»Mordad«, persisch, ist der siebente Monat des Jahres, der Hitzemonat Juli. »Mordad« ist aber auch die Geschichte eines unerhörten Vorfalls, »Mordad« erzählt - vielleicht - von einem Mord, den - vielleicht - keiner, der ihn begangen haben könnte, begangen hat. Eine Schriftstellerin zieht sich in ein Haus in einem Garten zurück, an einen fremden Ort, »fremd genug, um dort fremd zu sein, um unbelastet von alten, unbeeindruckt von neuen Eindrücken mit der Sucharbeit zu beginnen, fremd genug, um dort vielleicht auf mich zu treffen, mich wiederzuerkennen, fremd genug, um zu schreiben«, sitzt dort vor ihrem Fenster, auf ihrem Stuhl, an ihrem Schreibbrett »als Randfigur mit Zuschauerpart und Fensterplatz« und wartet auf den Einfall für die Geschichte, die sie schreiben will. Welche Geschichte? Die Geschichte des Mannes und der Frau, die in dem anderen Haus des Gartens wohnen? Die Geschichte, in die sie hineingezogen und hineingespielt wird von dem Klavierstück, das die Frau jede Nacht spielt, bis der Mann jeden Morgen nach Hause kommt? Sie sitzt auf ihrem Stuhl, vor ihrem Fenster, da geschieht es. Was geschieht? Die Mordtat? Der Mord? An dem Mann, der Frau oder dem, der plötzlich im Garten aufgetaucht ist?
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.1995Bitte kräftig hauchen
Ulla Berkéwicz spielt Mythos Von Hermann Kurzke
Ein orientalischer Jüngling, schön und nackt, rennt quer durch einen Garten, verschwindet in einem Gartenhaus, das von einer Streitehe bewohnt wird, ein Schrei ertönt, der Jüngling ist verschwunden, die Ehefrau sagt, sie habe ihn erstochen, der Ehemann sagt, er habe ihn erschlagen, aber es gibt keinen Toten, denn der Jüngling ist eine Dichtung, die sich wunderbarerweise verkörpert hat, kraft jenes schöpferischen Willkürakts, durch den ein Dichter geschehen lassen kann, was er will.
"Mordad" ist eine Studie über den geheimnisvollen Vorgang, den man "Inspiration" nennt, also "Einhauchung", vorgemacht von Gott dem Herrn damals, als er dem Lehmklumpen Adam das Leben einblies. Weil wir Lehmklöße uns nicht selber behauchen können, müssen wir warten, bis einer haucht. Das Warten auf die Inspiration, auf das Wunder des Einfalls ist das Hauptthema der Erzählung von Ulla Berkéwicz.
Mit minutiöser Komik schildert sie die Veranstaltungen einer Schriftstellerin, die dem Einfall eine Chance geben will, ihre Flucht aus der Welt, ihre Hoffnung auf die Nacht, die klaustrophile Selbstverzückung von Schreibern, die das Schreiben beschreiben, die Qualen, die Abenteuer und die Beschwörungen. Der Bleistift soll zum Wünschelstift werden, zucken soll er, ausschlagen, von selber losschreiben. Der Einfall ist etwas, was einem geschieht. Aber immer steht ihm etwas im Wege, der grobe Körper, der der Freiheit der Seele nicht folgen kann, die handgreifliche Wirklichkeit, die die Freiheit des Dichtens immer wieder brutal zu Boden schlägt, vor allem aber der hochfahrende Eigenwille, der selber etwas erfinden will und einen Krampf nach dem anderen ins Kiesbett setzt.
Aber er kommt, der große Augenblick, "es funkte, sprühte, zündete, schrieb los". Der Jüngling wird geboren, und siehe, es ist der sagenhafte Mahdi, der unerkannt in einem Bergdorf des nördlichen Hindukusch das Leben eines Schafhirten führt, die dreiunddreißig Perlen seiner Gebetsschnur durch die Finger laufen läßt, der sich einst im Hitzemonat Mordad zu erkennen geben und den Verderber aus der Welt jagen wird.
Der Knalleffekt der Geschichte ist dann, daß daraus eben nicht ein afghanischer Hirtenroman wird, sondern daß die Fiktion in die Wirklichkeit tritt und der Mahdi, wie geschildert, in einem Hamburger Garten auftaucht. Die Streiteheleute verlieben sich beide in ihn. Sie will mit ihm schlafen, schläft aber statt dessen mit ihrem brutalen Mann. Er will mit ihm schlafen, schläft aber statt dessen mit seiner neurotischen Frau. Anschließend töten sie ihn. Der Erlöser der Welt, den alle lieben, der alle liebt, wird getötet, zerrissen wie Tammuz und Osiris, wie Jesus und Dionysos - wenn man die mythologische Logik ernst nehmen darf.
Aber ob man das darf, bleibt in der Luft stehen wie vieles in diesem Phantasiegespinst. Die ohnehin schon beschämende Unverbindlichkeit der Literatur, die mit allem spielt, ohne wirklich Stellung zu nehmen, wird unerträglich, wenn so gewaltige Stoffe wie der Mythos vom kommenden Erlöser, zu Papierschiffchen gefaltet, als Einfällchen im Handtaschenformat vorbeitaumeln.
