In seinem Buch Moral und Moderne - Die Welt von Henry James zeigt Robert Pippin, dass Henry James in seinen Romanen und Erzählungen nicht nur eine neue Lesart, sondern letztlich eine Neubegründung der Moral entworfen hat. Obwohl James die Moderne als eine komplexe und bisher nicht dagewesene historische Situation ernst nimmt und ihre Ambiguitäten und Irritationen keineswegs leugnet, ist er nicht wie viele andere in Skeptizismus oder Ästhetizismus verfallen. Robert Pippin legt wichtige, neue Interpretationen zu allen großen Werken von James vor, die insgesamt seine These belegen, daß hier ein Erzähler einen eigenständigen und philosophisch fruchtbaren Beitrag zum Sinn der modernen Moral geliefert hat. Moral und Moderne ist aber nicht nur ein Buch für Philosophen und Literaturwissenschaftler, sondern auch eines für interessierte Leser von Henry James, da Pippin seine Argumente darzulegen versteht, ohne auf ein spezielles philosophisches oder theoretisches Vokabular zurückzugreifen."Pippin ist, glaube ich, genau die Art von Leser, die James sich gewünscht hätte." Richard Rorty, Stanford University "Das zentrale Verdienst dieses Buches ist eine erfrischend hintergründige und genaue Darstellung des moralischen Fundaments in James' Romanen." Alice Crary, New School University "Pippins vorsichtige, umfassende und unwiderstehliche Argumentation rekonstruiert die moralischen Konsequenzen des Modernismus und ihren Widerschein in den gelebten Erfahrungen von James' Figuren." Collin Meissner, University of Notre Dame ". genau beobachtet und mit gewissenhaftem Blick auf die Details wie auch auf die größeren Zusammenhänge der interpretierten Texte. David Bromwich, Yale University
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.08.2004In der Blüte der Verzweigungen
Der Moralphilosoph Robert B. Pippin liest Henry James
Welche Literatur lesen amerikanische Philosophieprofessoren zur Entspannung? Börsenberichte? Georges Simenon? Oder ganz viel ostasiatische Lyrik? Der amerikanische Hegel-Spezialist Robert B. Pippin, der an der University of Chicago lehrt, ist jedenfalls bekennender Verehrer von Henry James. Im Vorwort dieses Buches erzählt er, welchen Luxus es für ihn bedeutete, bei seinen europäischen Forschungsaufenthalten gleichsam heimlich an seinem James-Buch arbeiten zu können und zu jedem illustren Aufenthaltsort die passende Lektüre zu finden - in Venedig "Die Flügel der Taube", in Paris "Die Gesandten" und in London "Die goldene Schale". Es ist nicht die einzige Stelle, an der man neidisch werden möchte. Jede Seite dieser Studie vermittelt die Freuden des Lesens und Wiederlesens, eine geradezu ansteckende Lust an philosophischer Befragung. Weshalb auch die überquellenden Fußnoten wichtig und willkommen sind.
Nun muß man in der angelsächsischen Welt kaum jemandem erklären, daß es sich bei den genannten Büchern um die drei letzten großen James-Romane handelt, erschienen zwischen 1902 und 1904 (der Mann selbst starb 1916). Man könnte in ihnen sein ästhetisches Testament sehen oder, wenn einem der Spätstil zuviel werden sollte, das zu höchster Subtilität und schon ins leicht Pralinéhafte gesteigerte Raffinement seiner psychologischen Romankunst. Ein Teil der neueren, "ethnisch" oder postkolonial orientierten Literaturwissenschaft rechnet James denn auch zu den toten weißen Walen des abendländischen Literaturkanons. Seine Bewunderer erwidern darauf, er sei schlicht einer der größten Schriftsteller des Jahrhunderts (des neunzehnten, des zwanzigsten oder beider) und als solcher erst mal unter seinen eigenen Bedingungen zu lesen.
