Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.04.2008Gefangen im Anstaltsalltag
Eine Anklage: Arnhild Lauveng schildert, wie sie die Schizophrenie besiegte
Der Nebel, der sich über ihr Leben legte, zog langsam auf, wie Schleierwolken an einem Sommertag, die sich unversehens vor die Sonne schieben. Erst wenige, dann immer mehr, bis die Sonne irgendwann verschwindet, die Temperatur fällt, die Vögel verstummen. Was bleibt, sind Dunkelheit und Leere.
Arnhild Lauveng bemerkte kaum, wie ihr die Welt entglitt. Mit fünfzehn wurde die Angst zu einer festen Größe in ihrem Leben, der Boden unter ihren Füßen bekam Risse, die Furcht, nicht zu existieren, setzte sich fest. War sie womöglich nur eine Romanfigur, erfunden von einem fremden Wesen? Ihre Sinneswahrnehmungen verschoben sich zusehends, und die Geräusche, die sie hörte, führten bald ein Eigenleben. Es konnte passieren, dass Arnhild Lauveng mit einer Freundin im Wald spazieren ging, dabei aber nicht verstand, was diese ihr erzählte, weil ihre eigenen Schuhsohlen auf dem Asphalt jedes Wort übertönten.
Von Wölfen bedroht
Manchmal mutierten die Häuser am Straßenrand zu riesengroßen, bedrohlichen Wolkenkratzern und eine Landschaft entstand, die so surreal anmutete, als habe sich Arnhild Lauveng in ein Gemälde von Salvador Dalí verirrt. Einmal verharrte sie eine halbe Stunde am Straßenrand, die Bordsteinkante hatte sich in ihrer Wahrnehmung in einen zwanzig Meter tiefen Abgrund verwandelt. Sie befürchtete, zu Tode zu stürzen. Auf den Fluren ihrer Schule tauchten eines Tages Wölfe auf, zähnefletschende Bestien, die ihr überallhin folgten und nach dem Leben trachteten. Und dann kam der Kapitän. Der Kapitän, wie Arnhild Lauveng ihn nannte, saß irgendwo in ihrem Kopf und erteilte Befehle, er sagte, wie viele Stunden Schlaf gut für sie seien, was sie essen und wann sie lernen sollte. Der Kapitän war gnadenlos in seinen Forderungen, und seine Stimme ließ ihr keine Ruhe mehr. Ein Albtraum, aus dem sie jahrelang nicht erwachte.
Arnhild Lauveng war schwer krank in dieser Zeit, mit siebzehn Jahren diagnostizierten die Ärzte Schizophrenie bei ihr. Zehn Jahre lang diktierte diese Krankheit ihren Alltag, der sich in geschlossenen Anstalten abspielte, weggesperrt und unter ständiger medizinischer Beobachtung. Namhafte Spezialisten prophezeiten dem Mädchen eine düstere Zukunft, ein Leben abhängig von Medikamenten, fernab jeglicher Normalität. Doch die Mediziner irrten sich. Heute arbeitet Arnhild Lauveng als Psychologin in einem Vorort von Oslo, sie ist sechsunddreißig Jahre alt und vollkommen gesund.
Dass Arnhild Lauveng die Schizophrenie besiegte, ist ein kleines Wunder. Über dieses Wunder hat sie nun ein eindrucksvolles Buch geschrieben. Es heißt "Morgen bin ich ein Löwe" und führt uns vor Augen, wie schwer es ist, dem medizinischen Apparat wieder zu entkommen, wurde erst einmal eine Krankenakte angelegt, die den seelischen Verfall dokumentiert. Arnhild Lauvengs Buch ist auch eine Anklage gegen ein System aus Fallstudien, Krankheitsbeschreibungen und Diagnosehandbüchern. Ein System, in dem der Raum für den Menschen hinter der Krankheit umso kleiner wird, je stärker der ökonomische Druck wächst.
Dort, wo Arnhild Lauveng den medizinischen Apparat seziert, hat ihr Buch etwas Beängstigendes. Wir begegnen entmündigten Patienten, gefangen im Anstaltsalltag, scheinbar aufgegeben von Ärzten und Pflegern. "Als ich krank war, erlebte ich eine starke Fokussierung auf meine Krankheit und auf meine schwächeren Seiten. Man hatte weniger Interesse und richtete weniger Aufmerksamkeit auf meine Stärken, darauf, wer ich jenseits der Krankheit war. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass Interessen, Hobbys und Wünsche nur als störende Hindernisse empfunden wurden, die uns von dem eigentlichen Ziel, nämlich der Behandlung der Krankheit, abhalten. Dabei führte die Konzentration auf all das, was nicht funktionierte, zu einer weiteren Schwächung meines ohnehin schon jämmerlichen Selbstbildes", schreibt Arnhild Lauveng.
