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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Für Rezensentin Claudia Mäder ist Blaise Cendrars stets beides: Mann und Frau, Tod und Leben und vor allem: Faszination und Schrecken. So auch in diesem Roman von 1926, neu überarbeitet und kommentiert von Stefan Zweifel und für Mäder ein Text, der den Krieg nicht nur thematisiert, sondern dessen Ambivalenz in sich aufnimmt, wie sie erläutert. Dankbar für die von Zweifel hergestellten Bezüge zu anderen lustgetriebenen Gewaltexzessen in der Literatur, folgt Mäder wie hypnotisiert der Entfesselung der Triebe im und am Rand des großen Krieges, stellt aber fest, dass der Text neben solchen "Abenteuern" auch Reflexion und Beobachtung bietet, zur Ingenieurskunst etwa oder zur maschinellen Rhythmik der Sprache. Unhaltbar scheint ihr der Roman in seinen misogynischen und antisemitischen Passagen, die diese Neuausgabe erst sichtbar macht, wie Mäder schreibt.

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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.07.2014

Der Teppichbrandstifter als Künstler
Ein Monsterroman aus dem Jahr 1926: „Moravagine“ von Blaise Cendrars, dieser Klassiker über einen
kleinwüchsigen Mädchenmörder, ist dank einer Neuausgabe wieder zu entdecken
VON INA HARTWIG
Seit Christian Doering die zwischenzeitlich in ihrer Existenz bedrohte „Andere Bibliothek“ betreut, hat die für Entdeckungen und Wiederentdeckungen bekannte Reihe noch einmal an Fahrt gewonnen. Jetzt liegt dort der Roman „Moravagine“ von Blaise Cendrars (1887–1961) vor, jenem frankophonen Schweizer Autor und Abenteurer, der eigentlich Frédéric-Louis Sauser hieß, mit sechzehn von zu Hause ausriss, um den Erdball reiste, und der im Ersten Weltkrieg, als Freiwilliger der französischen Armee gegen die Deutschen kämpfend, den rechten Arm verlor. „Moravagine“, bereits mit links geschrieben, erschien 1926 in Paris und wurde, wie schon „Gold“ (1925), ein großer Erfolg. Dabei handelt es sich um Cendrars’ verrücktestes Werk, ein anarchisches Experiment, getrieben, wüst, böse, von stolzer Unmoral. Und doch scheint der Roman, den lesend Henry Miller Französisch gelernt haben will, in der künstlerisch reichen Zwischenkriegszeit einen Nerv getroffen zu haben.
  Im Zentrum steht die Figur des reichlich unsentimentalen Moravagine, in dessen Namen sich nicht umsonst der „Tod der Vagina“ („mort à vagin“) verbirgt; denn die Aversion gegen weibliche Fruchtbarkeit durchzieht den Roman leitmotivisch als recht spezielle Mordlust. Die Methode: jungen Mädchen den Bauch aufschlitzen. Dieser Triebbefriedigung geht der „Held“ Moravagine mehrfach nach, ohne jemals von Skrupeln geplagt zu sein. Er ist ein kleinwüchsiger Kerl, Abkömmling des ungarischen Königshauses, das ihm verhasst ist und das ihn verbannt, Morphinist und Insasse einer vornehmen Psychiatrie. Als Gattungsbezeichnung wird denn auch „Monsterroman“ angegeben.
  Was darunter zu verstehen sei, dürfte für den Avantgarde-entwöhnten, zumal deutschsprachigen Leser dieser Tage alles andere als klar sein. Glücklicherweise wurde die Entzifferung der Cendrar’schen Monsterästhetik in berufene Hände gelegt: Stefan Zweifel, der renommierte Schweizer Kritiker, ist den Libertins und Amoralisten der französischen Literatur auf rührende Weise treu.
  Die erste deutsche Übersetzung von „Moravagine“ aus dem Jahr 1928 von L. Radermacher hat Stefan Zweifel liebevoll überarbeitet, kommentiert, mit verstreuten, teils bisher unbekannten Schriften ergänzt und mit einem vor Begeisterung sprühenden Nachwort versehen. Schon allein das Nachwort und die kenntnisreichen Texterläuterungen lohnen die Lektüre, schafft Zweifel doch das Kunststück, für Blaise Cendrars’ seltsamen Klassiker so zu werben, als habe der von seiner ursprünglichen Kraft nichts verloren.
  Diese Auffassung muss man nicht teilen, und ich teile sie auch nicht. Mir kommt „Moravagine“ eher wie eine Museumsausstellung vor, in der sich ein heute nicht mehr brauchbarer, mit revolutionären Absolutheitsphantasmen maßlos überladener Überschreitungsfuror auf allerdings interessante Weise besichtigen lässt. „Moravagine“ wäre, so gelesen, eher das Symptom einer explosiven Zeit als ein leuchtendes Meisterwerk des 20. Jahrhunderts. Hier werden Auseinandersetzungen auf dem Rücken der Literatur ausgetragen, unter der sie ganz schön ächzt: die Revolution, der Krieg, die Klinik, der wissenschaftliche Skeptizismus, die Drogen, der Futurismus, die Misogynie, die Mordlust, die Anarchie, der Terror. Und: „der schreibende Mensch“. Bisschen viel für einen nicht mal 300 Seiten zählenden Roman.
