Ein Mord ist geschehen. Aber das Opfer ist nur eine Prostituierte. Wen interessiert das schon! Der vom Dienst suspendierte Polizist Adhirath gibt sich nicht mit einfachen Lösungen zufrieden. Und das, obwohl er genug Probleme hat: der häusliche Frieden ist von Armut ebenso bedroht wie von den ständig nörgelnden Eltern, die nicht damit zurechtkommen, dass ihre Schwiegertochter au seiner niedrigen Kaste stammt und erfolgreich berufstätig ist. Zu allem Überfluss muss Adhirath mit einem Disziplinarverfahren rechnen, den er hat die Dienstvorschriften übertreten, um einem Untergebenen zu helfen. Adhirath ermittelt auf eigene Faust und mit eigenen Methoden. Ob am Schluss die Schuldigen gefasst und bestraft werden? Oder erweisen sich soziale Faktoren starker als Beweismittel?
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Schnörkellos, nämlich mit der nüchternen Beschreibung des Fundes einer zerstückelten Frauenleiche, setzt Anjali Deshpandes Krimi ein, so Rezensentin Maria Wiesner. Auch die vom Polizisten Adhirath geleiteten Ermittlungen verlaufen laut Rezensentin in den klassischen Bahnen des Genres. Nicht um pointierte Formulierungen geht es der Autorin, erklärt Wiesner, sondern um die soziologische Dimension der Erzählung, die auf Themen wie Korruption und das Kastensystem verweist. Besonders hebt die Rezensentin die Frau des Polizisten, Puschpa hervor, die dank sprechender Details interessanter gezeichnet sei als die Hauptfigur. Man merkt dem Buch Deshpandes Hintergrund als Journalistin an, resümiert Wiesner, die das Buch insgesamt mit Gewinn liest.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.09.2023Grausames Indien
Anjali Deshpande seziert die Fallstricke des Kastensystems
Je schrecklicher eine Tat ist, desto nüchterner muss man darüber schreiben. Diesem Motto scheint sich die indische Schriftstellerin Anjali Deshpande schon mit dem Titel ihres Kriminalromans "Mord" verschrieben zu haben. Ebenso sachlich beginnt auch der Text, denn der Fall, um den es hier geht, ist so grausam wie alltäglich: Eine junge Frau ist auf dem Landgut eines reichen Herrn außerhalb Neu Delhis umgebracht worden. Ihr Körper wurde verstümmelt, von den Bewohnern des nächsten Dorfes will niemand etwas gewusst oder gesehen haben, man deutet der Polizei gegenüber nur an, dass die Frau eine Prostituierte gewesen sei.
Der Polizist Adhirath, der eigentlich vom Dienst suspendiert ist, verbeißt sich in den Fall. Mag es daran liegen, dass er nach einem Gespräch mit der Mutter der Toten Mitleid empfindet, oder auch nur daran, dass er in der Aufklärungsarbeit eine gute Gelegenheit wittert, seinen Vorgesetzten zu zeigen, was in ihm steckt, während ein Disziplinarverfahren über seinem Kopf schwebt. Er nimmt jedenfalls in Zivil die Fährte auf und stellt schnell fest, dass die Leute aus dem Dorf viel mehr wissen, als sie gegenüber den uniformierten Beamten zugegeben haben.
Deshpande erzählt von dieser Arbeit ganz nüchtern, lässt Adhirath eine Spur nach der anderen aufnehmen, Zeugen befragen, mit dem Motorrad durch die Gegend fahren - klassische Ermittlungsarbeit mit klassischer Erzählstruktur. Der Autorin geht es nicht primär um ausgefeilten Stil, sondern darum, den Inhalt möglichst effektiv, also einprägsam, zu präsentieren. Was sie hier vor allem zeigt, sind die gesellschaftlichen Zustände, etwa die Korruption, wenn zum Beispiel ein Pathologe über die Wunden der Toten doziert, aber zugibt, diese Untersuchung nur gegen Zahlung von Geld und Schnaps vorzunehmen.
