Produktdetails
- Verlag: frommann-holzboog Verlag e.K.
- Seitenzahl: 283
- ISBN-13: 9783772823398
- Artikelnr.: 12753098
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.11.2002Ich rieche meine Sonderrechte
Winfried Schröders luzide Studie über moralische Nihilisten
Die Anweisung Jahwes an Abraham, seinen Sohn Isaak zu opfern, wird verbreitet als skandalös empfunden. Wie kann Gott die Abschlachtung eines unschuldigen Kindes, also die Vollziehung eines höchst unmoralischen Aktes, fordern? Kant hat auf diese Frage eine rigorose, mit dem biblischen Text freilich kaum mehr in Einklang zu bringende Antwort gegeben. Wer derartiges anordnet, bei dem kann es sich demnach nicht wirklich um Gott handeln; denn auch religiöse Forderungen seien an das Sittengesetz gebunden. Sören Kierkegaard sieht in dieser Auskunft ein Attentat auf die göttliche Allmacht. Wollen wir Gott als den souveränen Herrn ehren, dürfen wir nach Kierkegaard keine ihm gleich- oder gar übergeordnete Instanz anerkennen. Eine Moral, die ihre Adressaten dazu anhalte, sich gegen den Willen Gottes aufzulehnen, sei folglich eine "Versuchung", der widerstanden werden müsse. Abraham sei dies gelungen, und das sei das "Wunderbare" an dem Geschehen in dem Land Morija. "Abraham überschritt durch seine Tat das ganze Ethische, und außerhalb hatte er ein höheres telos, im Vergleich zu dem er jenes suspendierte."
Die Haltung, die dieser Stellungnahme Kierkegaards zugrunde liegt, bezeichnet Winfried Schröder als "moralischen Nihilismus". Dem moralischen Nihilisten geht es nicht um bloße Grenzbereinigungen innerhalb des Feldes der Ethik, sondern um deren prinzipielle Entmachtung. Er glaubt an einen größeren Herrn, als es die Ethik ist. Diesem Herrn dienend, weiß er sich von der Beachtung sogar der moralischen Grundnormen wie des Verbots der Tötung Unschuldiger freigestellt. Als Prototyp des moralischen Nihilisten erweist sich in Schröders Analyse damit der Fundamentalist. An diesem ist alles unecht, sogar seine Demut, denn die Interpretationshoheit über den Willen des von ihm angerufenen Herrn behält er sich selbst vor. Nicht von ungefähr hat sich auch Mohammed Atta in seinem Testament auf das "Opfer Abrahams" berufen.
Wie Schröder weiter zeigt, war Kierkegaard keineswegs der einzige moralische Nihilist unter den Meisterdenkern des neunzehnten Jahrhunderts. Marx und Engels gehören ebenfalls in diesen illustren Kreis. Überzeugend widerlegt Schröder die Bemühungen neuerer Interpreten, Marx und Engels zu Propheten einer "Moral der Wohltätigkeit" zu stilisieren. Die von Schröder vorgestellten Textbefunde sprechen eine deutliche Sprache. Marx und Engels ging es danach nicht um eine Veredelung der Moral, sondern um deren politische "Denunziation". Nicht anders als Kierkegaard hielten freilich auch Marx und Engels eine außermoralische Legitimationsinstanz bereit, die den Tätern das gewünschte gute Gewissen verschaffte: die Geschichtsphilosophie, die Einsicht in die "wirkliche Bewegung" versprach, "welche den jetzigen Zustand aufhebt". Gegenüber dem, was geschehen muß, ist nach einer Bemerkung Lenins der Protest der "demokratischen Eunuchen" unbeachtlich, die meinen, es gebe "Moralvorschriften, die für alle bindend sind". In der Tat hat der von Lenin begründete Staat den moralischen Nihilismus seiner geistigen Wegbereiter auf das erfolgreichste realisiert.
