Es sollte das perfekte Verbrechen sein, und es wurde ein Mord, der ein ganzes Land erschütterte. Schweden in seinen «Wunderjahren», als alles sicher und geregelt schien, die Zukunft verheißungsvoll, blickte in einen Abgrund. Im Juli 1965 wird eine junge Frau tot in ihrem Elternhaus an der idyllischen Sonntagsstraße in Stockholm gefunden. Die Ermittler stehen vor einem Rätsel. Was genau ist geschehen? Warum musste sie sterben? Und vor allem: Wer ist der Mörder? In der größten Polizeiaktion der Geschichte Schwedens gelingt es, einen jungen, Deutsch sprechenden Mann zu verhaften, der nach Schweden gekommen ist, um ein «arisches» Mädchen zu finden. Psychisch krank, aber hochintelligent, sucht er unter blonden und blauäugigen Frauen seine Opfer, die er nach einem genauen Plan perfekt töten will ...
Peter Englund, Historiker und Erzähler, versteht es wie kaum ein anderer, an einem Einzelfall eine ganze Epoche, ihre Brüche und Spannungen hinter den Fassaden lebendig werden zu lassen.Wie Truman Capote in «Kaltblütig» porträtiert er in einem wahren Verbrechen die moderne westliche Gesellschaft mitsamt ihren Gespenstern aus der Vergangenheit.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Peter Englund, Historiker und Erzähler, versteht es wie kaum ein anderer, an einem Einzelfall eine ganze Epoche, ihre Brüche und Spannungen hinter den Fassaden lebendig werden zu lassen.Wie Truman Capote in «Kaltblütig» porträtiert er in einem wahren Verbrechen die moderne westliche Gesellschaft mitsamt ihren Gespenstern aus der Vergangenheit.
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Ein überzeugendes Wechselspiel zwischen kriminalistischem Detail und gesellschaftlichem Panorama. Hannes Hintermeier Frankfurter Allgemeine Zeitung 20200904
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.09.2020Grässliche Bescherung im Wohlfahrtsland
Peter Englund rekonstruiert den Mord an einer jungen Frau, der ganz Schweden in Bann hielt
Ihr Name war Eva Marianne Granell, aber alle ihre Freunde nannten sie Kickan. Bis heute erzeugt dieser Kosename ferne Echos im kollektiven Gedächtnis der Schweden. Die junge Frau wurde Opfer eines Gewaltverbrechens, das mehr als einen Sommer lang ein ganzes Land in seinen Bann schlug: der Chloroform-Mord in der Sonntagsstraße. Die liegt in Hökarängen, einem im Süden gelegenen Vorort Stockholms, und führt durch die Mustersiedlung Skönstaholm. Erbaut in den frühen fünfziger Jahren nach den Prinzipien des Volksheims, sind die modernen, in die Landschaft eingepassten Reihenhäuser eigentlich eine soziale Etage zu hoch für die Umgebung. Als die Granells dort einzogen, hatten sie es nicht leicht, akzeptiert zu werden.
In der Hausnummer Söndagsvägen 88 wird am 27. Juli 1965 die nackte Leiche der achtzehnjährigen Kickan im Bett des Elternschlafzimmers gefunden. Sie war soeben von einem Spanienurlaub mit ihrem Verlobten Jan Olov Svenson zurückgekommen. Ihre Eltern waren noch verreist. Kickan liegt ordentlich im Bett, es gibt keine Spuren eines Gewaltverbrechens, kein Blut, keine Verletzungen, keine Unordnung. Die Wohnung ist penibel sauber. Die Tote hatte kurz vor ihrem Ableben Geschlechtsverkehr. Alles deutet für die Beamten auf einen Selbstmord hin. Auf dem Nachttisch liegen Schlaftabletten. Irritierend: Das Telefonkabel ist durchgeschnitten. Auf dem Laken ein gelbbrauner Fleck.
"Hier lag offenbar wieder einmal ein Mensch, der sich das Leben genommen hatte. Schweden: Wohlfahrtsland, Glücksland, Unglücksland, Selbstmordland", umreißt der Schriftsteller Peter Englund die politische Dimension jener Jahre, da das schwedische Volksheim noch funktionierte, die Zeichen der Zeit aber schon die Hinkehr zu mehr Individualismus ankündigten. Englund war Reporter im Balkan-Krieg, einige Jahre Ständiger Sekretär der Schwedischen Akademie, zuletzt trat er mit dem Epos "Schönheit und Schrecken" hervor (F.A.Z. vom 12. März 2012), das den Ersten Weltkrieg mittels Narration von Einzelschicksalen lebendig werden lässt. So auch das Verfahren in der vorliegenden historischen Reportage "at large".