Oder wenn der Kellner in einem teuren Restaurant, in dem sich Adhirath mit einem Polizeikollegen trifft, es ablehnt, bei den beiden zu kassieren, um die Polizeikräfte für sich einzunehmen. Adhirath kämpft darum, in einem System, in dem jeder nur an sich selbst denkt, seine Moral zu behalten, "das Richtige zu tun". Doch genau dadurch hat er sich die Suspendierung erst eingehandelt.
Anhand der Familiensituation ihres Protagonisten wirft die Autorin Licht auf einen weiteren Missstand der indischen Gesellschaft: das Kastensystem. Adhiraths Ehefrau Puschpa, die sich im Polizeidienst nach oben gearbeitet hat, entstammt der Kaste der Dalit, der Unberührbaren. Deren Diskriminierung verbietet die indische Verfassung zwar, doch die Liste der Massaker und Gewaltakte gegen sie ist lang und reicht bis in die Gegenwart. Puschpa muss sich die Beschimpfungen ihrer Schwiegereltern gefallen lassen, mit denen sie unter einem Dach lebt. Sie muss gleichzeitig neben ihrem Vollzeitjob, der sie während der Suspendierung ihres Ehemanns zur Alleinverdienerin macht, den Haushalt organisieren und sich um die Erziehung des Sohns kümmern.
Wie hart das sein kann, beschreibt Deshpande so lakonisch wie alles andere in ihrem Roman: "Puschpa sprach im unteren Zimmer normalerweise kaum. Wenn sie nicht gerade einen Gast hatten, redeten nur ihre Küchenutensilien. Daran, wie die Pfanne sich vom Gas erhob, wie der Kochlöffel sich im Topf bewegte, konnte man ihre Stimmung ablesen." Durch solche feinen Beobachtungen wird Puschpa fast greifbarer, nachvollziehbarer als die anderen Figuren. Obwohl sie nicht im Mittelpunkt steht, ist ihr Schicksal präsenter als das ihres Mannes, dem man eigentlich durch die Handlung folgt.
Dass sich das Politische in die Fiktion schleicht, ist kein Zufall. Deshpande ist nicht nur Schriftstellerin, sie ist auch Journalistin und Aktivistin, hat in den Siebzigerjahren Theaterstücke geschrieben, sich später für Frauenrechte engagiert. Ihr erster Roman "Impeachment" spielte vor dem Hintergrund der Chemiekatastrophe von Bhopal. Mit "Mord" verarbeitet sie ein weiteres Thema, das sie bereits in ihrer journalistischen Arbeit umtrieb: dabei immer sachlich, denn was sie beschreibt, ist erschütternd genug. MARIA WIESNER
Anjali Deshpande: "Mord". Kriminalroman.
Aus dem Hindi von Almuth Degener.
Draupadi Verlag, Heidelberg 2023.
210 S., geb., 19,80 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Anjali Deshpande seziert die Fallstricke des Kastensystems
Je schrecklicher eine Tat ist, desto nüchterner muss man darüber schreiben. Diesem Motto scheint sich die indische Schriftstellerin Anjali Deshpande schon mit dem Titel ihres Kriminalromans "Mord" verschrieben zu haben. Ebenso sachlich beginnt auch der Text, denn der Fall, um den es hier geht, ist so grausam wie alltäglich: Eine junge Frau ist auf dem Landgut eines reichen Herrn außerhalb Neu Delhis umgebracht worden. Ihr Körper wurde verstümmelt, von den Bewohnern des nächsten Dorfes will niemand etwas gewusst oder gesehen haben, man deutet der Polizei gegenüber nur an, dass die Frau eine Prostituierte gewesen sei.
