"Anstelle von Benzedrin hatten wir Vigor-Balsam. Anstelle des ländlichen Amerikas und des Mexikos der Fünfziger hatten wir die Ukraine. Aber es ging um dasselbe. Wir schnappten uns die Rucksäcke und waren on the road."
Ein Gonzo-Roman über Backpacker auf der Suche nach Hardcore und Abenteuer im "Wilden Osten", inspiriert von Jack Kerouac und Hunter S. Thompsons "Fear and Loathing in Las Vegas".
Ein Gonzo-Roman über Backpacker auf der Suche nach Hardcore und Abenteuer im "Wilden Osten", inspiriert von Jack Kerouac und Hunter S. Thompsons "Fear and Loathing in Las Vegas".
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.04.2017Knutschereien im
wilden Osten
Der polnische Autor Ziemowit Szczerek erzählt
vom Reisen in der Ukraine – ein befreiendes Buch
VON JENS BISKY
Im Westen kann man ankommen, im Osten reist man. Łukasz aus Krakau fährt in die Ukraine, und als der Grenzer ihn fragt, warum er denn dahin wolle, antwortet er: „Die Knochen meiner Ahnen knutschen“. Es wird eine heftige Knutscherei, in die der junge Pole sich begibt, lang und intensiv, ein Kuddelmuddel mit der Gegenwart des postsowjetischen Ostens, in der die Ahnen eine geringere Rolle spielen, als man ahnt. Immer dabei aber sind Vorbilder wie Jack Kerouac, sind die Bilder vom „wilden Osten“ und die Sehnsucht nach etwas Unbestimmtem: „Wenn wir soffen, unsere Zeit totschlugen, Drogen nahmen, nach billigem Kitzel und großem Schwulst suchten, dann nicht, um gegen irgendwen zu rebellieren, nicht einmal, um etwas Neues zu erleben, denn das war ja alles schon durch, durch, durch – einfach nur, um überhaupt etwas zu tun. Unserm Leben wenigstens kurzfristig einen Sinn zu verpassen. Oder eher einen Pseudosinn, dessen waren wir uns bewusst, aber alles andere fanden wir letztlich auch nur pseudosinnvoll.“
Łukasz, der zwecks Umgehung aller Ausspracheprobleme auch Lukas genannt werden kann, ist der Erzähler in Ziemowit Szczereks Roman „Mordor kommt und frisst uns auf“. Das Buch, eine fiktive Reisereportage und zugleich eine Satire auf das Genre, ist in Polen bereits 2013 erschienen, also vor der Annexion der Krim. Es war für den Nike-Literaturpreis nominiert und hat den Paszport-Preis der Wochenzeitschrift Polityka erhalten.
Das Buch ist literarisch eine Freude, intellektuell ein Vergnügen und obendrein erfährt der Leser vieles über jenen Osten Europas, der nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hinter einer Mauer aus Klischees und Projektionen verschwand. Einer der Kleinbusse, die hier „Marschrutka“ heißen“ und manchmal deutsche Aufschriften tragen – „Kreuzberg Kebab Mustafa oder Wurst und Schinken GmbH“ – bringt Lukas und andere nach Lwiw, ins österreichische Lemberg, ins polnische Lwów.
Lwów ist ein legendärer Ort der polnischen Kultur und entsprechend beliebt bei Reisenden, worauf sich die Lemberger selbstverständlich eingestellt haben. Sie sprechen die Touristen an, erzählen von der Vorkriegszeit, trällern ein Liedchen, plappern in vorgetäuschtem, sehr melodischem Dialekt. Gefühle überschwemmen die polnischen Polen, sie greifen zu den Brieftaschen. So macht man Geschäfte.
Szczereks Reisender freilich glaubt, dass die Stadt gar nicht existieren dürfte, so groß und mächtig sei der Mythos von ihrem Verlust. Aber sie kümmert sich nicht um ihren Mythos und steht einfach da, als sei sie nicht verloren gegangen. Also braucht man was zu trinken. Aber weder der Vigor-Balsam noch Kwass oder Wodka oder „Dshintonic“ betäuben die Frage, was man hier suche, warum man hierher fahre.
Der Ahnen wegen? Oder doch nur, um sich auch einmal überlegen fühlen und auf die Hinterwäldler im Osten herabschauen zu können? Manche der Reisebekanntschaften suchen das intensivere Dasein, den Hardcore-Osten mit Schmutz, Suff, Korruption und Prügelei. Andere scheinen sich Einblicke ins wahre Polentum oder wenigstens die „slawische Seele“ zu versprechen. Der polnische Titel des Buches ist länger und verspricht auch noch eine „geheime Geschichte der Slawen“.