Aus dem Routineverfahren wird die größte Polizeiaktion in der Geschichte des Landes. Es mangelt eklatant an brauchbaren Verdächtigen. Ein Fall für den besten Ermittler, für Gösta William Larson. Langgedienten Krimilesern ist er bekannt - als Kommissar Beck aus den Krimis des Schriftsteller-Duos Maj Sjöwall und Per Wahlöö, deren Debüt "Roseanna" just in jenem Jahr 1965 erschien. Beck trägt eindeutig Charakterzüge von Larson, und Englund kommt nicht umhin, ihm Literaturfähigkeit zu attestieren, gerade weil er beinahe einem Klischee entsprach: "Der erfahrene und nachdenkliche Kommissar, kulturell interessiert und mit exzentrischen Charakterzügen, erfolgreich, doch mittlerweile etwas müde, geradezu desillusioniert, und von seinen eigenen Dämonen gepeinigt." Sjöwall und Wahlöö haben sich beim Kickan-Fall bedient, den Englund nun fünfundfünfzig Jahre später rekonstruiert: So fügen sich reales Verbrechen, fiktive und nichtfiktive Bearbeitung zu einem Gesamtbild, das am Ende noch immer Lücken aufweist.
Willensstark, tatkräftig, freundlich, hübsch, blond - was sagen diese Zuschreibungen über die Ermordete? Akademische Ambitionen hatte sie zum Leidwesen ihres Vaters, eines Buchhalters, der als Verkäufer bei einem Herrenausstatter arbeitete, keine. Eine renommierte Schule für Sekretärinnen wollte sie besuchen; verlobt war sie mit einem Möbeltischler, der nicht den Aufsteigerphantasien der Eltern genügte. Dass dieser Svenson einer der ersten Tatverdächtigen wird, versteht sich.
Schweden ist in jenen Jahren auf der Gewinnerstraße, auch die Medienlandschaft ist gut entwickelt. Fernsehgeräte sind Standard in vielen Haushalten, die Zeitungen berichten flächendeckend über jeden Ermittlungsschritt. Da Englund Zugang zum Polizeiarchiv bekam, kann er materialmäßig aus dem Vollen schöpfen, auch wenn viele Zeitzeugen schon tot sind. In einem an sich überzeugenden Wechselspiel zwischen kriminalistischem Detail und gesellschaftlichem Panorama treibt der Autor die Geschichte auch dann voran, wenn die Ermittlungen stocken - und er selbst einige der ausgelegten Erzählfäden einfach links liegenlässt.
Nach diversen Rückschlägen wird ein Mann gefasst, der monströse Gewaltphantasien und planvolles Vorgehen hinter einer bürgerlichen Fassade zu verbergen versteht. Der 1940 in Wien geborene österreichische Staatsbürger Friedrich Wagner spricht gut Schwedisch, jobbt in der Gastronomie, bevor er bei der Post eine Anstellung bekommt. Er steht auf blonde Frauen, hat Vergewaltigungs- und Mordphantasien - und er führt akribisch Buch über seine Befindlichkeit und die Durchführung kommender Untaten: "Jetzt gibt es für den Rest deines Lebens nur noch eine große Aufgabe, die natürliche Gerechtigkeit wiederherzustellen. Vielleicht tötest du eine, vielleicht hundert, womöglich hunderttausend Personen."
Ein Einzelkind, von der Welt abgeschirmt durch eine überbehütende Mutter, der Vater ein gläubiger Nationalsozialist. Das andere Geschlecht, Sexualität gar - unerreichbar. Das Gymnasium muss Wagner vor der Matura verlassen, auch weil er dort mit einer geladenen Waffe erschienen war. Schweden ist eine Verheißung für ihn, die florierende Porno-Industrie hat dem Land international den Ruf der Freizügigkeit verschafft. Und überall blonde Frauen. Wagner wird in einem langwierigen Indizienprozess nicht wegen Mordes verurteilt; er kommt stattdessen in psychiatrische Zwangsbehandlung. Aus der ihm die Flucht gelingt; erst in Dänemark, kurz vor der deutschen Grenze, wird er festgenommen.