Ein Fall für die Propaganda
Hierzulande scheint es müßig, diese Frage zu stellen, denn unser Bild von Henry James ist blaß und bruchstückhaft. Von dem formidablen Literaturkritiker und Romantheoretiker haben wir lediglich den allerfernsten Begriff; seine "Kunst des Romans" ist nur noch antiquarisch erhältlich. Die dreitausend Seiten seiner kürzeren Prosa wurden immer nur nach Perlen abgesucht, aber nie annähernd vollständig übersetzt. Und seine wichtigsten Romane haben auf dem Markt vor allem als "Buch zum Film" eine Chance, dann also, wenn Nicole Kidman auf den Umschlag kommt. Auch wenn man die Anstrengungen des Verlags Kiepenheuer & Witsch zwischen den fünfziger und achtziger Jahren nicht geringschätzen sollte - was Suhrkamp einmal für Joyce, Proust oder Walter Benjamin an Vermittlungs- und Propagandadiensten leistete, hat für Henry James niemand im deutschen Sprachraum getan. Daß es mit demselben Recht hätte getan werden können, ist heute ein melancholischer Gedanke.
Aus all dem ergibt sich, daß Robert B. Pippins Studie "Moral und Moderne: Die Welt von Henry James", deren amerikanisches Original im Jahr 2000 erschien, eher eine Sache für Liebhaber und Spezialisten sein dürfte. Freilich eine lohnende. Die fällige Warnung vorweg: Die Übersetzung hinkt etwas. Wiebke Meier hat die Gedankengänge Pippins fraglos verstanden und mit größtem Bemühen um Texttreue wiedergegeben. Aber mit stilistischer Eleganz, übersetzerischer Professionalität und dem Konjunktiv steht sie auf Kriegsfuß. Eine Flut vermeidbarer Daß-Sätze und scheußlicher Als-ob-Konstruktionen ergießt sich über die Seiten. Tatsächlich wäre es leicht gewesen, diese Übertragung zu redigieren und zu einer guten zu machen, der kleine Waschgang hätte gereicht. Der Vorwurf geht nicht an die Übersetzerin, sondern an den Verlag. Einem Lektor wäre aufgefallen, daß Wiebke Meier immer "Charakter" schreibt, wenn sie eine literarische "Figur" meint; daß sie in dem ehrenwerten Versuch, veraltete James-Übersetzungen zu korrigieren, frische Kommafehler produziert; und daß sie den Unterschied zwischen gleichrangigen und nichtgleichrangigen Adjektiven offenbar nicht kennt. Ein "nettes, amerikanisches Mädchen", lesen wir da. Ein "angemessener, moralischer Standpunkt". Ein schmerzlich vermißtes Lektorat!
Wer feste Schuhe trägt und die Stolpersteine ignoriert, hat von Pippins Buch aber sehr viel. Zunächst überrascht ja schon die Idee, die Moral wieder in die Literaturwissenschaft zurückzutragen, aus der sie vor Jahrzehnten mit Schimpf verjagt worden war. Seitdem gilt es als unschick und verzopft, moralische Reflexionen an erfundene Geschichten zu knüpfen. Pippin allerdings begreift die Romanwelt von Henry James nicht als Testlabor für ein ethisch richtiges oder falsches Leben, über das am Ende die Farbe des zufällig benutzten Lackmuspapiers Auskunft geben könnte; jeder Literaturwissenschaftler, der den relativistischen amerikanischen Romanhelden der sechziger oder siebziger Jahre die Leviten las, hatte ja sein eigenes. Nein, Pippin versucht, die Komplexität dessen, was bei James "Moral" heißen könnte, allererst zu verstehen und dann mit einer (nämlich seiner) Theorie moralischen Handelns zu konfrontieren.