Die Monate und Jahre in der geschlossenen Anstalt sind eine Tortur, der Zugang zum eigenen Ich ist Arnhild Lauveng abhandengekommen. Einsam und unverstanden fühlt sie sich, als habe sie jemand ausgesetzt auf einem feindlichen Planeten, wo keine Menschenseele ihre Sprache spricht. Der Kommunikationsfähigkeit beraubt, erfindet Arnhild Lauveng ihren eigenen Code. Sie verständigt sich, wie viele andere Patienten auch: Sie instrumentalisiert ihre Symptome, um so ihre Wünsche zu befriedigen. Diese Sprache, schreibt sie, funktioniere besser, weil das Klinikpersonal diese Art der Kommunikation erwarte. Bat sie zum Beispiel eine der Schwestern, den Flur zu putzen, weigerte sie sich mit der Begründung, auf dem Gang trieben sich ein Dutzend Wölfe herum, die nur darauf warteten, sie zu zerfleischen. Das Flurputzen wurde ihr erlassen, die Sprache hatte ihren Effekt verloren.
Grausamkeiten unter Kindern
"Auf der Station gab es bestimmte Regeln, wann wir duschen durften. Wenn ich sagte: ,Ich habe Lust zu duschen, ist das in Ordnung?', wurde ich immer auf die Regeln verwiesen. Aber wenn ich heulte, mich vielleicht ein bisschen kratzte und behauptete, dass die Stimmen mich so unter Druck setzten und dass ich mich schmutzig und unwürdig fühlte, hatte ich deutlich bessere Chancen, dass sich die Türen öffneten."
Eindringlich gaben die Ärzte Arnhild Lauveng zu verstehen, dass ihr Wunsch zu studieren und als Psychologin zu arbeiten, völlig absurd sei. Man riet ihr, sich darauf einzustellen, mit den Symptomen ihrer chronischen Krankheit zu leben, bis ans Ende ihrer Tage. Denkt man diesen Rat zu Ende, hätte sich Arnhild Lauveng mit den quälenden Halluzinationen und Angstzuständen anfreunden müssen. Sie hätte auch damit aufhören müssen, für ihre Träume zu kämpfen. Aber das wollte sie nicht.
Die Offenheit, mit der Arnhild Lauveng ihr Martyrium schildert, berührt. Doch ihre Vergangenheit tippt sie kaum an, die Menschen, die ihr nahestehen, ihre Familie, ihre Freunde bleiben konturlos. Sie selbst beschreibt sich als ein zurückgezogenes, nachdenkliches Mädchen. In der Schule wurde sie gemobbt, tauchte sie irgendwo auf, gingen die anderen Kinder weg. Ihr Vater starb, da war Arnhild Lauveng fünf Jahre alt, zwei Jahre lang lag er im Sterben. Sie litt unter dem Gefühl, nicht liebenswert zu sein, nicht gut genug für diese Welt und dieses Leben. Die Angst, zu versagen, wurde pathologisch. Weitere Erklärungen für ihre Schizophrenie gibt uns Arnhild Lauveng nicht.
Genauso schleichend, wie sich die Krankheit einnistete, verschwand sie wieder. Arnhild Lauveng tastete sich mühsam ins Leben zurück, über Jahre. Erst als sie sich selbst schon lange wieder gefunden hatte, da glaubte auch die Medizin an ihre Heilung.
MELANIE MÜHL
Arnhild Lauveng: "Morgen bin ich ein Löwe".
Wie ich die Schizophrenie besiegte. Aus dem
Norwegischen von Günther Frauenlob. btb Verlag, München 2008. 224 S., geb., 17,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine Anklage: Arnhild Lauveng schildert, wie sie die Schizophrenie besiegte
Der Nebel, der sich über ihr Leben legte, zog langsam auf, wie Schleierwolken an einem Sommertag, die sich unversehens vor die Sonne schieben. Erst wenige, dann immer mehr, bis die Sonne irgendwann verschwindet, die Temperatur fällt, die Vögel verstummen. Was bleibt, sind Dunkelheit und Leere.