Der Polizist Adhirath, der eigentlich vom Dienst suspendiert ist, verbeißt sich in den Fall. Mag es daran liegen, dass er nach einem Gespräch mit der Mutter der Toten Mitleid empfindet, oder auch nur daran, dass er in der Aufklärungsarbeit eine gute Gelegenheit wittert, seinen Vorgesetzten zu zeigen, was in ihm steckt, während ein Disziplinarverfahren über seinem Kopf schwebt. Er nimmt jedenfalls in Zivil die Fährte auf und stellt schnell fest, dass die Leute aus dem Dorf viel mehr wissen, als sie gegenüber den uniformierten Beamten zugegeben haben.
Deshpande erzählt von dieser Arbeit ganz nüchtern, lässt Adhirath eine Spur nach der anderen aufnehmen, Zeugen befragen, mit dem Motorrad durch die Gegend fahren - klassische Ermittlungsarbeit mit klassischer Erzählstruktur. Der Autorin geht es nicht primär um ausgefeilten Stil, sondern darum, den Inhalt möglichst effektiv, also einprägsam, zu präsentieren. Was sie hier vor allem zeigt, sind die gesellschaftlichen Zustände, etwa die Korruption, wenn zum Beispiel ein Pathologe über die Wunden der Toten doziert, aber zugibt, diese Untersuchung nur gegen Zahlung von Geld und Schnaps vorzunehmen.
Oder wenn der Kellner in einem teuren Restaurant, in dem sich Adhirath mit einem Polizeikollegen trifft, es ablehnt, bei den beiden zu kassieren, um die Polizeikräfte für sich einzunehmen. Adhirath kämpft darum, in einem System, in dem jeder nur an sich selbst denkt, seine Moral zu behalten, "das Richtige zu tun". Doch genau dadurch hat er sich die Suspendierung erst eingehandelt.
Anhand der Familiensituation ihres Protagonisten wirft die Autorin Licht auf einen weiteren Missstand der indischen Gesellschaft: das Kastensystem. Adhiraths Ehefrau Puschpa, die sich im Polizeidienst nach oben gearbeitet hat, entstammt der Kaste der Dalit, der Unberührbaren. Deren Diskriminierung verbietet die indische Verfassung zwar, doch die Liste der Massaker und Gewaltakte gegen sie ist lang und reicht bis in die Gegenwart. Puschpa muss sich die Beschimpfungen ihrer Schwiegereltern gefallen lassen, mit denen sie unter einem Dach lebt. Sie muss gleichzeitig neben ihrem Vollzeitjob, der sie während der Suspendierung ihres Ehemanns zur Alleinverdienerin macht, den Haushalt organisieren und sich um die Erziehung des Sohns kümmern.
Wie hart das sein kann, beschreibt Deshpande so lakonisch wie alles andere in ihrem Roman: "Puschpa sprach im unteren Zimmer normalerweise kaum. Wenn sie nicht gerade einen Gast hatten, redeten nur ihre Küchenutensilien. Daran, wie die Pfanne sich vom Gas erhob, wie der Kochlöffel sich im Topf bewegte, konnte man ihre Stimmung ablesen." Durch solche feinen Beobachtungen wird Puschpa fast greifbarer, nachvollziehbarer als die anderen Figuren. Obwohl sie nicht im Mittelpunkt steht, ist ihr Schicksal präsenter als das ihres Mannes, dem man eigentlich durch die Handlung folgt.
Dass sich das Politische in die Fiktion schleicht, ist kein Zufall. Deshpande ist nicht nur Schriftstellerin, sie ist auch Journalistin und Aktivistin, hat in den Siebzigerjahren Theaterstücke geschrieben, sich später für Frauenrechte engagiert. Ihr erster Roman "Impeachment" spielte vor dem Hintergrund der Chemiekatastrophe von Bhopal. Mit "Mord" verarbeitet sie ein weiteres Thema, das sie bereits in ihrer journalistischen Arbeit umtrieb: dabei immer sachlich, denn was sie beschreibt, ist erschütternd genug. MARIA WIESNER
Anjali Deshpande: "Mord". Kriminalroman.
Aus dem Hindi von Almuth Degener.
Draupadi Verlag, Heidelberg 2023.
210 S., geb., 19,80 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main