Zu dieser geheimen Geschichte gehören das Spiel mit den verschiedenen Sprachen, Zitate aus historischen Kämpfen und die Alltäglichkeit der Verwestlichung, deren erstes und nahezu überall anzutreffendes Zeichen die Plastetüte ist. Während er von den Fahrten nach Drohobytsch oder Odessa, auf die Dörfer oder nach Transkarpatien berichtet, entfaltet Szczerek eine satirische Kasuistik der kulturellen Unterschiede, all der Klischees von Wesensart, Identität, Zivilisierung, Fortschritt. Er tut dies in kleinen, geschickt konstruierten Szenen, die den Leser zwischen staunendem Erschrecken – das kann doch nicht wahr sein – und erschrockenem Staunen – das ist wohl wahr – schwanken lassen.
Taras heißt ein ukrainischer Pole, der mit seinen Eltern in Polen lebte, Pole sein wollte. Doch da man ihm immerzu sagte, er sei ein „ukrainischer Hund“ zog er zurück, nicht ohne nun seinerseits die Leute im Osten zu verachten. Taras neigt zu Monologen, die Wirklichkeit versteht er mithilfe von Tolkiens „Herr der Ringe“ als Konflikt zwischen dem ordentlichen, freien Westen und dem wilden, deprimierenden Osten. Die Deutschen seien die Zwerge, die Franzosen die poetischen Elben, Mordor sei slawisch. Auf den Einwand, das könne nicht stimmen, folgt der Seufzer, dann hätte ja Tolkien die Slawen ignoriert und er, Taras wisse auch nicht, was besser sei, „die Verkörperung allen Übels auf dem Kontinent zu sein oder gar nicht zu existieren“. Szczerek treibt alle Klischees bis zum Umschlagpunkt, er ironisiert das Genre der Reportage – wozu mit den Leuten reden, sie können doch nur das Offensichtliche sagen –, er treibt Spott mit Überlegenheitsgefühlen. Aber er ist kein Comedian, sonder ein großartiger Satiriker. Er schreibt, als gäbe es keine Autoritäten und als seien Konventionen nur Spielmaterial, aber er lässt allen Figuren ihre Würde – und nimmt sich selbst nicht so wichtig.
Thomas Weiler hat diese Geschichten in ein mitreißend rhythmisches, frisches Deutsch übersetzt. Er findet treffende Wendungen: ich „schlappte zum Bahnhof“, „duschoidal“ für eine abenteuerlich installierte Dusche, „russig“ für jenes Verhalten, das man von Russen zu erwarten sich berechtigt glaubt, das sie aber nur unwillig an den Tag legen. Oder ist die Weigerung, sich mit Wodka abfüllen zu lassen, nur eine besonders „russiges“ Getue?
Auf der Reise entfalten sich Großimaginationen, etwa von einer Rebellion der Babuschkas, der Großmütter, die allein Herrscher und Oligarchen verjagen könnten, denn niemand, ob in Moskau, Minsk oder Kiew, würde eine Babuschka schlagen. Oder von einer heiteren Ukrainisierung weiter Teile des Kontinents. Dieses Buch zeigt, wie man ohne Kopfschmerzen die ermüdenden Identitätsdebatten übersteht: losfahren, einen Wodka kippen, nachdenken und dann auf in die Knutschereien mit der Wirklichkeit.
Ziemowit Szczerek: Mordor kommt und frisst uns auf. Aus dem Polnischen von Thomas Weiler. Voland & Quist, Dresden und Leipzig 2017. 240 Seiten, 20 Euro. E-Book 10,99 Euro.
Babuschkas wären in der Lage,
Herrscher zu verjagen. Denn
eine Babuschka schlägt niemand
Der Journalist und Intellektuelle
Ziemowit Szczerek, Jahrgang 1978, hat jahrelang die Ukraine bereist. „Mordor kommt und frisst uns auf“ erschien 2013 in Polen.
Foto: Voland Qui
„Dann begann Lwiw … Mir war unbegreiflich, wieso ich mich so wohl fühlte.“ – Lwiw, 2012.
