus zu blasen. Ein Rausch der Entgrenzung, endlich ohne Mutter, wenn auch in ihren Klamotten („Alles Nuttenzeug!“, sagt Hannes), mit ihrer Schminke, von ihren Tabletten und ihrem Korn aufgeputscht. Ein Kampf, Geschlinge der Leiber, Haut und Hitze. Und dann: der Schlag, der fehlgeht. Das Opfer wird nicht Dion sein und auch nicht Hannes, sondern, wie die Zeitung meldet, „ein dreizehnjähriges Mädchen“, das schwer verletzt worden sei „durch herabstürzende Dachziegel“. Ein letzter böser Gruß, Marga als Teufelin, oder doch nur ein unglücklicher Unfall? Hannes und Dion haben fortan ein Geheimnis.
Die Frage, warum die Krankheiten der Seele zurzeit auf so interessante Weise in die Romane der unmittelbaren Gegenwart drängen, wäre eine ausführliche Betrachtung wert. Gunther Geltinger hat sich auf diesem Feld mit seinem intensiven, packenden, mutigen, rätselhaften Roman „Moor“ einen vorderen Platz gesichert.
Gunther Geltinger: Moor. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 449 Seiten, 22,95 Euro, E-Book 19,99 Euro.
So bravourös wie tabufrei
schildert Geltinger die Not des
der Mutter ausgelieferten Kindes
Um moralische Schuld geht es
hier nicht, vielmehr um das
Ausloten seelischer Angründe
Der Roman überhöht die Natur zur tödlichen Seelenlandschaft, wenn etwa ein Wintersturm die Elementargewalten entfesselt – wie auf unserem Bild eines verwüsteten Moores.
Foto: Lucas Jackson / Reuters
Gunther Geltinger.
Foto: Jürgen Bauer
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Gunther Geltingers rätselhafter, packender Roman „Moor“ über eine entgrenzte Mutter-Sohn-Beziehung
ist eines der interessantesten Beispiele für den derzeitigen Trend der Literatur, von seelischen Krankheiten zu erzählen
VON INA HARTWIG
Es ist erst sein zweiter Roman nach „Mensch Engel“, und schon jetzt lässt sich sagen: Gunther Geltinger schreibt über die Entgrenzungen der Seele wie derzeit kein anderer. Seine Helden: Borderliner (in „Mensch Engel“) oder, wie nun in „Moor“, Depressive, Angstgestörte, Süchtige. Das Extreme und Kaputte der menschlichen Existenz scheint diesen 1974 in Erlenbach am Main geborenen Autor brennend zu interessieren. Mehr noch, es scheint ihn im Griff zu haben. Denn auch wenn biografische Spekulation sich verbietet, so drängt sich doch der Eindruck auf, hier wisse einer wirklich, wovon er spricht.
Apropos Sprechen. Damit sind wir gleich mittendrin im Drama von Dion Katthusen, einer Hauptfigur des Romans „Moor“. Dion nämlich ist Stotterer und allein seinen Namen am Telefon auszusprechen ein Ding der Unmöglichkeit, wegen der schlimmen Konsonanten D und K, die, wenn überhaupt, nur mithilfe eines vorgeschalteten Hs über seine Lippen kommen, „hDion hKatthusen“. Da das H zu den wenigen Lauten zählt, die keinen Krieg gegen Dion führen, tüftelt er sein Schulreferat über „Der Lebenszyklus der Libellen“ so aus, dass möglichst viele Hs darin vorkommen; eine erste, wenn auch negativ motivierte Sprachschule, die Dion den Weg als Schriftsteller, der er als Erwachsener sein wird, bereits weisen. So ließe sich die hier erzählte Geschichte deuten: Der Wind im Mund des Stotterers als Schule der Poesie. Das Referat über die Libellen wird Dion allerdings nicht halten, weil er in letzter Sekunde ausbüxt.