Arnhild Lauveng bemerkte kaum, wie ihr die Welt entglitt. Mit fünfzehn wurde die Angst zu einer festen Größe in ihrem Leben, der Boden unter ihren Füßen bekam Risse, die Furcht, nicht zu existieren, setzte sich fest. War sie womöglich nur eine Romanfigur, erfunden von einem fremden Wesen? Ihre Sinneswahrnehmungen verschoben sich zusehends, und die Geräusche, die sie hörte, führten bald ein Eigenleben. Es konnte passieren, dass Arnhild Lauveng mit einer Freundin im Wald spazieren ging, dabei aber nicht verstand, was diese ihr erzählte, weil ihre eigenen Schuhsohlen auf dem Asphalt jedes Wort übertönten.
Von Wölfen bedroht
Manchmal mutierten die Häuser am Straßenrand zu riesengroßen, bedrohlichen Wolkenkratzern und eine Landschaft entstand, die so surreal anmutete, als habe sich Arnhild Lauveng in ein Gemälde von Salvador Dalí verirrt. Einmal verharrte sie eine halbe Stunde am Straßenrand, die Bordsteinkante hatte sich in ihrer Wahrnehmung in einen zwanzig Meter tiefen Abgrund verwandelt. Sie befürchtete, zu Tode zu stürzen. Auf den Fluren ihrer Schule tauchten eines Tages Wölfe auf, zähnefletschende Bestien, die ihr überallhin folgten und nach dem Leben trachteten. Und dann kam der Kapitän. Der Kapitän, wie Arnhild Lauveng ihn nannte, saß irgendwo in ihrem Kopf und erteilte Befehle, er sagte, wie viele Stunden Schlaf gut für sie seien, was sie essen und wann sie lernen sollte. Der Kapitän war gnadenlos in seinen Forderungen, und seine Stimme ließ ihr keine Ruhe mehr. Ein Albtraum, aus dem sie jahrelang nicht erwachte.
Arnhild Lauveng war schwer krank in dieser Zeit, mit siebzehn Jahren diagnostizierten die Ärzte Schizophrenie bei ihr. Zehn Jahre lang diktierte diese Krankheit ihren Alltag, der sich in geschlossenen Anstalten abspielte, weggesperrt und unter ständiger medizinischer Beobachtung. Namhafte Spezialisten prophezeiten dem Mädchen eine düstere Zukunft, ein Leben abhängig von Medikamenten, fernab jeglicher Normalität. Doch die Mediziner irrten sich. Heute arbeitet Arnhild Lauveng als Psychologin in einem Vorort von Oslo, sie ist sechsunddreißig Jahre alt und vollkommen gesund.
Dass Arnhild Lauveng die Schizophrenie besiegte, ist ein kleines Wunder. Über dieses Wunder hat sie nun ein eindrucksvolles Buch geschrieben. Es heißt "Morgen bin ich ein Löwe" und führt uns vor Augen, wie schwer es ist, dem medizinischen Apparat wieder zu entkommen, wurde erst einmal eine Krankenakte angelegt, die den seelischen Verfall dokumentiert. Arnhild Lauvengs Buch ist auch eine Anklage gegen ein System aus Fallstudien, Krankheitsbeschreibungen und Diagnosehandbüchern. Ein System, in dem der Raum für den Menschen hinter der Krankheit umso kleiner wird, je stärker der ökonomische Druck wächst.
Dort, wo Arnhild Lauveng den medizinischen Apparat seziert, hat ihr Buch etwas Beängstigendes. Wir begegnen entmündigten Patienten, gefangen im Anstaltsalltag, scheinbar aufgegeben von Ärzten und Pflegern. "Als ich krank war, erlebte ich eine starke Fokussierung auf meine Krankheit und auf meine schwächeren Seiten. Man hatte weniger Interesse und richtete weniger Aufmerksamkeit auf meine Stärken, darauf, wer ich jenseits der Krankheit war. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass Interessen, Hobbys und Wünsche nur als störende Hindernisse empfunden wurden, die uns von dem eigentlichen Ziel, nämlich der Behandlung der Krankheit, abhalten. Dabei führte die Konzentration auf all das, was nicht funktionierte, zu einer weiteren Schwächung meines ohnehin schon jämmerlichen Selbstbildes", schreibt Arnhild Lauveng.
Die Monate und Jahre in der geschlossenen Anstalt sind eine Tortur, der Zugang zum eigenen Ich ist Arnhild Lauveng abhandengekommen. Einsam und unverstanden fühlt sie sich, als habe sie jemand ausgesetzt auf einem feindlichen Planeten, wo keine Menschenseele ihre Sprache spricht. Der Kommunikationsfähigkeit beraubt, erfindet Arnhild Lauveng ihren eigenen Code. Sie verständigt sich, wie viele andere Patienten auch: Sie instrumentalisiert ihre Symptome, um so ihre Wünsche zu befriedigen. Diese Sprache, schreibt sie, funktioniere besser, weil das Klinikpersonal diese Art der Kommunikation erwarte. Bat sie zum Beispiel eine der Schwestern, den Flur zu putzen, weigerte sie sich mit der Begründung, auf dem Gang trieben sich ein Dutzend Wölfe herum, die nur darauf warteten, sie zu zerfleischen. Das Flurputzen wurde ihr erlassen, die Sprache hatte ihren Effekt verloren.