Das ist aus mehreren Gründen ertragreich. Erstens, weil die gesellschaftliche Welt, die bei Henry James mit größter Genauigkeit gespiegelt wird - Europa und die Vereinigten Staaten in der Zeit zwischen 1860 und 1900 -, der Schauplatz gewaltiger Verschiebungen war. Klassenschranken stürzten, die Panzerung der Geschlechterrollen lockerte sich, neue, vulgäre Formen finanzieller Macht traten auf die Szene, religiöse Konventionen wurden erst privatisiert und schließlich unerheblich. Zweitens wegen des wankenden Charakters der Subjektivität und einer fragwürdig gewordenen sozialen Interpretierbarkeit des eigenen Handelns. Und drittens, weil James' Romane ständig das Gespräch, den Ideenaustausch, die Abgleichung und Selbstvergewisserung der eigenen Kategorien zum Thema haben. Man könnte sagen, bei James gebe es keine einsamen Helden, sondern nur Theoretiker des kommunikativen Handelns. Was sie sind (worin sie siegen, woran sie scheitern), das müssen sie erörtern, und jede ihrer Handlungen führt zwangsläufig zu ihrem Gegenüber zurück, ihren Vätern, Cousins, Freunden und Ehepartnern.
All das zusammen ergibt die besondere Henry-James-Mischung, deren auffälligstes äußeres Merkmal wohl das häufig wiederkehrende "Internationale Thema" ist - der soziologische und kulturpsychologische Vergleich von Alter Welt und Neuer Welt, den die Romane an Bildungsreisen, Heiratsschwindel oder Erbschleicherei sinnfällig machen, an der Frage von Freiheit oder Selbstbeschränkung, Herzenswahl oder Vernunftwahl, Würde oder Bankkonto. In Wahrheit hat sich James damit einem Problem verschrieben, das ureigenes philosophisches Terrain ist: dem Problem der Wahrnehmung des Selbst im anderen, des anderen im Selbst. Eine Beurteilung dessen, was im umfassendsten Sinn "richtig" ist - womit James' Figuren leben möchten, was sie als eigenes, lebenswertes Leben anzuerkennen bereit sind -, ist für sie ja deswegen so schwierig, weil sich in der heraufziehenden Moderne kaum noch etwas von selbst versteht und die meisten gesellschaftsregelnden Gewißheiten neu verhandelt werden müssen.
Von diesem Handel in einem Kontext gefährlicher Relativität erzählen die Bücher des Spätwerks, aber auch schon Romane wie "Bildnis einer Dame" (1881), das Meisterwerk der mittleren Phase. Pippins Beobachtungen an Isabel Archer, der beliebtesten Heldin bei James, rufen einem die Genialität dieser Erfindung ins Gedächtnis zurück, ihre Schwächen, ihre Größe und Unerschöpflichkeit. Sicherlich hätte es James gefreut zu sehen, auf welchem Niveau sich über seine Heldin hundertzwanzig Jahre später nachgrübeln läßt. Sie ist eine der wenigen englischsprechenden Frauenfiguren, die neben Jane Austens Emma Woodhouse bestehen kann.
James' Interesse ist also ein hermeneutisches, doch nicht in bezug auf ein objektives Drittes (Gott, das Universum, die soziale Ordnung und so weiter), sondern allein in bezug auf die innere Stimmigkeit der Deutungen, die sich ein Mensch über sein eigenes Tun zu geben versucht - sich selbst und anderen. Wie schwierig das Unterfangen ist, dergleichen mit den Mitteln des Romans darzustellen, und wie sehr gerade das Schwierige, Fluide und Prozessuale daran den Reiz der James-Lektüre ausmacht, zeigt Pippin schon auf den ersten Seiten, wenn er das Undidaktische seines Autors lobt: "James kratzt sich hinter der Bühne eher am Kopf, als daß er den Zeigefinger erhebt." Wer außerdem noch erkennt, daß James weder ein moralischer Skeptiker noch Nihilist ist, hat den Meister verstanden. Denn nichts hat James mehr fasziniert als Komplexität und die unendlichen Verzweigungsmöglichkeiten des Uneindeutigen. Wer wie er als Künstler alles aufnahm (je älter er wurde, desto mehr), weil er nicht vermeiden konnte, es in alle unterscheidbaren psychischen Regungen zu zerlegen, der ist kein Skeptiker, sondern einfach nur jemand, der es sehr genau nimmt.
