Christoph Ransmayrs gewaltiger Roman über die Zeit nach dem großen Krieg und die allmähliche Verfinsterung des Blicks.
Moor, ein verwüstetes Kaff im Schatten des Hochgebirges. Zwischen Ruinen, Geröll und Eis begegnen sich drei Menschen: Bering, der »Schreier von Moor«, Ambras, der »Hundekönig« und Lily, die »Brasilianerin« - drei in ihrer Zeit Gefangene, die versuchen, aus dem Labyrinth einer mörderischen Nachkriegswelt zu fliehen.
»Der Friede von Oranienburg« ist der Name für die Jahre und Jahrzehnte nach einem großen Krieg. Aber dieser Name bezeichnet keine Epoche des Wiederaufbaus, sondern eine der Sühne, der Vergeltung und Rache. Nach dem Willen der Sieger sollen die geschlagenen Feinde aus den Ruinen ihrer Städte und Industrien zurückkehren auf die Rübenfelder und Schafweiden eines vergangenen Jahrhunderts. Drei Menschen begegnen sich im Moor, einem verwüsteten Kaff an einem See im Schatten des Hochgebirges. Ambras, der »Hundekönig« und ehemaliger Lagerhäftling, wird Jahre nach seiner Befreiung Verwalter jenes Steinbruchs, in dem er als Gefangener gelitten hat. Verhasst und gefürchtet haust er mit einem Rudel verwilderter Hunde im zerschlissenen Prunk der Villa Flora. Lily, die »Brasilianerin«, die Grenzgängerin zwischen den Besatzungszonen, die vom Frieden an der Küste des fernen Landes träumt, lebt zurückgezogen in den Ruinen eines Strandbades. An manchen Tagen aber steigt sie ins Gebirge zu einem versteckten Waffenlager aus dem Krieg, verwandelt sich dort in eine Scharfschützin und macht Jagd auf ihre Feine. Und Bering, der »Vogelmensch«, der Schmied von Moor: Er verlässt sein Haus, einen wuchernden Eisengarten, um zunächst Fahrer des Hundekönigs zu werden, dann aber dessen bewaffneter, zum Äußeren entschlossener Leibwächter. Doch in diesem zweiten Leben schlägt ihn ein Gebrechen, ein rätselhaftes Leiden am Auge, dessen Namen er in einem Lazarett erfahren soll: »Morbus Kitahara», die allmähliche Verfinsterung des Blicks.
Moor, ein verwüstetes Kaff im Schatten des Hochgebirges. Zwischen Ruinen, Geröll und Eis begegnen sich drei Menschen: Bering, der »Schreier von Moor«, Ambras, der »Hundekönig« und Lily, die »Brasilianerin« - drei in ihrer Zeit Gefangene, die versuchen, aus dem Labyrinth einer mörderischen Nachkriegswelt zu fliehen.
»Der Friede von Oranienburg« ist der Name für die Jahre und Jahrzehnte nach einem großen Krieg. Aber dieser Name bezeichnet keine Epoche des Wiederaufbaus, sondern eine der Sühne, der Vergeltung und Rache. Nach dem Willen der Sieger sollen die geschlagenen Feinde aus den Ruinen ihrer Städte und Industrien zurückkehren auf die Rübenfelder und Schafweiden eines vergangenen Jahrhunderts. Drei Menschen begegnen sich im Moor, einem verwüsteten Kaff an einem See im Schatten des Hochgebirges. Ambras, der »Hundekönig« und ehemaliger Lagerhäftling, wird Jahre nach seiner Befreiung Verwalter jenes Steinbruchs, in dem er als Gefangener gelitten hat. Verhasst und gefürchtet haust er mit einem Rudel verwilderter Hunde im zerschlissenen Prunk der Villa Flora. Lily, die »Brasilianerin«, die Grenzgängerin zwischen den Besatzungszonen, die vom Frieden an der Küste des fernen Landes träumt, lebt zurückgezogen in den Ruinen eines Strandbades. An manchen Tagen aber steigt sie ins Gebirge zu einem versteckten Waffenlager aus dem Krieg, verwandelt sich dort in eine Scharfschützin und macht Jagd auf ihre Feine. Und Bering, der »Vogelmensch«, der Schmied von Moor: Er verlässt sein Haus, einen wuchernden Eisengarten, um zunächst Fahrer des Hundekönigs zu werden, dann aber dessen bewaffneter, zum Äußeren entschlossener Leibwächter. Doch in diesem zweiten Leben schlägt ihn ein Gebrechen, ein rätselhaftes Leiden am Auge, dessen Namen er in einem Lazarett erfahren soll: »Morbus Kitahara», die allmähliche Verfinsterung des Blicks.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.09.1995Der Hundekönig