Foto: Regina Schmeken
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
wilden Osten
Der polnische Autor Ziemowit Szczerek erzählt
vom Reisen in der Ukraine – ein befreiendes Buch
VON JENS BISKY
Im Westen kann man ankommen, im Osten reist man. Łukasz aus Krakau fährt in die Ukraine, und als der Grenzer ihn fragt, warum er denn dahin wolle, antwortet er: „Die Knochen meiner Ahnen knutschen“. Es wird eine heftige Knutscherei, in die der junge Pole sich begibt, lang und intensiv, ein Kuddelmuddel mit der Gegenwart des postsowjetischen Ostens, in der die Ahnen eine geringere Rolle spielen, als man ahnt. Immer dabei aber sind Vorbilder wie Jack Kerouac, sind die Bilder vom „wilden Osten“ und die Sehnsucht nach etwas Unbestimmtem: „Wenn wir soffen, unsere Zeit totschlugen, Drogen nahmen, nach billigem Kitzel und großem Schwulst suchten, dann nicht, um gegen irgendwen zu rebellieren, nicht einmal, um etwas Neues zu erleben, denn das war ja alles schon durch, durch, durch – einfach nur, um überhaupt etwas zu tun. Unserm Leben wenigstens kurzfristig einen Sinn zu verpassen. Oder eher einen Pseudosinn, dessen waren wir uns bewusst, aber alles andere fanden wir letztlich auch nur pseudosinnvoll.“
Łukasz, der zwecks Umgehung aller Ausspracheprobleme auch Lukas genannt werden kann, ist der Erzähler in Ziemowit Szczereks Roman „Mordor kommt und frisst uns auf“. Das Buch, eine fiktive Reisereportage und zugleich eine Satire auf das Genre, ist in Polen bereits 2013 erschienen, also vor der Annexion der Krim. Es war für den Nike-Literaturpreis nominiert und hat den Paszport-Preis der Wochenzeitschrift Polityka erhalten.
Das Buch ist literarisch eine Freude, intellektuell ein Vergnügen und obendrein erfährt der Leser vieles über jenen Osten Europas, der nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hinter einer Mauer aus Klischees und Projektionen verschwand. Einer der Kleinbusse, die hier „Marschrutka“ heißen“ und manchmal deutsche Aufschriften tragen – „Kreuzberg Kebab Mustafa oder Wurst und Schinken GmbH“ – bringt Lukas und andere nach Lwiw, ins österreichische Lemberg, ins polnische Lwów.
Lwów ist ein legendärer Ort der polnischen Kultur und entsprechend beliebt bei Reisenden, worauf sich die Lemberger selbstverständlich eingestellt haben. Sie sprechen die Touristen an, erzählen von der Vorkriegszeit, trällern ein Liedchen, plappern in vorgetäuschtem, sehr melodischem Dialekt. Gefühle überschwemmen die polnischen Polen, sie greifen zu den Brieftaschen. So macht man Geschäfte.
Szczereks Reisender freilich glaubt, dass die Stadt gar nicht existieren dürfte, so groß und mächtig sei der Mythos von ihrem Verlust. Aber sie kümmert sich nicht um ihren Mythos und steht einfach da, als sei sie nicht verloren gegangen. Also braucht man was zu trinken. Aber weder der Vigor-Balsam noch Kwass oder Wodka oder „Dshintonic“ betäuben die Frage, was man hier suche, warum man hierher fahre.
Der Ahnen wegen? Oder doch nur, um sich auch einmal überlegen fühlen und auf die Hinterwäldler im Osten herabschauen zu können? Manche der Reisebekanntschaften suchen das intensivere Dasein, den Hardcore-Osten mit Schmutz, Suff, Korruption und Prügelei. Andere scheinen sich Einblicke ins wahre Polentum oder wenigstens die „slawische Seele“ zu versprechen. Der polnische Titel des Buches ist länger und verspricht auch noch eine „geheime Geschichte der Slawen“.
Zu dieser geheimen Geschichte gehören das Spiel mit den verschiedenen Sprachen, Zitate aus historischen Kämpfen und die Alltäglichkeit der Verwestlichung, deren erstes und nahezu überall anzutreffendes Zeichen die Plastetüte ist. Während er von den Fahrten nach Drohobytsch oder Odessa, auf die Dörfer oder nach Transkarpatien berichtet, entfaltet Szczerek eine satirische Kasuistik der kulturellen Unterschiede, all der Klischees von Wesensart, Identität, Zivilisierung, Fortschritt. Er tut dies in kleinen, geschickt konstruierten Szenen, die den Leser zwischen staunendem Erschrecken – das kann doch nicht wahr sein – und erschrockenem Staunen – das ist wohl wahr – schwanken lassen.