1968 wird Wagner ausgewiesen. Die Ehe der Eltern Kickans war da schon zerbrochen. "Friedrich Wagner starb 2010 in Wien" - mit diesem Satz tut sich die größte Leerstelle des Buches auf, weil sich Peter Englund nicht mehr für das weitere Schicksal Wagners interessiert. Was in den ihm bleibenden zweiundvierzig Lebensjahren mit Friedrich Wagner geschah, hätte man nicht "gern" erfahren, aber gewusst. Denn offene Fragen bleiben in diesem Fall ohnehin genug.
HANNES HINTERMEIER
Peter Englund:
"Mord in der Sonntagsstraße". Geschichte eines Verbrechens.
Aus dem Schwedischen von Maike Barth. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2020. 335 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Peter Englund rekonstruiert den Mord an einer jungen Frau, der ganz Schweden in Bann hielt
Ihr Name war Eva Marianne Granell, aber alle ihre Freunde nannten sie Kickan. Bis heute erzeugt dieser Kosename ferne Echos im kollektiven Gedächtnis der Schweden. Die junge Frau wurde Opfer eines Gewaltverbrechens, das mehr als einen Sommer lang ein ganzes Land in seinen Bann schlug: der Chloroform-Mord in der Sonntagsstraße. Die liegt in Hökarängen, einem im Süden gelegenen Vorort Stockholms, und führt durch die Mustersiedlung Skönstaholm. Erbaut in den frühen fünfziger Jahren nach den Prinzipien des Volksheims, sind die modernen, in die Landschaft eingepassten Reihenhäuser eigentlich eine soziale Etage zu hoch für die Umgebung. Als die Granells dort einzogen, hatten sie es nicht leicht, akzeptiert zu werden.
In der Hausnummer Söndagsvägen 88 wird am 27. Juli 1965 die nackte Leiche der achtzehnjährigen Kickan im Bett des Elternschlafzimmers gefunden. Sie war soeben von einem Spanienurlaub mit ihrem Verlobten Jan Olov Svenson zurückgekommen. Ihre Eltern waren noch verreist. Kickan liegt ordentlich im Bett, es gibt keine Spuren eines Gewaltverbrechens, kein Blut, keine Verletzungen, keine Unordnung. Die Wohnung ist penibel sauber. Die Tote hatte kurz vor ihrem Ableben Geschlechtsverkehr. Alles deutet für die Beamten auf einen Selbstmord hin. Auf dem Nachttisch liegen Schlaftabletten. Irritierend: Das Telefonkabel ist durchgeschnitten. Auf dem Laken ein gelbbrauner Fleck.
"Hier lag offenbar wieder einmal ein Mensch, der sich das Leben genommen hatte. Schweden: Wohlfahrtsland, Glücksland, Unglücksland, Selbstmordland", umreißt der Schriftsteller Peter Englund die politische Dimension jener Jahre, da das schwedische Volksheim noch funktionierte, die Zeichen der Zeit aber schon die Hinkehr zu mehr Individualismus ankündigten. Englund war Reporter im Balkan-Krieg, einige Jahre Ständiger Sekretär der Schwedischen Akademie, zuletzt trat er mit dem Epos "Schönheit und Schrecken" hervor (F.A.Z. vom 12. März 2012), das den Ersten Weltkrieg mittels Narration von Einzelschicksalen lebendig werden lässt. So auch das Verfahren in der vorliegenden historischen Reportage "at large".
Aus dem Routineverfahren wird die größte Polizeiaktion in der Geschichte des Landes. Es mangelt eklatant an brauchbaren Verdächtigen. Ein Fall für den besten Ermittler, für Gösta William Larson. Langgedienten Krimilesern ist er bekannt - als Kommissar Beck aus den Krimis des Schriftsteller-Duos Maj Sjöwall und Per Wahlöö, deren Debüt "Roseanna" just in jenem Jahr 1965 erschien. Beck trägt eindeutig Charakterzüge von Larson, und Englund kommt nicht umhin, ihm Literaturfähigkeit zu attestieren, gerade weil er beinahe einem Klischee entsprach: "Der erfahrene und nachdenkliche Kommissar, kulturell interessiert und mit exzentrischen Charakterzügen, erfolgreich, doch mittlerweile etwas müde, geradezu desillusioniert, und von seinen eigenen Dämonen gepeinigt." Sjöwall und Wahlöö haben sich beim Kickan-Fall bedient, den Englund nun fünfundfünfzig Jahre später rekonstruiert: So fügen sich reales Verbrechen, fiktive und nichtfiktive Bearbeitung zu einem Gesamtbild, das am Ende noch immer Lücken aufweist.