Christoph Ransmayrs Roman vom Totenreich / Von Gustav Seibt
Fast sieben Jahre hat sich Christoph Ransmayr zurückgezogen, nachdem seine 1988 unter dem Titel "Die letzte Welt" erschienenen Ovid-Metamorphosen ihn mit einem Schlag in die erste Reihe der jüngeren deutschsprachigen Autoren gebracht hatten. Sein Wiederauftreten macht nun fast schockartig bewußt, wieviel in dieser Zeit geschehen ist. Ransmayr hat an ihr nicht teilgenommen, er hat sich weit entfernt, um ein zweites Mal eine eigene Welt zu erfinden. So hat er beispielsweise nicht damit rechnen können, daß im Jahr seiner Rückkehr eine Art kathartischer Erinnerungswelle das Gedächtnis an den Zweiten Weltkrieg sowohl beleben wie vielleicht auch abschließen und fixieren würde. Trotzdem kommt sein neuer Roman "Morbus Kitahara" in einem beunruhigend passenden Augenblick, denn die Geschichte, die er entwirft, zweigt genau bei Kriegsende von der wirklichen ab. Ransmayrs Traumwelt zeigt eine schrecklich schöne Fremde, die aber unserer Welt unmittelbar benachbart ist, weil sie auf deren eigener Vorgeschichte beruht.
Der Grundeinfall ist genial: Ransmayr zeichnet ein Mitteleuropa, in dem der (im Buch anders heißende) Morgenthau-Plan, der vorsah, daß das besiegte Deutschland deindustrialisiert und auf niedriger Kulturstufe abhängig gehalten werden sollte, Wirklichkeit wurde. Hier entsteht also eine Art Frühmittelalter, ein rebarbarisierter Zustand, in dem die Gesellschaft auf agrarische Selbstversorgung, Tauschhandel und die Ausbeutung der Hinterlassenschaften der Vorgängerzivilisation zurückgefallen ist. Inmitten dieser Steppe gibt es durch die amerikanische Besatzungsmacht Inseln jener Moderne, die wir aus unserem Leben kennen. In den Alpenlandschaften aber, in denen Ransmayrs Roman sich zum größten Teil abspielt, haust man abgeschnitten davon in verfallenden Häusern, schlachtet rostiges Gerät aus und hört von Amerika wie von einem anderen Stern.
Die Vorzeit bleibt präsent in der Erinnerung an die Verbrechen, die von der Besatzungsmacht durch Filme, Bußprozessionen, in "Geisthäusern" und Mahnmalen wachgehalten wird. Es ist der Sinn von Ransmayrs Geschichtsutopie, einen Zustand zu entwerfen, in dem der moralische Weltuntergang, den Auschwitz - der Name fällt jedoch nie - bedeutete, auch eine physische Realität wurde. Also kein Wiederaufbau, kein Nachkriegswohlstand, keine Verwestlichung, sondern Steppe, Buße, Armut, ein Schattendasein in jedem Betracht. Der Einfall und die Ausmalung dieser Gegenwelt sind, man kann kein anderes Wort verwenden, ungeheuer.
Die eigentliche Geschichte des Buches verlegt Ransmayr in ein Alpental mit hochsymbolischer Topographie: Der Ort heißt Moor, er liegt an einem See und wird eingeschlossen von einem Gebirge, das "Steinernes Meer" heißt. Dort gibt es einen Steinbruch, der als Lager die Stätte namenloser Greuel war, am See stehen verfallende Kurhotels und Villen. Es ist die typische Ransmayr-Welt, eine Gebirgszone aus Fels und Geröll, Eis, Schnee, Wasser und Nebel, ein Ruinenort, eine fast anorganische, nach Eisen und Rost schmeckende Welt, in der als Schattenwesen Jäger, Sammler und Tauschhändler, marodierende glatzköpfige Horden und die Gestrandeten der großen Katastrophe des Krieges leben. Eine Unterwelt.