Taras heißt ein ukrainischer Pole, der mit seinen Eltern in Polen lebte, Pole sein wollte. Doch da man ihm immerzu sagte, er sei ein „ukrainischer Hund“ zog er zurück, nicht ohne nun seinerseits die Leute im Osten zu verachten. Taras neigt zu Monologen, die Wirklichkeit versteht er mithilfe von Tolkiens „Herr der Ringe“ als Konflikt zwischen dem ordentlichen, freien Westen und dem wilden, deprimierenden Osten. Die Deutschen seien die Zwerge, die Franzosen die poetischen Elben, Mordor sei slawisch. Auf den Einwand, das könne nicht stimmen, folgt der Seufzer, dann hätte ja Tolkien die Slawen ignoriert und er, Taras wisse auch nicht, was besser sei, „die Verkörperung allen Übels auf dem Kontinent zu sein oder gar nicht zu existieren“. Szczerek treibt alle Klischees bis zum Umschlagpunkt, er ironisiert das Genre der Reportage – wozu mit den Leuten reden, sie können doch nur das Offensichtliche sagen –, er treibt Spott mit Überlegenheitsgefühlen. Aber er ist kein Comedian, sonder ein großartiger Satiriker. Er schreibt, als gäbe es keine Autoritäten und als seien Konventionen nur Spielmaterial, aber er lässt allen Figuren ihre Würde – und nimmt sich selbst nicht so wichtig.
Thomas Weiler hat diese Geschichten in ein mitreißend rhythmisches, frisches Deutsch übersetzt. Er findet treffende Wendungen: ich „schlappte zum Bahnhof“, „duschoidal“ für eine abenteuerlich installierte Dusche, „russig“ für jenes Verhalten, das man von Russen zu erwarten sich berechtigt glaubt, das sie aber nur unwillig an den Tag legen. Oder ist die Weigerung, sich mit Wodka abfüllen zu lassen, nur eine besonders „russiges“ Getue?
Auf der Reise entfalten sich Großimaginationen, etwa von einer Rebellion der Babuschkas, der Großmütter, die allein Herrscher und Oligarchen verjagen könnten, denn niemand, ob in Moskau, Minsk oder Kiew, würde eine Babuschka schlagen. Oder von einer heiteren Ukrainisierung weiter Teile des Kontinents. Dieses Buch zeigt, wie man ohne Kopfschmerzen die ermüdenden Identitätsdebatten übersteht: losfahren, einen Wodka kippen, nachdenken und dann auf in die Knutschereien mit der Wirklichkeit.
Ziemowit Szczerek: Mordor kommt und frisst uns auf. Aus dem Polnischen von Thomas Weiler. Voland & Quist, Dresden und Leipzig 2017. 240 Seiten, 20 Euro. E-Book 10,99 Euro.
Babuschkas wären in der Lage,
Herrscher zu verjagen. Denn
eine Babuschka schlägt niemand
Der Journalist und Intellektuelle
Ziemowit Szczerek, Jahrgang 1978, hat jahrelang die Ukraine bereist. „Mordor kommt und frisst uns auf“ erschien 2013 in Polen.
Foto: Voland Qui
„Dann begann Lwiw … Mir war unbegreiflich, wieso ich mich so wohl fühlte.“ – Lwiw, 2012.