Ein schwieriges, wagemutiges Motiv hat Gunther Geltinger, der in Köln und in Wien Drehbuch und Dramaturgie studierte, sich mit dem titelgebenden „Moor“ beschert. Dem Moor entschlüpfen nicht nur die Libellen, die Dion so liebt. Das Moor spricht auch, und zwar zu Dion, dem „Sprechkrüppel“. Über weite Strecken des Romans scheint das Moor selbst als Erzähler aufzutreten, sich an Dion wendend: „Niemand redet, wenn du mich belauschst. In Wahrheit bin ich stumm wie ein Fisch, doch nicht einmal Fische sind in den Tümpeln zu finden, nur Alpträume und Schauergeschichten, totes Zeug, das im sauren Wasser nicht verwesen kann.“ Klar darf da die Moorleiche nicht fehlen; der Junge, den sie eines Tages herausziehen, ist fünftausend Jahre alt und bestens erhalten.
Auf dem Nachbarhof, einer Schweinemast, leben Onkel, Tante und deren Kinder, darunter Hannes. Der etwas ältere Cousin mit den kräftigen Händen ist ein zwielichtiger, manchmal zärtlicher, dann krass gewalttätiger Jüngling, dem Dion, keineswegs unbemerkt, sehnsüchtige Blicke zuwirft. Neben Tanja, der Schulbanknachbarin mit den Glasknochen, einer Pastorentochter von rebellischem Naturell, das wiederum ein Auge auf Dion geworfen hat, zählt Hannes zu den großartig gelungenen Nebenfiguren dieses Romans.
Die Ortschaft, in der Dion, Hannes und Tanja auf eine gefährlich knisternde Dreiecksgeschichte zuschlittern, die sich in einer stürmischen Winternacht schicksalhaft entlädt, heißt Fenndorf und liegt am Rande des Moors. Dorthin hat es Dions Mutter verschlagen, ein Hamburger Heimkind und Straßenmädchen, das sich den erstbesten Mann schnappte, einen Bauern aus Fenndorf eben, der jedoch bald schon im Moor versank. Ein nie aufgeklärter Unfall, und nicht der einzige in diesem Buch.
So kommt es, dass die junge Witwe Marga Katthusen allein lebt mit Dion, ihrem Kind, das sie mit ihrer kranken Liebe umschlingt und bedrängt, solange sie die Kraft dafür hat. Das baufällige Haus am Ende der Straße, die todessüchtige Landschaft – verfilmt ergäbe das eine schönunheimliche, nebeldurchwirkte Szenerie. Das hat man noch nicht gelesen: Eine Mutter wie eine schwarze Naturgewalt, gierig und bedürftig, fies und bedauernswert. Im Dorf gilt sie als die Fremde, die Hure, die Trinkerin, die Rabenmutter, was nicht nur üble Nachrede ist, sondern der Wirklichkeit entspricht, die allein ihr Sohn lange nicht wahrhaben will.
Denn Dion ist, wie Gunther Geltinger bravourös und tabufrei schildert, ihr ausgeliefert in seiner Not, ist abhängig von ihren Liebesschwüren, weiß keine Grenzen zu ziehen gegen ihre inzestuöse Vereinnahmung, gegen ihre Nervosität und Verzweiflung, ihre Tabletten- und Alkohol- und Zigarettensucht, ihre unkalkulierbaren Kälteanfälle. Bis die Pubertät dann doch die schmerzliche Klarheit verschafft, als seine Wut plötzlich ausbricht und, siehe da, das Stottern beendet: „Lass mich.“
Gunther Geltinger geht dem „Fall“ Marga Katthusen so weit auf den Grund, dass es weh tut. Er will offenkundig diese Schmerzgrenze spürbar machen. Und er schafft es, dass man die zerstörte, zerstörerische Frau zu verstehen beginnt. Vorausgesetzt, man ist bereit, das lesend auszuhalten: Wie sie, als blutjunges Ding, dem Heim entkommen, in dem Altonaer Bordell landet. Die mit russischem Akzent säuselnde Puffmutter Siana wirft sie dem Boss zum Fraß vor, damit ihr „Talent“ mit größtmöglicher Brutalität „geprüft“ wird. Die Kleiderbügel, im Heim zum Prügeln benutzt, klötern auf den Kleiderständern, als lustiges Dekor. Marga flippt irgendwann aus wegen der Bügel. Dennoch: Hier, im „Modehaus Siana“, verdient sie als
„Mira“ jahrelang Geld, um Dion wenigstens ab und zu seinen geliebten „Allestopf“ zu kochen, draußen in Fenndorf.