Ransmayr hat die imaginäre Topographie seines Romans historisch verankert in einer alternativen Nachkriegsgeschichte, von der ein paar reale Namen auftauchen wie Amerika oder Wien; ihre Daten sind freilich schon erfunden, so ein "Friede von Oranienburg" oder ein Atomschlag gegen Japan, der um 1970 nach einem endlosen pazifischen Krieg angesetzt wird. Nürnberg ist nur noch ein Name in der Steppe, Mitteleuropa ist aufgeteilt in Besatzungszonen. Doch all das bezeichnet nur die Ränder, den fiktiv-historischen Rahmen des Buches. Sein Inneres, seine Handlung in dem präzise ausgemalten Hochgebirgsort, ist vollkommen mythologisch.
Schon vom ersten Moment ihres Auftretens an wirken Ransmayrs Gestalten merkwürdig geisterhaft. Da wird gleich zu Beginn, unterm letzten Geschützfeuer des Krieges, in Moor als Sohn des Schmieds ein Kind geboren, das wie der Erforscher Sibiriens Bering heißt und von den Hühnern unter seiner Wiege als erste eine Vogelsprache lernt. Die zweite Hauptfigur wird von den Bewohnern des Tals der "Hundekönig" genannt, weil er mit einem Rudel reißender Hunde allein in einer Villa haust und von dort aus das Tal tyrannisiert. Dieser Hundekönig, der eigentlich Ambras heißt, ist ein Überlebender des Steinbruchs, den er jetzt im Auftrag der Besatzungsmacht verwaltet. Er allein ist im Besitz von Attributen der Moderne, er fährt ein Auto, hat einen Fernseher und gebietet über Waffen. Bering, der als Sohn des Schmieds mit Motoren und Waffen umgehen kann und daher im Tal als "Schamane" verehrt wird, schmiedet das Auto des Hundekönigs um in die Gestalt einer Metallkrähe und wird sein Leibwächter und Fahrer. Zwischen Ambras und Bering steht das Mädchen Lily, das in Moor als Flüchtling hängengeblieben ist. Ihr Vater war ein Folterer in einem Lager und wurde von Überlebenden erkannt und umgebracht.
Ransmayr hat in diesen Figuren drei Formen des Überlebens typisiert: den Lagerüberlebenden, das Kriegskind, das Kriegsverbrecherkind. Und er hat sie in grausam lieblose Beziehungen untereinander gebracht. Bering wird der Knecht von Ambras, den er bald heimlich haßt, Bering liebt Lily unerwidert, Lily kann weder Ambras noch Bering lieben. Doch all das ist nur Oberfläche. Der Hundekönig, der Vogelmensch und das Mädchen spielen auf Höllen- und Unterweltvorstellungen verschiedener Mythologien an. Ambras ist eine Art Hades oder Ahriman, ein Herr der Unterwelt mit einem Wolfsheer, der Vogelmensch Bering erinnert als Hahn an die Sonne und das Feuer oder, durch seinen Kinderkontakt mit Hühnern, an die glückbringenden Erdhennen des Bauernglaubens. Und Lily ist eine jener Jungfrauen, die es in der Unterwelt auch bleiben müssen. Ransmayr scheint, anders als in seiner "Letzten Welt", keine spezifische Mythologie nachgezeichnet und umgeformt zu haben, sondern aus dem gesamten Fundus germanischer, indischer und volksabergläubischer Vorstellungen geschöpft zu haben. Dem Auslegen und Assoziieren sind hier kaum Grenzen zu setzen.
Entscheidend für das Verständnis ist aber wiederum das Grundthema des Romans, das Leben nach dem zivilisatorischen Tod durch die Massenverbrechen der Nazis. "Solche wie der überleben den Weltuntergang", sagen die Bewohner von Moor über den Hundekönig. Und Moor heißt im Roman einmal einfach nur "das Nichts". Daß es daraus keine Rettung gibt, dafür muß der auch lichtverbundene Vogelmensch Bering einstehen, der an einer Teilerblindung durch Netzhautablösung leidet, jenem "Morbus Kitahara", der dem Roman seinen Titel gab. Den Flecken in seinem Sehfeld entspricht seine moralische Schwäche, die er von seinem Kriegervater ererbt hat: Ihm sitzt die Pistole zu locker, er mordet sinnlos, er kann seiner Herkunft als Kriegskind nicht entrinnen.