In der Kette der Annahmen
Auch die Erwägungen Pippins fühlen sich im Komplexen, vielfach Bedingten zu Hause. Allein ihrer Einfühlung, Intelligenz und ihres langen philologischen Gedächtnisses wegen sind sie für James-Leser ein Genuß, ganz unabhängig übrigens von der Frage, ob man jeder seiner Beobachtungen zustimmen möchte. In dem bemerkenswerten Kapitel zu den "Gesandten" analysiert Pippin das Dilemma Lambert Strethers, jenes amerikanischen Mittfünfzigers, der nach Europa geschickt wird, um einen jungen Amerikaner aus den Fängen einer verheirateten Französin zu befreien. Doch nicht nur, daß die "Fänge" keine Fänge sind. In den "Gesandten" ist fast alles vorgeblich und scheinbar, ein Angebot zur Selbsttäuschung. Der Roman besteht aus einer Kette von festen Annahmen und einer ebenso langen Kette von entschiedenen Korrekturen.
Die fortgesetzten Dualitäten in Strethers Bewußtsein sowie die Stadien seiner Erkenntnis enthüllt Pippin mit feinem dramatischem Gespür, und was von dem Leben der Figur bleibt (denn der Gesandte wurde am Ende um seiner selbst willen gesandt), mag nicht groß sein, aber es ist viel mehr als nichts: Strether lernt, daß er die Dualität von Abhängigkeit und Freiheit, in die ihn seine Reflexionen führen, nicht auflösen kann, und er lernt sogar, daß eine solche Auflösung unmöglich ist. In den kleinen, nicht den großen Erkenntnissen sieht Pippin die Stärke seines Autors und die Probe auf seine Gültigkeit. Diese Tiefe in der Begrenzung ließe sich mit wenigen Sätzen zusammenfassen: Erkenne den Bereich deiner Zuständigkeit. Nimm mit allen Sinnen auf, was mit dir geschieht. Lerne, was es zu lernen gibt.
PAUL INGENDAAY
Robert B. Pippin: "Moral und Moderne". Die Welt von Henry James. Aus dem Amerikanischen von Wiebke Meier. Wilhelm Fink Verlag, München 2004. 207 S., br., 34,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Moralphilosoph Robert B. Pippin liest Henry James
Welche Literatur lesen amerikanische Philosophieprofessoren zur Entspannung? Börsenberichte? Georges Simenon? Oder ganz viel ostasiatische Lyrik? Der amerikanische Hegel-Spezialist Robert B. Pippin, der an der University of Chicago lehrt, ist jedenfalls bekennender Verehrer von Henry James. Im Vorwort dieses Buches erzählt er, welchen Luxus es für ihn bedeutete, bei seinen europäischen Forschungsaufenthalten gleichsam heimlich an seinem James-Buch arbeiten zu können und zu jedem illustren Aufenthaltsort die passende Lektüre zu finden - in Venedig "Die Flügel der Taube", in Paris "Die Gesandten" und in London "Die goldene Schale". Es ist nicht die einzige Stelle, an der man neidisch werden möchte. Jede Seite dieser Studie vermittelt die Freuden des Lesens und Wiederlesens, eine geradezu ansteckende Lust an philosophischer Befragung. Weshalb auch die überquellenden Fußnoten wichtig und willkommen sind.
Nun muß man in der angelsächsischen Welt kaum jemandem erklären, daß es sich bei den genannten Büchern um die drei letzten großen James-Romane handelt, erschienen zwischen 1902 und 1904 (der Mann selbst starb 1916). Man könnte in ihnen sein ästhetisches Testament sehen oder, wenn einem der Spätstil zuviel werden sollte, das zu höchster Subtilität und schon ins leicht Pralinéhafte gesteigerte Raffinement seiner psychologischen Romankunst. Ein Teil der neueren, "ethnisch" oder postkolonial orientierten Literaturwissenschaft rechnet James denn auch zu den toten weißen Walen des abendländischen Literaturkanons. Seine Bewunderer erwidern darauf, er sei schlicht einer der größten Schriftsteller des Jahrhunderts (des neunzehnten, des zwanzigsten oder beider) und als solcher erst mal unter seinen eigenen Bedingungen zu lesen.