Foto: Regina Schmeken
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Ziemnowit Szczerek schickt in seinem Roman "Mordor kommt und frisst uns auf" den polnischen Gonzo-Journalisten Lukasz in die ehemals polnischen Gebiete in der Ukraine, über die er nach einigem Hadern schreibt, dass er sich wohl fühle, weil "es im Grunde hier ist wie bei uns, nur deutlich intensiver", zitiert Judith Leister. Indem sich Szczerek ständig in seinen übertrieben, satirischen Darstellungen selbst überbietet, führt er den Ernst vor, mit dem manche Menschen noch immer ihr Polentum (wie Russentum) in Polen und anderswo betreiben, und stellt ihn bloß, erklärt die Rezensentin. Der Titel spielt auf eine Figur an, die Lukasz im Zuge seiner Recherchen kennenlernt, verrät Leister: den ukrainisch-polnischen Journalisten Taras, für den die russischen Ukrainer bloß "grobschlächtige Orks und Trolle mit Kohlrabivisagen" aus Mordor sind, während Polen doch eigentlich zum zivilisierten Mitteleuropa gehöre.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.03.2018Willkommen im Wilden Osten
Ziemowit Szczerek schreibt mit "Mordor kommt und frisst uns auf" einen rasanten polnischen Gonzo-Roman
"Auch uns nennt man im Westen den Osten und im Osten den Westen", lautet einer der Aphorismen von Stanislaw Jerzy Lec, und es gibt derzeit kaum einen zweiten polnischen Schriftsteller, der die Richtigkeit dieses Gedankens auf eine so bravouröse, so herrlich respektlose und groteske Weise bestätigen würde wie Ziemowit Szczerek. Sein von Thomas Weiler glänzend übersetzter Roman "Mordor kommt und frisst uns auf" ist das Ergebnis von Szczereks unzähligen Reisen in die Ukraine und hat die Form eines Reiseberichts, allerdings lässt der Autor sich dabei etwas Besonderes einfallen: Sein Protagonist, der Ich-Erzähler Lukasz, ist ein abenteuerhungriger, gewiefter und leicht zynischer Journalist, dem nichts so am Herzen liegt wie der Erfolg seiner Geschichten. Und da er nicht nur einen scharfen Blick und viel Sinn für Humor besitzt, sondern auch weiß, dass den Leser nichts mehr freut, als wenn er in einem Text die Bestätigung seines stereotypen Denkens findet, sorgt Lukasz mit viel Übertreibung und Sprachwitz dafür, dass alle seine Erlebnisse in entsprechende Klischeeschemen passen.
Es fängt schon in der Westukraine an, wo auch die meisten Polen anzutreffen sind. Viele von ihnen kommen, um in Lwiw (Lemberg) und anderen Städten nach Spuren der eigenen Familiengeschichte oder der Glanzzeit Galiziens zu suchen, finden aber stattdessen eine Menge monströser Beweise der sowjetischen Vernichtungswut. Denn egal, um welches Detail der ukrainischen Realität es sich handelt - in Lukaszs Schilderung wirkt alles irgendwie überzogen, verzerrt, karikiert. Die Uniformierten tragen Mützen vom Durchmesser eines Gullydeckels, eines Fahrradreifens oder gar "von der Größe eines mittelgroßen Kleinstadtkreisverkehrs". Die idyllische Landschaft Galiziens ist durch die kommunistische Bauweise so zerstört, dass auch eine alte Kirche, die man plötzlich inmitten eines Plattenbauviertels entdeckt, leicht gespenstisch wirkt: "Die Platten umstanden sie wie die Ghettokids das Opfer, dem sie gleich die Fresse polieren würden." Der Geschäftssinn der Ukrainer wird vor allem durch "traurige Babuschkas" personifiziert, die "alles verkaufen, was sich verkaufen lässt". Und alle konsumieren um die Wette ein Gesöff namens Vigor-Balsam: ein Potenzmittel, das allgemein für die Quelle immer neuer Rauschzustände und Energieschübe gehalten wird.
Auch Alkoholisches wird reichlich getrunken, und das hat freilich auch etwas mit Stereotypen zu tun. Die meisten jungen Reisenden aus Polen, die keine Galizien-Nostalgiker, sondern auf der Suche nach Abenteuern im "russigen" Osten sind, passen sich den Einheimischen sofort an. Und die westlichen Touristen langen nach kurzer Zeit ebenfalls kräftig zu, weil sie offenbar glauben, das ständige Wodkakippen würde zum Alltag aller Osteuropäer so selbstverständlich gehören wie das Espressotrinken zu dem der Italiener. Man könne die Stereotype richtig oder falsch benutzen, meint Szczerek, und er sei dagegen, dass sie falsch benutzt werden. Allerdings versucht er es zu verhindern, nicht indem er den echten Stand der Dinge beschreibt, sondern indem er die Stereotype durch Überspitzung oder Anhäufung entsprechender Situationen ad absurdum führt. Das ist das Grundprinzip der Erzählweise, die sein Held während der gesamten Reise einhält - recht lange also, denn diese führt Lukasz in fast jede Ecke der Ukraine, von Lwiw über Drohobytsch und Dnipro bis Odessa und Bachtschissarai. Und da sein wichtigster Auftraggeber ein Internetportal ist, der sich von ihm Hardcore pur wünscht, schreibt er seine Geschichten im Gonzo-Stil, den er sich von Jack Kerouac und Hunter S. Thompson abgeguckt hat: "Schnaps, Kippen, Drogen und Weiber. Und Vulgärsprache." Der Erfolg sei garantiert, stellt er selbstzufrieden fest.