Auf solche Unentrinnbarkeit läuft das mythologische Konstrukt des Romans hinaus. Der Mythos nämlich ist hier wie bei jeder artifiziellen modernen Mythologie ganz Konstruktion, ähnlich wie beispielsweise in Wagners "Ring" gehalten durch ein Netz von Querverweisen, Rückerinnerungen und Motiven. Die ungemein überlegte und ingeniöse Konstruktion sichert dem Roman Spannung bis zu den letzten Seiten, eine Spannung, die nicht nur von der Neugier, wie er ausgeht, herrührt, sondern nicht weniger von der Frage, ob er aufgeht. Am Ende wird das Tal evakuiert und als militärisches Manövergelände in menschenlose Natur zurückverwandelt. Die drei Hauptfiguren werden samt dem Gerät des erschöpften Steinbruchs auf die andere Seite der Welt verschifft, nach Brasilien, wo sie wieder einen Steinbruch betreiben sollen. Auch dort aber treffen sie nur auf ihre Todes- und Schattenwelt. Sie enden auf einer "Hundeinsel", Ambras glaubt sich wieder im Lager, Bering mordet von neuem. Es gibt keinen Ausgang aus der Unterwelt. Die Hölle ist überall, in den Geröllwüsten des Gebirges und im wuchernden Dschungel am Äquator. Am Schluß bringen sich die Schatten noch einmal um und verbrennen im Busch.
Der Leser bleibt am Ende staunend und zweifelnd zurück. Man kann nur staunen über die Kunst, mit der Ransmayr seinen Privatmythos historisch einrahmt, phantastisch ermöglicht und konstruktiv ausführt. Man kann aber ebenso zweifeln, ob die Bildersprache heidnischer Unterwelten dem Weltsterben durch Auschwitz gerecht wird. Ransmayrs Buch schließt einen undurchbrechbaren Ring von Trauer, Schmerz und Verzweiflung. Doch zugleich zeigt es eine Welt des Erhabenen, die schön ist. Schön ist sie nicht zuletzt, weil sie als andere Möglichkeit unserer eigenen Welt daherkommt. Nichts ergreifender als die Momente, in denen Dinge, die uns selbstverständlich sind, in dieser Hölle erscheinen. Es gibt einmal in Moor ein Rock-Konzert, in dessen Verlauf Bering und das Mädchen Lily ihre einzige zärtliche Berührung erleben. Das ist vielleicht die schönste Stelle des ganzen Buches.
Es lebt wie schon die "Letzte Welt" vom poetischen Vermögen Ransmayrs, seine Handlung ganz in sinnliche Eindrücke zu verwandeln. Dieses studierte und überkonstruierte Buch vermeidet peinlich jede Abstraktion. Man sieht die Nebel und die aufgerissenen Himmel, die Kare und Felsen; man riecht Öl und Rost der Maschinen; man hört die Patronenhülsen des schießenden Bering nach dem Krach klingend über die Felsen hüpfen. Und doch wirkt der Roman eigentümlich leblos. Die Sprache ist so klassisch und wohlrhythmisiert wie in der "Letzten Welt": Aufzählungen perlen, Parallelismen werden durchgeführt, man meint fast lateinisches Periodisieren und Kadenzieren zu vernehmen.
Daß die Figuren nur Schatten sind, Untote, kann man nicht tadeln bei einem Roman, der eine Unterwelt entwirft. Freilich trauern die Schatten in Dantes "Göttlicher Komödie" darüber, daß sie nur Schatten sind, und sprechen doch wie Seelen. Ransmayrs Gestalten sind Zombies, denen die Seelen abgetötet wurden und die auf die erinnerten Schrecken nicht mehr reagieren können. Zugleich sind sie mythologische Merkmalsträger, wie Bering, der sich eine Stirnwunde beibringen muß, um wie sein Vater ein Kainsmal zu tragen.