Ebensowenig wie Marx und Engels Apostel der Gerechtigkeit darstellten, war der späte Nietzsche jener Vordenker einer radikalen "Moral der Selbstbestimmung", den manche seiner Anhänger in ihm sehen möchten. Auch insoweit verdient die klärende Analyse Schröders uneingeschränkte Zustimmung. Schröder zeigt, daß bei Nietzsche das Leben des einzelnen Individuums an sich ganz unwichtig ist. Worauf es nach Nietzsche ankommt, ist "die Erhöhung des Typus ,Mensch'". Deshalb stehe das Vorrecht der Amoralität auch nicht jedermann zu, sondern nur der kleinen Elite "vornehmer Seelen". Worin aber äußert sich deren Vornehmheit? Nietzsches Antwort ist, wie Schröder hervorhebt, von geradezu bestürzender Dürftigkeit. Das wichtigste Kriterium vornehmer Seelen ist demnach nämlich, daß sie einen "Instinkt" für ihr "Sonderrecht" besäßen. In noch radikalerer Form als seine Vorgänger dispensiert Nietzsche mithin seine Protagonisten von der Aufgabe, ihren privilegierten Status gegenüber Zweifelnden diskursiv zu rechtfertigen; schon deren Zweifel als solcher disqualifiziert sie. Nietzsches Aristokratie ist eine selbsternannte Elite des Instinkts; die späteren Prätendenten auf diese Rolle waren denn auch danach.
Der Typus des moralischen Nihilisten ist freilich nicht erst im neunzehnten Jahrhundert entstanden. Die gewichtigste und bis heute aktuellste Position eines moralischen Nihilismus ist zugleich die älteste; ihr locus classicus ist nach Schröders Auffassung Thrasymachos' Apologie der Ungerechtigkeit. Thrasymachos tritt zwar recht polternd auf. Die von ihm vertretene Position ist jedoch frei von dem auftrumpfend-heroischen Gestus, der die Positionen seiner späteren Brüder im Geiste kennzeichnet. Er reklamiert für sich nicht die Interpretationshoheit über eine jenseits der Moral angesiedelte Legitimationsinstanz. Wie Schröder zeigt, begnügt Thrasymachos sich damit, seine Zuhörer an das Interesse zu erinnern, das einem jeden von ihnen buchstäblich am nächsten liegt: ihr Interesse am eigenen Wohlergehen. Dieses Interesse in kluger Weise zu mehren ist der verführerisch-unspektakuläre Rat des Thrasymachos. Klug ist, wo nötig, die opportunistische Unterwerfung unter sanktionsbewehrte Normen und, wo möglich, der unbeobachtete Verstoß gegen sie.
Die Normen der Moral und des Rechts reduzieren sich in dieser Sichtweise auf den Status von Kostenfaktoren innerhalb eines individuellen Nutzenkalküls. Schröder gebührt Dank dafür, daß er diese Position, die im Modell des homo oeconomicus fröhliche Urständ feiert, als das bezeichnet, was sie ist, nämlich als Ausdruck eines moralischen Nihilismus. Bedauerlich ist jedoch, daß Schröder, nachdem er zuvor sorgsam die Bodenlosigkeit der ohnehin weitgehend diskreditierten Lehren von Kierkegaard, Marx/Engels und Nietzsche herausgearbeitet hat, die weitaus subversivere Attacke des Thrasymachos letztlich unbeantwortet läßt. Er beschränkt sich darauf, die "Aufgabe im Austarieren der Ansprüche der Moral einerseits und der Bedürfnisse ihrer Adressaten andererseits" als "wirklich fundamental" zu qualifizieren. Das ist sie in der Tat, aber hätte man nicht gerade deshalb etwas mehr erwarten dürfen als diese nackte Feststellung?
So läßt Schröder den Leser mit einem etwas zwiespältigen Eindruck zurück. Einigen bereits auf den Tod verwundeten Drachen des moralischen Nihilismus hat er zwar in eleganter und luzider Manier den endgültigen Garaus gemacht; der lebenskräftigste Ableger der Familie ist seinem richtenden Schwert hingegen entschlüpft. Um auch ihn auf der von Schröder abgesteckten Walstatt liegen zu sehen, müssen wir auf den nächsten Sankt-Georgs-Ritter warten.