Von dem Leser seines Romans erwartet Szczerek allerdings weniger Zufriedenheit. Im Gegenteil, er will, dass man merkt, wie gefährlich der Gonzo-Stil in Wirklichkeit ist, wie schnell er einen Text hervorbringen kann, der "nicht aufklärt, sondern bestimmte Vorurteile zementiert". Und er zeigt es umso eindrucksvoller, als er sein Spiel mit den Stereotypen in beide Richtungen treibt. Denn die Ukrainer in seinem Buch bleiben den Polen natürlich nichts schuldig. Wer gekommen ist, um sein Überlegenheitsgefühl zu demonstrieren, weil er sich als EU-Bürger für etwas Besseres hält oder als Nachfahre jener polnischen Aristokraten empfindet, die hier einst riesige Ländereien besaßen, der wird schnell in seine Schranken gewiesen. Der erfährt, dass die Polen, die so gern ihre Europa-Zugehörigkeit betonen, von den Westeuropäern für "Russen-Verschnitt" und "Dritte Welt" gehalten werden. "Nur bei uns könnt ihr kurz die Hochmütigen spielen. Euch dafür abreagieren, dass ihr überall sonst die Arschkarte habt", bekommt Lukasz von einer Ukrainerin zu hören, um dann von einem Kenner seines Landes zu erfahren, was das Wesen des Polentums ausmache: "Gift und Verlogenheit, ein einziges Strippenziehen und Grubengraben".
Ziemowit Szczereks Roman zeigt deutlich, dass das West-Ost-Empfinden nur die Frage des jeweiligen Blickwinkels ist, und man ahnt, dass seine Beschreibung in einer anderen Konstellation, etwa der ukrainisch-russischen, nicht weniger kritisch ausfallen würde. Es gebe immer einen Osten, der noch dunkler, noch gefährlicher, noch böser sei, behauptet er. Allerdings ist es kein Zufall, dass der Untertitel seines Buchs im Original "Die geheime Geschichte der Slawen" lautet. Diese Geschichte wird nämlich mit vielen historischen Anspielungen und literarischen Zitaten belegt, um schließlich auf ein selbstironisches, von einem Ukrainer polnischer Abstammung formuliertes Fazit hinauszulaufen: Die Slawen seien nur noch "ein Häuflein Fossilien" und "eine krepierende Kultur, die nicht mehr gebären kann", weil sie "im Konkurrenzkampf verschissen hat". Sie können folglich, schließt man daraus, nur noch eines tun: warten, bis der titelgebende Mordor sie alle auffrisst.
MARTA KIJOWSKA
Ziemowit Szczerek: "Mordor kommt und frisst uns auf". Roman.
Aus dem Polnischen von Thomas Weiler. Verlag Voland & Quist, Dresden 2017. 240 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ziemowit Szczerek schreibt mit "Mordor kommt und frisst uns auf" einen rasanten polnischen Gonzo-Roman
"Auch uns nennt man im Westen den Osten und im Osten den Westen", lautet einer der Aphorismen von Stanislaw Jerzy Lec, und es gibt derzeit kaum einen zweiten polnischen Schriftsteller, der die Richtigkeit dieses Gedankens auf eine so bravouröse, so herrlich respektlose und groteske Weise bestätigen würde wie Ziemowit Szczerek. Sein von Thomas Weiler glänzend übersetzter Roman "Mordor kommt und frisst uns auf" ist das Ergebnis von Szczereks unzähligen Reisen in die Ukraine und hat die Form eines Reiseberichts, allerdings lässt der Autor sich dabei etwas Besonderes einfallen: Sein Protagonist, der Ich-Erzähler Lukasz, ist ein abenteuerhungriger, gewiefter und leicht zynischer Journalist, dem nichts so am Herzen liegt wie der Erfolg seiner Geschichten. Und da er nicht nur einen scharfen Blick und viel Sinn für Humor besitzt, sondern auch weiß, dass den Leser nichts mehr freut, als wenn er in einem Text die Bestätigung seines stereotypen Denkens findet, sorgt Lukasz mit viel Übertreibung und Sprachwitz dafür, dass alle seine Erlebnisse in entsprechende Klischeeschemen passen.