So hat Ransmayr mit seinem Roman auf den größten Schrecken mit höchster Kunstfertigkeit geantwortet. Sein Buch ist meisterhaft gemacht. Doch ist es an dem Tod erstarrt, dem es gerecht werden wollte.
Christoph Ransmayr: "Morbus Kitahara". Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1995. 448 Seiten, geb., 44,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Christoph Ransmayrs Roman vom Totenreich / Von Gustav Seibt
Fast sieben Jahre hat sich Christoph Ransmayr zurückgezogen, nachdem seine 1988 unter dem Titel "Die letzte Welt" erschienenen Ovid-Metamorphosen ihn mit einem Schlag in die erste Reihe der jüngeren deutschsprachigen Autoren gebracht hatten. Sein Wiederauftreten macht nun fast schockartig bewußt, wieviel in dieser Zeit geschehen ist. Ransmayr hat an ihr nicht teilgenommen, er hat sich weit entfernt, um ein zweites Mal eine eigene Welt zu erfinden. So hat er beispielsweise nicht damit rechnen können, daß im Jahr seiner Rückkehr eine Art kathartischer Erinnerungswelle das Gedächtnis an den Zweiten Weltkrieg sowohl beleben wie vielleicht auch abschließen und fixieren würde. Trotzdem kommt sein neuer Roman "Morbus Kitahara" in einem beunruhigend passenden Augenblick, denn die Geschichte, die er entwirft, zweigt genau bei Kriegsende von der wirklichen ab. Ransmayrs Traumwelt zeigt eine schrecklich schöne Fremde, die aber unserer Welt unmittelbar benachbart ist, weil sie auf deren eigener Vorgeschichte beruht.
Der Grundeinfall ist genial: Ransmayr zeichnet ein Mitteleuropa, in dem der (im Buch anders heißende) Morgenthau-Plan, der vorsah, daß das besiegte Deutschland deindustrialisiert und auf niedriger Kulturstufe abhängig gehalten werden sollte, Wirklichkeit wurde. Hier entsteht also eine Art Frühmittelalter, ein rebarbarisierter Zustand, in dem die Gesellschaft auf agrarische Selbstversorgung, Tauschhandel und die Ausbeutung der Hinterlassenschaften der Vorgängerzivilisation zurückgefallen ist. Inmitten dieser Steppe gibt es durch die amerikanische Besatzungsmacht Inseln jener Moderne, die wir aus unserem Leben kennen. In den Alpenlandschaften aber, in denen Ransmayrs Roman sich zum größten Teil abspielt, haust man abgeschnitten davon in verfallenden Häusern, schlachtet rostiges Gerät aus und hört von Amerika wie von einem anderen Stern.
Die Vorzeit bleibt präsent in der Erinnerung an die Verbrechen, die von der Besatzungsmacht durch Filme, Bußprozessionen, in "Geisthäusern" und Mahnmalen wachgehalten wird. Es ist der Sinn von Ransmayrs Geschichtsutopie, einen Zustand zu entwerfen, in dem der moralische Weltuntergang, den Auschwitz - der Name fällt jedoch nie - bedeutete, auch eine physische Realität wurde. Also kein Wiederaufbau, kein Nachkriegswohlstand, keine Verwestlichung, sondern Steppe, Buße, Armut, ein Schattendasein in jedem Betracht. Der Einfall und die Ausmalung dieser Gegenwelt sind, man kann kein anderes Wort verwenden, ungeheuer.
Die eigentliche Geschichte des Buches verlegt Ransmayr in ein Alpental mit hochsymbolischer Topographie: Der Ort heißt Moor, er liegt an einem See und wird eingeschlossen von einem Gebirge, das "Steinernes Meer" heißt. Dort gibt es einen Steinbruch, der als Lager die Stätte namenloser Greuel war, am See stehen verfallende Kurhotels und Villen. Es ist die typische Ransmayr-Welt, eine Gebirgszone aus Fels und Geröll, Eis, Schnee, Wasser und Nebel, ein Ruinenort, eine fast anorganische, nach Eisen und Rost schmeckende Welt, in der als Schattenwesen Jäger, Sammler und Tauschhändler, marodierende glatzköpfige Horden und die Gestrandeten der großen Katastrophe des Krieges leben. Eine Unterwelt.