MICHAEL PAWLIK
Winfried Schröder: "Moralischer Nihilismus". Typen radikaler Moralkritik von den Sophisten bis Nietzsche. Questiones 15. Frommann-Holzboog Verlag, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002. 280 S., geb., 56,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Winfried Schröders luzide Studie über moralische Nihilisten
Die Anweisung Jahwes an Abraham, seinen Sohn Isaak zu opfern, wird verbreitet als skandalös empfunden. Wie kann Gott die Abschlachtung eines unschuldigen Kindes, also die Vollziehung eines höchst unmoralischen Aktes, fordern? Kant hat auf diese Frage eine rigorose, mit dem biblischen Text freilich kaum mehr in Einklang zu bringende Antwort gegeben. Wer derartiges anordnet, bei dem kann es sich demnach nicht wirklich um Gott handeln; denn auch religiöse Forderungen seien an das Sittengesetz gebunden. Sören Kierkegaard sieht in dieser Auskunft ein Attentat auf die göttliche Allmacht. Wollen wir Gott als den souveränen Herrn ehren, dürfen wir nach Kierkegaard keine ihm gleich- oder gar übergeordnete Instanz anerkennen. Eine Moral, die ihre Adressaten dazu anhalte, sich gegen den Willen Gottes aufzulehnen, sei folglich eine "Versuchung", der widerstanden werden müsse. Abraham sei dies gelungen, und das sei das "Wunderbare" an dem Geschehen in dem Land Morija. "Abraham überschritt durch seine Tat das ganze Ethische, und außerhalb hatte er ein höheres telos, im Vergleich zu dem er jenes suspendierte."
Die Haltung, die dieser Stellungnahme Kierkegaards zugrunde liegt, bezeichnet Winfried Schröder als "moralischen Nihilismus". Dem moralischen Nihilisten geht es nicht um bloße Grenzbereinigungen innerhalb des Feldes der Ethik, sondern um deren prinzipielle Entmachtung. Er glaubt an einen größeren Herrn, als es die Ethik ist. Diesem Herrn dienend, weiß er sich von der Beachtung sogar der moralischen Grundnormen wie des Verbots der Tötung Unschuldiger freigestellt. Als Prototyp des moralischen Nihilisten erweist sich in Schröders Analyse damit der Fundamentalist. An diesem ist alles unecht, sogar seine Demut, denn die Interpretationshoheit über den Willen des von ihm angerufenen Herrn behält er sich selbst vor. Nicht von ungefähr hat sich auch Mohammed Atta in seinem Testament auf das "Opfer Abrahams" berufen.
Wie Schröder weiter zeigt, war Kierkegaard keineswegs der einzige moralische Nihilist unter den Meisterdenkern des neunzehnten Jahrhunderts. Marx und Engels gehören ebenfalls in diesen illustren Kreis. Überzeugend widerlegt Schröder die Bemühungen neuerer Interpreten, Marx und Engels zu Propheten einer "Moral der Wohltätigkeit" zu stilisieren. Die von Schröder vorgestellten Textbefunde sprechen eine deutliche Sprache. Marx und Engels ging es danach nicht um eine Veredelung der Moral, sondern um deren politische "Denunziation". Nicht anders als Kierkegaard hielten freilich auch Marx und Engels eine außermoralische Legitimationsinstanz bereit, die den Tätern das gewünschte gute Gewissen verschaffte: die Geschichtsphilosophie, die Einsicht in die "wirkliche Bewegung" versprach, "welche den jetzigen Zustand aufhebt". Gegenüber dem, was geschehen muß, ist nach einer Bemerkung Lenins der Protest der "demokratischen Eunuchen" unbeachtlich, die meinen, es gebe "Moralvorschriften, die für alle bindend sind". In der Tat hat der von Lenin begründete Staat den moralischen Nihilismus seiner geistigen Wegbereiter auf das erfolgreichste realisiert.