Ein Fall für die Propaganda
Hierzulande scheint es müßig, diese Frage zu stellen, denn unser Bild von Henry James ist blaß und bruchstückhaft. Von dem formidablen Literaturkritiker und Romantheoretiker haben wir lediglich den allerfernsten Begriff; seine "Kunst des Romans" ist nur noch antiquarisch erhältlich. Die dreitausend Seiten seiner kürzeren Prosa wurden immer nur nach Perlen abgesucht, aber nie annähernd vollständig übersetzt. Und seine wichtigsten Romane haben auf dem Markt vor allem als "Buch zum Film" eine Chance, dann also, wenn Nicole Kidman auf den Umschlag kommt. Auch wenn man die Anstrengungen des Verlags Kiepenheuer & Witsch zwischen den fünfziger und achtziger Jahren nicht geringschätzen sollte - was Suhrkamp einmal für Joyce, Proust oder Walter Benjamin an Vermittlungs- und Propagandadiensten leistete, hat für Henry James niemand im deutschen Sprachraum getan. Daß es mit demselben Recht hätte getan werden können, ist heute ein melancholischer Gedanke.
Aus all dem ergibt sich, daß Robert B. Pippins Studie "Moral und Moderne: Die Welt von Henry James", deren amerikanisches Original im Jahr 2000 erschien, eher eine Sache für Liebhaber und Spezialisten sein dürfte. Freilich eine lohnende. Die fällige Warnung vorweg: Die Übersetzung hinkt etwas. Wiebke Meier hat die Gedankengänge Pippins fraglos verstanden und mit größtem Bemühen um Texttreue wiedergegeben. Aber mit stilistischer Eleganz, übersetzerischer Professionalität und dem Konjunktiv steht sie auf Kriegsfuß. Eine Flut vermeidbarer Daß-Sätze und scheußlicher Als-ob-Konstruktionen ergießt sich über die Seiten. Tatsächlich wäre es leicht gewesen, diese Übertragung zu redigieren und zu einer guten zu machen, der kleine Waschgang hätte gereicht. Der Vorwurf geht nicht an die Übersetzerin, sondern an den Verlag. Einem Lektor wäre aufgefallen, daß Wiebke Meier immer "Charakter" schreibt, wenn sie eine literarische "Figur" meint; daß sie in dem ehrenwerten Versuch, veraltete James-Übersetzungen zu korrigieren, frische Kommafehler produziert; und daß sie den Unterschied zwischen gleichrangigen und nichtgleichrangigen Adjektiven offenbar nicht kennt. Ein "nettes, amerikanisches Mädchen", lesen wir da. Ein "angemessener, moralischer Standpunkt". Ein schmerzlich vermißtes Lektorat!
Wer feste Schuhe trägt und die Stolpersteine ignoriert, hat von Pippins Buch aber sehr viel. Zunächst überrascht ja schon die Idee, die Moral wieder in die Literaturwissenschaft zurückzutragen, aus der sie vor Jahrzehnten mit Schimpf verjagt worden war. Seitdem gilt es als unschick und verzopft, moralische Reflexionen an erfundene Geschichten zu knüpfen. Pippin allerdings begreift die Romanwelt von Henry James nicht als Testlabor für ein ethisch richtiges oder falsches Leben, über das am Ende die Farbe des zufällig benutzten Lackmuspapiers Auskunft geben könnte; jeder Literaturwissenschaftler, der den relativistischen amerikanischen Romanhelden der sechziger oder siebziger Jahre die Leviten las, hatte ja sein eigenes. Nein, Pippin versucht, die Komplexität dessen, was bei James "Moral" heißen könnte, allererst zu verstehen und dann mit einer (nämlich seiner) Theorie moralischen Handelns zu konfrontieren.