Ransmayr hat die imaginäre Topographie seines Romans historisch verankert in einer alternativen Nachkriegsgeschichte, von der ein paar reale Namen auftauchen wie Amerika oder Wien; ihre Daten sind freilich schon erfunden, so ein "Friede von Oranienburg" oder ein Atomschlag gegen Japan, der um 1970 nach einem endlosen pazifischen Krieg angesetzt wird. Nürnberg ist nur noch ein Name in der Steppe, Mitteleuropa ist aufgeteilt in Besatzungszonen. Doch all das bezeichnet nur die Ränder, den fiktiv-historischen Rahmen des Buches. Sein Inneres, seine Handlung in dem präzise ausgemalten Hochgebirgsort, ist vollkommen mythologisch.
Schon vom ersten Moment ihres Auftretens an wirken Ransmayrs Gestalten merkwürdig geisterhaft. Da wird gleich zu Beginn, unterm letzten Geschützfeuer des Krieges, in Moor als Sohn des Schmieds ein Kind geboren, das wie der Erforscher Sibiriens Bering heißt und von den Hühnern unter seiner Wiege als erste eine Vogelsprache lernt. Die zweite Hauptfigur wird von den Bewohnern des Tals der "Hundekönig" genannt, weil er mit einem Rudel reißender Hunde allein in einer Villa haust und von dort aus das Tal tyrannisiert. Dieser Hundekönig, der eigentlich Ambras heißt, ist ein Überlebender des Steinbruchs, den er jetzt im Auftrag der Besatzungsmacht verwaltet. Er allein ist im Besitz von Attributen der Moderne, er fährt ein Auto, hat einen Fernseher und gebietet über Waffen. Bering, der als Sohn des Schmieds mit Motoren und Waffen umgehen kann und daher im Tal als "Schamane" verehrt wird, schmiedet das Auto des Hundekönigs um in die Gestalt einer Metallkrähe und wird sein Leibwächter und Fahrer. Zwischen Ambras und Bering steht das Mädchen Lily, das in Moor als Flüchtling hängengeblieben ist. Ihr Vater war ein Folterer in einem Lager und wurde von Überlebenden erkannt und umgebracht.
Ransmayr hat in diesen Figuren drei Formen des Überlebens typisiert: den Lagerüberlebenden, das Kriegskind, das Kriegsverbrecherkind. Und er hat sie in grausam lieblose Beziehungen untereinander gebracht. Bering wird der Knecht von Ambras, den er bald heimlich haßt, Bering liebt Lily unerwidert, Lily kann weder Ambras noch Bering lieben. Doch all das ist nur Oberfläche. Der Hundekönig, der Vogelmensch und das Mädchen spielen auf Höllen- und Unterweltvorstellungen verschiedener Mythologien an. Ambras ist eine Art Hades oder Ahriman, ein Herr der Unterwelt mit einem Wolfsheer, der Vogelmensch Bering erinnert als Hahn an die Sonne und das Feuer oder, durch seinen Kinderkontakt mit Hühnern, an die glückbringenden Erdhennen des Bauernglaubens. Und Lily ist eine jener Jungfrauen, die es in der Unterwelt auch bleiben müssen. Ransmayr scheint, anders als in seiner "Letzten Welt", keine spezifische Mythologie nachgezeichnet und umgeformt zu haben, sondern aus dem gesamten Fundus germanischer, indischer und volksabergläubischer Vorstellungen geschöpft zu haben. Dem Auslegen und Assoziieren sind hier kaum Grenzen zu setzen.
Entscheidend für das Verständnis ist aber wiederum das Grundthema des Romans, das Leben nach dem zivilisatorischen Tod durch die Massenverbrechen der Nazis. "Solche wie der überleben den Weltuntergang", sagen die Bewohner von Moor über den Hundekönig. Und Moor heißt im Roman einmal einfach nur "das Nichts". Daß es daraus keine Rettung gibt, dafür muß der auch lichtverbundene Vogelmensch Bering einstehen, der an einer Teilerblindung durch Netzhautablösung leidet, jenem "Morbus Kitahara", der dem Roman seinen Titel gab. Den Flecken in seinem Sehfeld entspricht seine moralische Schwäche, die er von seinem Kriegervater ererbt hat: Ihm sitzt die Pistole zu locker, er mordet sinnlos, er kann seiner Herkunft als Kriegskind nicht entrinnen.