Es fängt schon in der Westukraine an, wo auch die meisten Polen anzutreffen sind. Viele von ihnen kommen, um in Lwiw (Lemberg) und anderen Städten nach Spuren der eigenen Familiengeschichte oder der Glanzzeit Galiziens zu suchen, finden aber stattdessen eine Menge monströser Beweise der sowjetischen Vernichtungswut. Denn egal, um welches Detail der ukrainischen Realität es sich handelt - in Lukaszs Schilderung wirkt alles irgendwie überzogen, verzerrt, karikiert. Die Uniformierten tragen Mützen vom Durchmesser eines Gullydeckels, eines Fahrradreifens oder gar "von der Größe eines mittelgroßen Kleinstadtkreisverkehrs". Die idyllische Landschaft Galiziens ist durch die kommunistische Bauweise so zerstört, dass auch eine alte Kirche, die man plötzlich inmitten eines Plattenbauviertels entdeckt, leicht gespenstisch wirkt: "Die Platten umstanden sie wie die Ghettokids das Opfer, dem sie gleich die Fresse polieren würden." Der Geschäftssinn der Ukrainer wird vor allem durch "traurige Babuschkas" personifiziert, die "alles verkaufen, was sich verkaufen lässt". Und alle konsumieren um die Wette ein Gesöff namens Vigor-Balsam: ein Potenzmittel, das allgemein für die Quelle immer neuer Rauschzustände und Energieschübe gehalten wird.
Auch Alkoholisches wird reichlich getrunken, und das hat freilich auch etwas mit Stereotypen zu tun. Die meisten jungen Reisenden aus Polen, die keine Galizien-Nostalgiker, sondern auf der Suche nach Abenteuern im "russigen" Osten sind, passen sich den Einheimischen sofort an. Und die westlichen Touristen langen nach kurzer Zeit ebenfalls kräftig zu, weil sie offenbar glauben, das ständige Wodkakippen würde zum Alltag aller Osteuropäer so selbstverständlich gehören wie das Espressotrinken zu dem der Italiener. Man könne die Stereotype richtig oder falsch benutzen, meint Szczerek, und er sei dagegen, dass sie falsch benutzt werden. Allerdings versucht er es zu verhindern, nicht indem er den echten Stand der Dinge beschreibt, sondern indem er die Stereotype durch Überspitzung oder Anhäufung entsprechender Situationen ad absurdum führt. Das ist das Grundprinzip der Erzählweise, die sein Held während der gesamten Reise einhält - recht lange also, denn diese führt Lukasz in fast jede Ecke der Ukraine, von Lwiw über Drohobytsch und Dnipro bis Odessa und Bachtschissarai. Und da sein wichtigster Auftraggeber ein Internetportal ist, der sich von ihm Hardcore pur wünscht, schreibt er seine Geschichten im Gonzo-Stil, den er sich von Jack Kerouac und Hunter S. Thompson abgeguckt hat: "Schnaps, Kippen, Drogen und Weiber. Und Vulgärsprache." Der Erfolg sei garantiert, stellt er selbstzufrieden fest.
Von dem Leser seines Romans erwartet Szczerek allerdings weniger Zufriedenheit. Im Gegenteil, er will, dass man merkt, wie gefährlich der Gonzo-Stil in Wirklichkeit ist, wie schnell er einen Text hervorbringen kann, der "nicht aufklärt, sondern bestimmte Vorurteile zementiert". Und er zeigt es umso eindrucksvoller, als er sein Spiel mit den Stereotypen in beide Richtungen treibt. Denn die Ukrainer in seinem Buch bleiben den Polen natürlich nichts schuldig. Wer gekommen ist, um sein Überlegenheitsgefühl zu demonstrieren, weil er sich als EU-Bürger für etwas Besseres hält oder als Nachfahre jener polnischen Aristokraten empfindet, die hier einst riesige Ländereien besaßen, der wird schnell in seine Schranken gewiesen. Der erfährt, dass die Polen, die so gern ihre Europa-Zugehörigkeit betonen, von den Westeuropäern für "Russen-Verschnitt" und "Dritte Welt" gehalten werden. "Nur bei uns könnt ihr kurz die Hochmütigen spielen. Euch dafür abreagieren, dass ihr überall sonst die Arschkarte habt", bekommt Lukasz von einer Ukrainerin zu hören, um dann von einem Kenner seines Landes zu erfahren, was das Wesen des Polentums ausmache: "Gift und Verlogenheit, ein einziges Strippenziehen und Grubengraben".