Ebensowenig wie Marx und Engels Apostel der Gerechtigkeit darstellten, war der späte Nietzsche jener Vordenker einer radikalen "Moral der Selbstbestimmung", den manche seiner Anhänger in ihm sehen möchten. Auch insoweit verdient die klärende Analyse Schröders uneingeschränkte Zustimmung. Schröder zeigt, daß bei Nietzsche das Leben des einzelnen Individuums an sich ganz unwichtig ist. Worauf es nach Nietzsche ankommt, ist "die Erhöhung des Typus ,Mensch'". Deshalb stehe das Vorrecht der Amoralität auch nicht jedermann zu, sondern nur der kleinen Elite "vornehmer Seelen". Worin aber äußert sich deren Vornehmheit? Nietzsches Antwort ist, wie Schröder hervorhebt, von geradezu bestürzender Dürftigkeit. Das wichtigste Kriterium vornehmer Seelen ist demnach nämlich, daß sie einen "Instinkt" für ihr "Sonderrecht" besäßen. In noch radikalerer Form als seine Vorgänger dispensiert Nietzsche mithin seine Protagonisten von der Aufgabe, ihren privilegierten Status gegenüber Zweifelnden diskursiv zu rechtfertigen; schon deren Zweifel als solcher disqualifiziert sie. Nietzsches Aristokratie ist eine selbsternannte Elite des Instinkts; die späteren Prätendenten auf diese Rolle waren denn auch danach.
Der Typus des moralischen Nihilisten ist freilich nicht erst im neunzehnten Jahrhundert entstanden. Die gewichtigste und bis heute aktuellste Position eines moralischen Nihilismus ist zugleich die älteste; ihr locus classicus ist nach Schröders Auffassung Thrasymachos' Apologie der Ungerechtigkeit. Thrasymachos tritt zwar recht polternd auf. Die von ihm vertretene Position ist jedoch frei von dem auftrumpfend-heroischen Gestus, der die Positionen seiner späteren Brüder im Geiste kennzeichnet. Er reklamiert für sich nicht die Interpretationshoheit über eine jenseits der Moral angesiedelte Legitimationsinstanz. Wie Schröder zeigt, begnügt Thrasymachos sich damit, seine Zuhörer an das Interesse zu erinnern, das einem jeden von ihnen buchstäblich am nächsten liegt: ihr Interesse am eigenen Wohlergehen. Dieses Interesse in kluger Weise zu mehren ist der verführerisch-unspektakuläre Rat des Thrasymachos. Klug ist, wo nötig, die opportunistische Unterwerfung unter sanktionsbewehrte Normen und, wo möglich, der unbeobachtete Verstoß gegen sie.
Die Normen der Moral und des Rechts reduzieren sich in dieser Sichtweise auf den Status von Kostenfaktoren innerhalb eines individuellen Nutzenkalküls. Schröder gebührt Dank dafür, daß er diese Position, die im Modell des homo oeconomicus fröhliche Urständ feiert, als das bezeichnet, was sie ist, nämlich als Ausdruck eines moralischen Nihilismus. Bedauerlich ist jedoch, daß Schröder, nachdem er zuvor sorgsam die Bodenlosigkeit der ohnehin weitgehend diskreditierten Lehren von Kierkegaard, Marx/Engels und Nietzsche herausgearbeitet hat, die weitaus subversivere Attacke des Thrasymachos letztlich unbeantwortet läßt. Er beschränkt sich darauf, die "Aufgabe im Austarieren der Ansprüche der Moral einerseits und der Bedürfnisse ihrer Adressaten andererseits" als "wirklich fundamental" zu qualifizieren. Das ist sie in der Tat, aber hätte man nicht gerade deshalb etwas mehr erwarten dürfen als diese nackte Feststellung?
So läßt Schröder den Leser mit einem etwas zwiespältigen Eindruck zurück. Einigen bereits auf den Tod verwundeten Drachen des moralischen Nihilismus hat er zwar in eleganter und luzider Manier den endgültigen Garaus gemacht; der lebenskräftigste Ableger der Familie ist seinem richtenden Schwert hingegen entschlüpft. Um auch ihn auf der von Schröder abgesteckten Walstatt liegen zu sehen, müssen wir auf den nächsten Sankt-Georgs-Ritter warten.
MICHAEL PAWLIK
Winfried Schröder: "Moralischer Nihilismus". Typen radikaler Moralkritik von den Sophisten bis Nietzsche. Questiones 15. Frommann-Holzboog Verlag, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002. 280 S., geb., 56,- [Euro].
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