Willensstark, tatkräftig, freundlich, hübsch, blond - was sagen diese Zuschreibungen über die Ermordete? Akademische Ambitionen hatte sie zum Leidwesen ihres Vaters, eines Buchhalters, der als Verkäufer bei einem Herrenausstatter arbeitete, keine. Eine renommierte Schule für Sekretärinnen wollte sie besuchen; verlobt war sie mit einem Möbeltischler, der nicht den Aufsteigerphantasien der Eltern genügte. Dass dieser Svenson einer der ersten Tatverdächtigen wird, versteht sich.
Schweden ist in jenen Jahren auf der Gewinnerstraße, auch die Medienlandschaft ist gut entwickelt. Fernsehgeräte sind Standard in vielen Haushalten, die Zeitungen berichten flächendeckend über jeden Ermittlungsschritt. Da Englund Zugang zum Polizeiarchiv bekam, kann er materialmäßig aus dem Vollen schöpfen, auch wenn viele Zeitzeugen schon tot sind. In einem an sich überzeugenden Wechselspiel zwischen kriminalistischem Detail und gesellschaftlichem Panorama treibt der Autor die Geschichte auch dann voran, wenn die Ermittlungen stocken - und er selbst einige der ausgelegten Erzählfäden einfach links liegenlässt.
Nach diversen Rückschlägen wird ein Mann gefasst, der monströse Gewaltphantasien und planvolles Vorgehen hinter einer bürgerlichen Fassade zu verbergen versteht. Der 1940 in Wien geborene österreichische Staatsbürger Friedrich Wagner spricht gut Schwedisch, jobbt in der Gastronomie, bevor er bei der Post eine Anstellung bekommt. Er steht auf blonde Frauen, hat Vergewaltigungs- und Mordphantasien - und er führt akribisch Buch über seine Befindlichkeit und die Durchführung kommender Untaten: "Jetzt gibt es für den Rest deines Lebens nur noch eine große Aufgabe, die natürliche Gerechtigkeit wiederherzustellen. Vielleicht tötest du eine, vielleicht hundert, womöglich hunderttausend Personen."
Ein Einzelkind, von der Welt abgeschirmt durch eine überbehütende Mutter, der Vater ein gläubiger Nationalsozialist. Das andere Geschlecht, Sexualität gar - unerreichbar. Das Gymnasium muss Wagner vor der Matura verlassen, auch weil er dort mit einer geladenen Waffe erschienen war. Schweden ist eine Verheißung für ihn, die florierende Porno-Industrie hat dem Land international den Ruf der Freizügigkeit verschafft. Und überall blonde Frauen. Wagner wird in einem langwierigen Indizienprozess nicht wegen Mordes verurteilt; er kommt stattdessen in psychiatrische Zwangsbehandlung. Aus der ihm die Flucht gelingt; erst in Dänemark, kurz vor der deutschen Grenze, wird er festgenommen.
1968 wird Wagner ausgewiesen. Die Ehe der Eltern Kickans war da schon zerbrochen. "Friedrich Wagner starb 2010 in Wien" - mit diesem Satz tut sich die größte Leerstelle des Buches auf, weil sich Peter Englund nicht mehr für das weitere Schicksal Wagners interessiert. Was in den ihm bleibenden zweiundvierzig Lebensjahren mit Friedrich Wagner geschah, hätte man nicht "gern" erfahren, aber gewusst. Denn offene Fragen bleiben in diesem Fall ohnehin genug.
HANNES HINTERMEIER
Peter Englund:
"Mord in der Sonntagsstraße". Geschichte eines Verbrechens.
Aus dem Schwedischen von Maike Barth. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2020. 335 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Hannes Hintermeier geht durstig aus der Lektüre von Peter Englunds Buch über den schwedischen Jahrhundertkriminalfall Kickan Granell hervor. Dass der Autor über die letzten Lebensjahre des Täters nicht informiert, scheint ihm bei all den "Leerstellen" die der Fall ohnehin aufweist, einfach zu viel. Wie Englund anhand von umfangreichen Archivrecherchen nicht nur den rätselhaften Mordfall und seine Aufklärung und mediale wie fiktive Ausschlachtung nachvollzieht, sondern auch die politische Dimension Schwedens Mitte der 1960er Jahre erfasst und alles im Stil einer historischen Reportage verarbeitet, gefällt Hintermeier ansonsten durchaus gut.
© Perlentaucher Medien GmbH
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