Ziemowit Szczereks Roman zeigt deutlich, dass das West-Ost-Empfinden nur die Frage des jeweiligen Blickwinkels ist, und man ahnt, dass seine Beschreibung in einer anderen Konstellation, etwa der ukrainisch-russischen, nicht weniger kritisch ausfallen würde. Es gebe immer einen Osten, der noch dunkler, noch gefährlicher, noch böser sei, behauptet er. Allerdings ist es kein Zufall, dass der Untertitel seines Buchs im Original "Die geheime Geschichte der Slawen" lautet. Diese Geschichte wird nämlich mit vielen historischen Anspielungen und literarischen Zitaten belegt, um schließlich auf ein selbstironisches, von einem Ukrainer polnischer Abstammung formuliertes Fazit hinauszulaufen: Die Slawen seien nur noch "ein Häuflein Fossilien" und "eine krepierende Kultur, die nicht mehr gebären kann", weil sie "im Konkurrenzkampf verschissen hat". Sie können folglich, schließt man daraus, nur noch eines tun: warten, bis der titelgebende Mordor sie alle auffrisst.
MARTA KIJOWSKA
Ziemowit Szczerek: "Mordor kommt und frisst uns auf". Roman.
Aus dem Polnischen von Thomas Weiler. Verlag Voland & Quist, Dresden 2017. 240 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Das Buch ist literarisch eine Freude, intellektuell ein Vergnügen und obendrein erfährt der Leser vieles über jenen Osten Europas, der nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hinter einer Mauer aus Klischees und Projektionen verschwand."
Jens Bisky, Süddeutsche Zeitung
"Wer mal wieder Lust auf eine gänzlich unverbrauchte, zupackende Sprache verspürt, wer intellektuell gut unterhalten werden will und wer Lust hat, durch ein anderes Fenster nach Osteuropa zu schauen (...), der ist hier glänzend bedient."
Martin Maria Schwarz, hr2
"Ziemowit Szczerek ist mit 'Mordor kommt und frisst uns auf' ein faszinierendes Stück Prosa gelungen. Mal brutal, mal irrsinnig komisch, sehr poetisch und originell - ein sprachlich wie inhaltlich brillanter Text."
Moses Fendel, WDR3
"(...) ein rasanter polnischer Gonzo-Roman."
Marta Kijowska, FAZ
"Ziemowit Szczereks Roman, von Thomas Weiler schwungvoll und pointiert ins Deutsche übersetzt, ist ein hochreflektiertes undsehr aktuelles Buch über Europa und seine Identitätsdiskurse. Aber so originell, respektlos und vor allem unterhaltsam hat man das selten gelesen."
Judith Leister, SR 2
"Szczereks Beobachtungen und Schlüsse changieren zwischen Sarkasmus und Verständnis. Thomas Weiler hat diese burschikose Spielart intelligenten Erzählens sehr schön ins Deutsche übertragen."
Jens-Uwe Sommerschuh, Sächsische Zeitung
Jens Bisky, Süddeutsche Zeitung
"Wer mal wieder Lust auf eine gänzlich unverbrauchte, zupackende Sprache verspürt, wer intellektuell gut unterhalten werden will und wer Lust hat, durch ein anderes Fenster nach Osteuropa zu schauen (...), der ist hier glänzend bedient."
Martin Maria Schwarz, hr2
"Ziemowit Szczerek ist mit 'Mordor kommt und frisst uns auf' ein faszinierendes Stück Prosa gelungen. Mal brutal, mal irrsinnig komisch, sehr poetisch und originell - ein sprachlich wie inhaltlich brillanter Text."
Moses Fendel, WDR3
"(...) ein rasanter polnischer Gonzo-Roman."
Marta Kijowska, FAZ
"Ziemowit Szczereks Roman, von Thomas Weiler schwungvoll und pointiert ins Deutsche übersetzt, ist ein hochreflektiertes undsehr aktuelles Buch über Europa und seine Identitätsdiskurse. Aber so originell, respektlos und vor allem unterhaltsam hat man das selten gelesen."
Judith Leister, SR 2
"Szczereks Beobachtungen und Schlüsse changieren zwischen Sarkasmus und Verständnis. Thomas Weiler hat diese burschikose Spielart intelligenten Erzählens sehr schön ins Deutsche übertragen."
Jens-Uwe Sommerschuh, Sächsische Zeitung