Auf solche Unentrinnbarkeit läuft das mythologische Konstrukt des Romans hinaus. Der Mythos nämlich ist hier wie bei jeder artifiziellen modernen Mythologie ganz Konstruktion, ähnlich wie beispielsweise in Wagners "Ring" gehalten durch ein Netz von Querverweisen, Rückerinnerungen und Motiven. Die ungemein überlegte und ingeniöse Konstruktion sichert dem Roman Spannung bis zu den letzten Seiten, eine Spannung, die nicht nur von der Neugier, wie er ausgeht, herrührt, sondern nicht weniger von der Frage, ob er aufgeht. Am Ende wird das Tal evakuiert und als militärisches Manövergelände in menschenlose Natur zurückverwandelt. Die drei Hauptfiguren werden samt dem Gerät des erschöpften Steinbruchs auf die andere Seite der Welt verschifft, nach Brasilien, wo sie wieder einen Steinbruch betreiben sollen. Auch dort aber treffen sie nur auf ihre Todes- und Schattenwelt. Sie enden auf einer "Hundeinsel", Ambras glaubt sich wieder im Lager, Bering mordet von neuem. Es gibt keinen Ausgang aus der Unterwelt. Die Hölle ist überall, in den Geröllwüsten des Gebirges und im wuchernden Dschungel am Äquator. Am Schluß bringen sich die Schatten noch einmal um und verbrennen im Busch.
Der Leser bleibt am Ende staunend und zweifelnd zurück. Man kann nur staunen über die Kunst, mit der Ransmayr seinen Privatmythos historisch einrahmt, phantastisch ermöglicht und konstruktiv ausführt. Man kann aber ebenso zweifeln, ob die Bildersprache heidnischer Unterwelten dem Weltsterben durch Auschwitz gerecht wird. Ransmayrs Buch schließt einen undurchbrechbaren Ring von Trauer, Schmerz und Verzweiflung. Doch zugleich zeigt es eine Welt des Erhabenen, die schön ist. Schön ist sie nicht zuletzt, weil sie als andere Möglichkeit unserer eigenen Welt daherkommt. Nichts ergreifender als die Momente, in denen Dinge, die uns selbstverständlich sind, in dieser Hölle erscheinen. Es gibt einmal in Moor ein Rock-Konzert, in dessen Verlauf Bering und das Mädchen Lily ihre einzige zärtliche Berührung erleben. Das ist vielleicht die schönste Stelle des ganzen Buches.
Es lebt wie schon die "Letzte Welt" vom poetischen Vermögen Ransmayrs, seine Handlung ganz in sinnliche Eindrücke zu verwandeln. Dieses studierte und überkonstruierte Buch vermeidet peinlich jede Abstraktion. Man sieht die Nebel und die aufgerissenen Himmel, die Kare und Felsen; man riecht Öl und Rost der Maschinen; man hört die Patronenhülsen des schießenden Bering nach dem Krach klingend über die Felsen hüpfen. Und doch wirkt der Roman eigentümlich leblos. Die Sprache ist so klassisch und wohlrhythmisiert wie in der "Letzten Welt": Aufzählungen perlen, Parallelismen werden durchgeführt, man meint fast lateinisches Periodisieren und Kadenzieren zu vernehmen.
Daß die Figuren nur Schatten sind, Untote, kann man nicht tadeln bei einem Roman, der eine Unterwelt entwirft. Freilich trauern die Schatten in Dantes "Göttlicher Komödie" darüber, daß sie nur Schatten sind, und sprechen doch wie Seelen. Ransmayrs Gestalten sind Zombies, denen die Seelen abgetötet wurden und die auf die erinnerten Schrecken nicht mehr reagieren können. Zugleich sind sie mythologische Merkmalsträger, wie Bering, der sich eine Stirnwunde beibringen muß, um wie sein Vater ein Kainsmal zu tragen.
So hat Ransmayr mit seinem Roman auf den größten Schrecken mit höchster Kunstfertigkeit geantwortet. Sein Buch ist meisterhaft gemacht. Doch ist es an dem Tod erstarrt, dem es gerecht werden wollte.
Christoph Ransmayr: "Morbus Kitahara". Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1995. 448 Seiten, geb., 44,- DM.
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