  Wie schon der berühmte Patient Otto Gross, der 1908 aus der Zürcher Klinik Burghölzli floh, klettert Moravagine über die Mauer des Internationalen Sanatoriums eines gewissen Doktor Stein. Dort tut Raymond La Science Dienst, ein an seinem Fach zweifelnder Psychiater, der in dem „Kranken“ den „Bruder“ erkennen wird; er ist es, der Moravagine zur Flucht verhilft, mehr noch, der sich seinem Wahnsystem unterwirft. Denn, dies eine zentrale Hypothese des Romans: Die Irren seien die wahren Künstler. Jener Arzt-Aussteiger fungiert dann streckenweise als Erzähler; wenn man das Textkonvolut des Monsterromans überhaupt als Erzählung gelten lässt. Moravagine kommt ebenfalls zu Wort. In dem längsten, dem zweiten Abschnitt „Das Leben von Moravagine, Idiot“ gibt dieser selbst („Größe 1,48 m; besondere Kennzeichen: Ankylose am rechten Knie, Verkürzung 8 cm“) ein Lebensresümee, in dem man Sätze liest wie: „Mit vier Jahren steckte ich die Teppiche in Brand. Der ölige Gestank der verkohlten Wolle versetzte mich in Zuckungen, Verzückung. Herrlich. Ich schlang Zitronen mit ihrer Schale herunter, lutschte Lederfetzen. Auch der Geruch von alten Büchern verdrehte mir den Kopf.“
  Klar, ein Leser. Und Cendrars, der in Moravagine sein Alter Ego schuf, eine Phantasmagorie, die ihm in den Schützengräben Halt bot – Zweifel spricht von einem „dunklen Double“ –, las angeblich einmal pro Jahr Dostojewskis „Der Idiot“, „um die schöne russische Sprache nicht zu vergessen“.
  In St. Petersburg hatte Cendrars eine Lehre als Goldschmied begonnen, als die erste Welle der Revolution ihn mitriss, 1905, und in „Moravagine“ reisen sein Held, dieses Monster-Ich, plus der ergebene psychiatrische Aussteigerfreund ebenfalls nach Russland, nachdem zuvor im Affenzahn Stationen in Frankfurt und Berlin abgehandelt worden waren.
  Von Russland aus geht es dann nach Amerika weiter; vieles davon im Telegrammstil oder, positiver gesagt, als Tatsachenreihung.
  Psychologie, Pathologisierung und Schmerz sind verboten, schließlich gilt die Gesetzlosigkeit als Ideal. Doch zugleich trinkt Cendrars in diesem krypto-paranoiden Selbstporträt ständig vom Geist der damals schwer angesagten Psychoanalyse. Er gibt sich, eine auf Dauer entnervende Paradoxie, als Freudianer und Anti-Freudianer zugleich. Er vermischt Amputation und Kreativität, Sex und Zerstörung, und das Ganze im Ton einer hochtrabenden, oft verdammt monotonen Rechthaberei. Eher ein Anti-Ödipus des Ersten Weltkriegs als ein mitreißender Erzähler. Immerhin steht nicht weniger auf dem Spiel, als die Ordnung der Väter zu zerschlagen, die Welt der Wissenschaft, der Aristokratie und des Großbürgertums.
  Anstelle der alten Autoritäten, so kann man es im Sinne der empathischen Lektüre des Herausgebers vielleicht sagen, rücken die großen Ms, die Antihelden der „Brandstifter der Literatur“. Stefan Zweifel zählt sie auf, diese großen wilden Gesetzlosen, von Minski (bei de Sade), über Maldoror (Lautréamont), Myschkin (Dostojewski) und Moosbrugger (Musil) bis zu Moravagine.
  (Nur ein Nebengedanke: Ob Günter Grass sich in Paris, wo große Teile der „Blechtrommel“ entstanden, in „Moravagine“ von Blaise Cendrars vertieft hat? Schließlich ist Matzerath ebenfalls ein M-Name und der kleinwüchsige Oskar zuerst ein irgendwie irrer Kinderanarcho und zum Schluss in der Psychiatrie.)
  M, das bedeutet weiterhin Morphium, Mord und – Mascha; letztere eine litauische Jüdin, der Moravagine in seiner Revolutionsphase verfällt. Maschas Porträt lasse man sich auf der Zunge zergehen: „Sie war eine grausame, logische, frostige Frau, voller Einfälle, von satanischer Erfindungsgabe und Perversität, wenn es sich darum drehte, ein Ding zu drehen, ein Attentat auszuführen oder die Fallen der Polizei auszuhebeln.“ Moravagines Begleiter Raymond La Science verabscheut sie, und sei es aus Eifersucht, schließlich ist dies die Geschichte einer Männerfreundschaft. 
„Ich schlang Zitronen
mit ihrer Schale herunter,
lutschte Lederfetzen.“
Der Abenteurer, Kriegsfreiwillige und Schriftsteller Blaise Cendrars wurde 1887 in La Chaux-de-Fonds geboren, er starb 1961 in Paris.
Foto: Getty Images
  
  
Blaise Cendrars:
Moravagine. Revidierte Übersetzung von L. Rademacher. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Stefan Zweifel. Die Andere Bibliothek,
Berlin 2014. 431 Seiten,
38 Euro.
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