Aber Dion wendet sich ab, Schritt für Schritt. Spätestens seit dem Selbstmordversuch der Mutter bleibt ihm nichts anderes übrig, will er nicht in ihrem Elend mit untergehen („das hingespeichelte, fast schon ausgewürgte ,Ich lieb dich doch so!‘ an seiner Wange, bevor sie wegkippte“). Er zieht zu Hannes’ Eltern, Tante Marianne wird seine bäuerlich-verlässliche Pflegemutter, ein ungewohntes Schutzschild. Schreibend wird Dion sich befreien, um den Preis allerdings, seine Mutter zu opfern, so wie diese ihn zuvor ihrer untröstlichen, unrettbaren Seele geopfert hat.
Um die moralische Schuld geht es Gunther Geltinger jedoch so wenig wie Terézia Mora, die in ihrem, mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman „Das Ungeheuer“ die Geschichte einer tödlich endenden weiblichen Depression erzählt, diese allerdings in den Kontext der Einwanderungshärten stellt. Bei Geltinger gilt die Devise: Wenn schon Psycho, dann richtig. Kein Sozialkitsch, keine Gesellschaftskritik. Auch keine Psychiatrie-Poetik, wie sie etwa Marion Poschmann in der „Sonnenposition“ entwirft. Stattdessen als Rahmenhandlung eine Überhöhung der Natur zur tödlichen Seelenland.
Die schwarze Romantik daran mag nicht jedem gefallen, aber unübersehbar hat Gunther Geltinger gerade dieser ungewöhnlichen Erzählkonstellation – der sprechenden Naturgewalt – die schönsten, aufregendsten Passagen seines Romans entlockt. Etwa, als der nächtliche Wintersturm zum Zeremonienmeister eines Pubertäts-Veitstanzes von Dion, Hannes und Tanja wird. Margas Kleiderschrank ist geplündert worden für dieses erste und letzte gemeinsame Spiel; während Marga in der „Klapse“ ausgepumpt wird, wie es im Dorf unverblümt heißt.
„Ihr seid mutterseelenallein“, stellt der stürmische Eros fest und nutzt die Gelegenheit, um das Dach zu öffnen und Wind und Schnee ins brüchige Haus zu blasen. Ein Rausch der Entgrenzung, endlich ohne Mutter, wenn auch in ihren Klamotten („Alles Nuttenzeug!“, sagt Hannes), mit ihrer Schminke, von ihren Tabletten und ihrem Korn aufgeputscht. Ein Kampf, Geschlinge der Leiber, Haut und Hitze. Und dann: der Schlag, der fehlgeht. Das Opfer wird nicht Dion sein und auch nicht Hannes, sondern, wie die Zeitung meldet, „ein dreizehnjähriges Mädchen“, das schwer verletzt worden sei „durch herabstürzende Dachziegel“. Ein letzter böser Gruß, Marga als Teufelin, oder doch nur ein unglücklicher Unfall? Hannes und Dion haben fortan ein Geheimnis.
Die Frage, warum die Krankheiten der Seele zurzeit auf so interessante Weise in die Romane der unmittelbaren Gegenwart drängen, wäre eine ausführliche Betrachtung wert. Gunther Geltinger hat sich auf diesem Feld mit seinem intensiven, packenden, mutigen, rätselhaften Roman „Moor“ einen vorderen Platz gesichert.
Gunther Geltinger: Moor. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 449 Seiten, 22,95 Euro, E-Book 19,99 Euro.
So bravourös wie tabufrei
schildert Geltinger die Not des
der Mutter ausgelieferten Kindes
Um moralische Schuld geht es
hier nicht, vielmehr um das
Ausloten seelischer Angründe
Der Roman überhöht die Natur zur tödlichen Seelenlandschaft, wenn etwa ein Wintersturm die Elementargewalten entfesselt – wie auf unserem Bild eines verwüsteten Moores.
Foto: Lucas Jackson / Reuters
Gunther Geltinger.
Foto: Jürgen Bauer
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»Die Frage, warum die Krankheiten der Seele zurzeit auf so interessante Weise in die Romane der unmittelbaren Gegenwart drängen, wäre eine ausführliche Betrachtung wert. Gunther Geltinger hat sich auf diesem Feld mit seinem intensiven, packenden, mutigen, rätselhaften Roman Moor einen vorderen Platz gesichert.« Ina Hartwig Süddeutsche Zeitung 20140122