Grausamkeiten unter Kindern
"Auf der Station gab es bestimmte Regeln, wann wir duschen durften. Wenn ich sagte: ,Ich habe Lust zu duschen, ist das in Ordnung?', wurde ich immer auf die Regeln verwiesen. Aber wenn ich heulte, mich vielleicht ein bisschen kratzte und behauptete, dass die Stimmen mich so unter Druck setzten und dass ich mich schmutzig und unwürdig fühlte, hatte ich deutlich bessere Chancen, dass sich die Türen öffneten."
Eindringlich gaben die Ärzte Arnhild Lauveng zu verstehen, dass ihr Wunsch zu studieren und als Psychologin zu arbeiten, völlig absurd sei. Man riet ihr, sich darauf einzustellen, mit den Symptomen ihrer chronischen Krankheit zu leben, bis ans Ende ihrer Tage. Denkt man diesen Rat zu Ende, hätte sich Arnhild Lauveng mit den quälenden Halluzinationen und Angstzuständen anfreunden müssen. Sie hätte auch damit aufhören müssen, für ihre Träume zu kämpfen. Aber das wollte sie nicht.
Die Offenheit, mit der Arnhild Lauveng ihr Martyrium schildert, berührt. Doch ihre Vergangenheit tippt sie kaum an, die Menschen, die ihr nahestehen, ihre Familie, ihre Freunde bleiben konturlos. Sie selbst beschreibt sich als ein zurückgezogenes, nachdenkliches Mädchen. In der Schule wurde sie gemobbt, tauchte sie irgendwo auf, gingen die anderen Kinder weg. Ihr Vater starb, da war Arnhild Lauveng fünf Jahre alt, zwei Jahre lang lag er im Sterben. Sie litt unter dem Gefühl, nicht liebenswert zu sein, nicht gut genug für diese Welt und dieses Leben. Die Angst, zu versagen, wurde pathologisch. Weitere Erklärungen für ihre Schizophrenie gibt uns Arnhild Lauveng nicht.
Genauso schleichend, wie sich die Krankheit einnistete, verschwand sie wieder. Arnhild Lauveng tastete sich mühsam ins Leben zurück, über Jahre. Erst als sie sich selbst schon lange wieder gefunden hatte, da glaubte auch die Medizin an ihre Heilung.
MELANIE MÜHL
Arnhild Lauveng: "Morgen bin ich ein Löwe".
Wie ich die Schizophrenie besiegte. Aus dem
Norwegischen von Günther Frauenlob. btb Verlag, München 2008. 224 S., geb., 17,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"So spannend erzählt, daß man es nicht aus der Hand legen kann." Vårt Land
"Arnhild Lauveng ist eine meisterhafte Vermittlerin psychologischer Probleme - sowohl aus der Sicht der Betroffenen als auch der Psychologin." Dagens Næringsliv
"Arnhild Lauveng ist eine meisterhafte Vermittlerin psychologischer Probleme - sowohl aus der Sicht der Betroffenen als auch der Psychologin." Dagens Næringsliv
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Arnhild Lauvengs Buch über ihre Schizophrenie und ihren Sieg über diese Krankheit hat Melanie Mühl sehr beeindruckt. Beklemmend findet sie die Beschreibung der vielen Monate und Jahre, die Lauveng unter permanenter medizinischer Beobachtung in geschlossenen Anstalten verbrachte. Die Offenheit, mit der die Autorin, die heute völlig gesund ist und als Psychologin in einem Vorort von Oslo arbeitet, ihren Leidensweg beschreibt, hat ihr dabei besonders imponiert. Sie sieht in dem Buch auch eine Kritik und Anklage des medizinischen Systems aus Fallstudien, Krankheitsbeschreibungen und Diagnosehandbüchern. Ein wenig Informationen mehr hätte sich Mühl allerdings über die Vergangenheit von Lauveng, ihre Kindheit, ihre Familie und Freunde gewünscht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Ihr beeindruckender Erfahrungsbericht führt den Leser tief in ihre von außen betrachtet verrückte Innenwelt." Emotion