Das ist aus mehreren Gründen ertragreich. Erstens, weil die gesellschaftliche Welt, die bei Henry James mit größter Genauigkeit gespiegelt wird - Europa und die Vereinigten Staaten in der Zeit zwischen 1860 und 1900 -, der Schauplatz gewaltiger Verschiebungen war. Klassenschranken stürzten, die Panzerung der Geschlechterrollen lockerte sich, neue, vulgäre Formen finanzieller Macht traten auf die Szene, religiöse Konventionen wurden erst privatisiert und schließlich unerheblich. Zweitens wegen des wankenden Charakters der Subjektivität und einer fragwürdig gewordenen sozialen Interpretierbarkeit des eigenen Handelns. Und drittens, weil James' Romane ständig das Gespräch, den Ideenaustausch, die Abgleichung und Selbstvergewisserung der eigenen Kategorien zum Thema haben. Man könnte sagen, bei James gebe es keine einsamen Helden, sondern nur Theoretiker des kommunikativen Handelns. Was sie sind (worin sie siegen, woran sie scheitern), das müssen sie erörtern, und jede ihrer Handlungen führt zwangsläufig zu ihrem Gegenüber zurück, ihren Vätern, Cousins, Freunden und Ehepartnern.
All das zusammen ergibt die besondere Henry-James-Mischung, deren auffälligstes äußeres Merkmal wohl das häufig wiederkehrende "Internationale Thema" ist - der soziologische und kulturpsychologische Vergleich von Alter Welt und Neuer Welt, den die Romane an Bildungsreisen, Heiratsschwindel oder Erbschleicherei sinnfällig machen, an der Frage von Freiheit oder Selbstbeschränkung, Herzenswahl oder Vernunftwahl, Würde oder Bankkonto. In Wahrheit hat sich James damit einem Problem verschrieben, das ureigenes philosophisches Terrain ist: dem Problem der Wahrnehmung des Selbst im anderen, des anderen im Selbst. Eine Beurteilung dessen, was im umfassendsten Sinn "richtig" ist - womit James' Figuren leben möchten, was sie als eigenes, lebenswertes Leben anzuerkennen bereit sind -, ist für sie ja deswegen so schwierig, weil sich in der heraufziehenden Moderne kaum noch etwas von selbst versteht und die meisten gesellschaftsregelnden Gewißheiten neu verhandelt werden müssen.
Von diesem Handel in einem Kontext gefährlicher Relativität erzählen die Bücher des Spätwerks, aber auch schon Romane wie "Bildnis einer Dame" (1881), das Meisterwerk der mittleren Phase. Pippins Beobachtungen an Isabel Archer, der beliebtesten Heldin bei James, rufen einem die Genialität dieser Erfindung ins Gedächtnis zurück, ihre Schwächen, ihre Größe und Unerschöpflichkeit. Sicherlich hätte es James gefreut zu sehen, auf welchem Niveau sich über seine Heldin hundertzwanzig Jahre später nachgrübeln läßt. Sie ist eine der wenigen englischsprechenden Frauenfiguren, die neben Jane Austens Emma Woodhouse bestehen kann.
James' Interesse ist also ein hermeneutisches, doch nicht in bezug auf ein objektives Drittes (Gott, das Universum, die soziale Ordnung und so weiter), sondern allein in bezug auf die innere Stimmigkeit der Deutungen, die sich ein Mensch über sein eigenes Tun zu geben versucht - sich selbst und anderen. Wie schwierig das Unterfangen ist, dergleichen mit den Mitteln des Romans darzustellen, und wie sehr gerade das Schwierige, Fluide und Prozessuale daran den Reiz der James-Lektüre ausmacht, zeigt Pippin schon auf den ersten Seiten, wenn er das Undidaktische seines Autors lobt: "James kratzt sich hinter der Bühne eher am Kopf, als daß er den Zeigefinger erhebt." Wer außerdem noch erkennt, daß James weder ein moralischer Skeptiker noch Nihilist ist, hat den Meister verstanden. Denn nichts hat James mehr fasziniert als Komplexität und die unendlichen Verzweigungsmöglichkeiten des Uneindeutigen. Wer wie er als Künstler alles aufnahm (je älter er wurde, desto mehr), weil er nicht vermeiden konnte, es in alle unterscheidbaren psychischen Regungen zu zerlegen, der ist kein Skeptiker, sondern einfach nur jemand, der es sehr genau nimmt.