Schlecht an "Mordad" ist das Windige der mythologischen Schicht. Gut an "Mordad" ist die tragikomische Selbstanalyse einer Schriftstellerin, die nicht mehr aus zehn Büchern mit allen Maschen des Metiers manieristisch ein elftes stricken will, sondern sich frei machen will, Mundstück zu sein für das Ureigene. Gekonnt ist auch der Stil, jene drängenden, vielgliedrigen Kettensätze, die ein Vorwärts suggerieren, das doch nur atemloser Stillstand ist. Trefflich beschreibt Ulla Berkéwicz die Qualen, die ihre Heldin erleidet, weil ihr nichts einfällt; aber was ihr dann einfällt, ist nichts.
Ulla Berkéwicz: "Mordad". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1995. 119 S., geb., 34,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ulla Berkéwicz spielt Mythos Von Hermann Kurzke
Ein orientalischer Jüngling, schön und nackt, rennt quer durch einen Garten, verschwindet in einem Gartenhaus, das von einer Streitehe bewohnt wird, ein Schrei ertönt, der Jüngling ist verschwunden, die Ehefrau sagt, sie habe ihn erstochen, der Ehemann sagt, er habe ihn erschlagen, aber es gibt keinen Toten, denn der Jüngling ist eine Dichtung, die sich wunderbarerweise verkörpert hat, kraft jenes schöpferischen Willkürakts, durch den ein Dichter geschehen lassen kann, was er will.
"Mordad" ist eine Studie über den geheimnisvollen Vorgang, den man "Inspiration" nennt, also "Einhauchung", vorgemacht von Gott dem Herrn damals, als er dem Lehmklumpen Adam das Leben einblies. Weil wir Lehmklöße uns nicht selber behauchen können, müssen wir warten, bis einer haucht. Das Warten auf die Inspiration, auf das Wunder des Einfalls ist das Hauptthema der Erzählung von Ulla Berkéwicz.
Mit minutiöser Komik schildert sie die Veranstaltungen einer Schriftstellerin, die dem Einfall eine Chance geben will, ihre Flucht aus der Welt, ihre Hoffnung auf die Nacht, die klaustrophile Selbstverzückung von Schreibern, die das Schreiben beschreiben, die Qualen, die Abenteuer und die Beschwörungen. Der Bleistift soll zum Wünschelstift werden, zucken soll er, ausschlagen, von selber losschreiben. Der Einfall ist etwas, was einem geschieht. Aber immer steht ihm etwas im Wege, der grobe Körper, der der Freiheit der Seele nicht folgen kann, die handgreifliche Wirklichkeit, die die Freiheit des Dichtens immer wieder brutal zu Boden schlägt, vor allem aber der hochfahrende Eigenwille, der selber etwas erfinden will und einen Krampf nach dem anderen ins Kiesbett setzt.
Aber er kommt, der große Augenblick, "es funkte, sprühte, zündete, schrieb los". Der Jüngling wird geboren, und siehe, es ist der sagenhafte Mahdi, der unerkannt in einem Bergdorf des nördlichen Hindukusch das Leben eines Schafhirten führt, die dreiunddreißig Perlen seiner Gebetsschnur durch die Finger laufen läßt, der sich einst im Hitzemonat Mordad zu erkennen geben und den Verderber aus der Welt jagen wird.
Der Knalleffekt der Geschichte ist dann, daß daraus eben nicht ein afghanischer Hirtenroman wird, sondern daß die Fiktion in die Wirklichkeit tritt und der Mahdi, wie geschildert, in einem Hamburger Garten auftaucht. Die Streiteheleute verlieben sich beide in ihn. Sie will mit ihm schlafen, schläft aber statt dessen mit ihrem brutalen Mann. Er will mit ihm schlafen, schläft aber statt dessen mit seiner neurotischen Frau. Anschließend töten sie ihn. Der Erlöser der Welt, den alle lieben, der alle liebt, wird getötet, zerrissen wie Tammuz und Osiris, wie Jesus und Dionysos - wenn man die mythologische Logik ernst nehmen darf.
Aber ob man das darf, bleibt in der Luft stehen wie vieles in diesem Phantasiegespinst. Die ohnehin schon beschämende Unverbindlichkeit der Literatur, die mit allem spielt, ohne wirklich Stellung zu nehmen, wird unerträglich, wenn so gewaltige Stoffe wie der Mythos vom kommenden Erlöser, zu Papierschiffchen gefaltet, als Einfällchen im Handtaschenformat vorbeitaumeln.
Schlecht an "Mordad" ist das Windige der mythologischen Schicht. Gut an "Mordad" ist die tragikomische Selbstanalyse einer Schriftstellerin, die nicht mehr aus zehn Büchern mit allen Maschen des Metiers manieristisch ein elftes stricken will, sondern sich frei machen will, Mundstück zu sein für das Ureigene. Gekonnt ist auch der Stil, jene drängenden, vielgliedrigen Kettensätze, die ein Vorwärts suggerieren, das doch nur atemloser Stillstand ist. Trefflich beschreibt Ulla Berkéwicz die Qualen, die ihre Heldin erleidet, weil ihr nichts einfällt; aber was ihr dann einfällt, ist nichts.
Ulla Berkéwicz: "Mordad". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1995. 119 S., geb., 34,- DM.
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