In der Kette der Annahmen
Auch die Erwägungen Pippins fühlen sich im Komplexen, vielfach Bedingten zu Hause. Allein ihrer Einfühlung, Intelligenz und ihres langen philologischen Gedächtnisses wegen sind sie für James-Leser ein Genuß, ganz unabhängig übrigens von der Frage, ob man jeder seiner Beobachtungen zustimmen möchte. In dem bemerkenswerten Kapitel zu den "Gesandten" analysiert Pippin das Dilemma Lambert Strethers, jenes amerikanischen Mittfünfzigers, der nach Europa geschickt wird, um einen jungen Amerikaner aus den Fängen einer verheirateten Französin zu befreien. Doch nicht nur, daß die "Fänge" keine Fänge sind. In den "Gesandten" ist fast alles vorgeblich und scheinbar, ein Angebot zur Selbsttäuschung. Der Roman besteht aus einer Kette von festen Annahmen und einer ebenso langen Kette von entschiedenen Korrekturen.
Die fortgesetzten Dualitäten in Strethers Bewußtsein sowie die Stadien seiner Erkenntnis enthüllt Pippin mit feinem dramatischem Gespür, und was von dem Leben der Figur bleibt (denn der Gesandte wurde am Ende um seiner selbst willen gesandt), mag nicht groß sein, aber es ist viel mehr als nichts: Strether lernt, daß er die Dualität von Abhängigkeit und Freiheit, in die ihn seine Reflexionen führen, nicht auflösen kann, und er lernt sogar, daß eine solche Auflösung unmöglich ist. In den kleinen, nicht den großen Erkenntnissen sieht Pippin die Stärke seines Autors und die Probe auf seine Gültigkeit. Diese Tiefe in der Begrenzung ließe sich mit wenigen Sätzen zusammenfassen: Erkenne den Bereich deiner Zuständigkeit. Nimm mit allen Sinnen auf, was mit dir geschieht. Lerne, was es zu lernen gibt.
PAUL INGENDAAY
Robert B. Pippin: "Moral und Moderne". Die Welt von Henry James. Aus dem Amerikanischen von Wiebke Meier. Wilhelm Fink Verlag, München 2004. 207 S., br., 34,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Robert B. Pippins zwischen Philosophie und Literaturgeschichte angesiedelte Monografie über "Moral und Moderne" bei Henry James ist um einiges hinter den Erwartungen von Rezensentin Hilal Sezgin zurück geblieben. James' Werk unter diesen Aspekten zu betrachten, findet Sezgin zwar einleuchtend, schließlich bestehen die "plots" seiner Geschichten und Romane aus moralischen Konflikten, die sich vor dem Hintergrund des modernen Gemeinwesens abspielen. Allerdings hält sie Pippin vor, seinen moralphilosophischen Fragen nicht beharrlich genug nachzugehen. Etwa wenn er zeigen wolle, dass die Figuren von James weder alten Gewissheiten nachtrauern, noch ihren Schwund konstatieren, sondern permanent versuchen, sich einen Reim auf ihre ambivalenten Motive zu machen. Dabei kommt das "Wie" zu Sezgins Bedauern zu kurz. Auch Pippins Versuch, James als historisch sensiblen Autor zu verteidigen, überzeugt Sezgin nicht wirklich - zumal sich der Autor nicht für die dramaturgischen Überlegungen interessiere, die James wesentlich mehr und intensiver beschäftigten als die Geschichte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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