Geheilt. Doch wirkliches Glück kann Sophie nicht empfinden, denn es hat sich ein Loch aufgetan, wo ihre Zukunftsträume waren. Und wie soll sie damit umgehen, dass ihre Freundin Chantal den Krebs nicht überleben wird? Sophie ergreift die Flucht nach vorn: Sie begibt sich auf eine Reise um die Welt, auf der Suche nach sich selbst. »Ich stehe vor einem leeren Raum, am Fuße eines Neubeginns, ohne Haken in der Wand. Und die einzige Person, die den Raum füllen kann, bin ich.«
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.05.2009Gefangen in einer neuen Perspektive
Wer, vom Krebs schon gezeichnet, dem Tod noch einmal entrinnen konnte, schaut sein Leben mit anderen Augen an. Das Beispiel der Sophie van der Stap.
Er habe eine gute Nachricht, erklärte der Arzt. Die tödliche Diagnose sei ein Irrtum gewesen, es sei alles in bester Ordnung, das Leben könne weitergehen wie bisher. Der Rezensent glaubte seinen Ohren nicht zu trauen und fragte ein-, zwei-, dreimal nach. Ja, bestätigte der Arzt, schon leicht ungeduldig werdend, so sei es, der Computertomograph habe ein falsches Bild geliefert, aber jetzt müsse er weiter, die nächsten Patienten warteten. Es war vierzehn Uhr. Der Rezensent erinnerte sich daran, dass fünfhundert Kilometer entfernt soeben die Beerdigung eines seiner Studienfreunde begann, der mit zweiundvierzig Jahren an einem Gehirntumor verstorben war. Innerlich jubelte er, und zugleich schämte er sich seiner Freude. Selber davongekommen zu sein, während der andere gehen musste - wie konnte er dies vor dem Toten rechtfertigen?
In ihrem bewegenden Buch "Morgen bin ich wieder da" verrät die junge holländische Autorin Sophie van der Stap, dass sie sich die gleiche Frage gestellt hat, während sie am Sterbebett einer Freundin saß. Beide waren frühzeitig an Krebs erkrankt, aber während van der Stap wider alles Erwarten geheilt wurde, erlag ihre Schicksalsgenossin der Krankheit. "Ich hatte ein Problem damit, der Glückspilz von uns beiden zu sein und meine Freundin zu meinen Füßen elend sterben zu sehen. Weitaus schlimmer war es jedoch, die Hauptperson zu sein, die allein übrig bleiben würde in einer Geschichte, in der das Leben mehr zu erzählen hat als der Tod. Ich wollte nicht mehr der Fokus meines eigenen Lebens sein. Mehr noch: Ich war es nicht mehr. Zumindest nicht hier, auf dieser kleinen Fläche, wo ich völlig absorbiert war von der Geschichte einer anderen."
Als van der Stap später das Krankenhaus verließ, an einem sonnigen, warmen Frühlingsabend, bemerkte sie, dass in der Stadt ein großes Fest im Gange war. "Ich schaute nach links, ich schaute nach rechts. Links wurde gefeiert, rechts lag meine Freundin im Sterben. Und ich stand dazwischen, genau in der Mitte zwischen Leben und Tod. Ein Ort, an dem ich mich noch heute befinde." Dabei hat van der Stap keinen Aufwand gescheut, um diesem Nichtort zu entkommen. Von Amsterdam reist sie nach Buenos Aires, von Buenos Aires flüchtet sie sich in die Einsamkeit der argentinischen Bergwelt, von dort weiter nach Rio, dann in das wohl unvermeidliche Tibet, schließlich nach Hongkong. Am Ende aber muss sie sich eingestehen, dass sie sich keinen Schritt von dem entfernt hat, wovor sie wegzulaufen versuchte. "Es scheint, als wollte der Tod mich nicht mehr loslassen, nachdem er mich von beiden Seiten so fest umarmt hat. Ich sitze gefangen in einer anderen Perspektive, einer Perspektive, die nicht zu den Träumen einer vierundzwanzigjährigen Frau gehört."
Die Perspektive, gegen die van der Stap sich über weite Strecken ihres Buches hinweg mit Händen und Füße wehrt, ist diejenige der Machtlosigkeit und des Sichfügens. Genügte es nicht, dass sie während ihrer Krankheit erfahren musste, wie sie immer weiter von ihren bisherigen Lebensplänen abgedrängt wurde, und dass sie hilflos wie ein manövrierunfähiges Schiff dem Sturm ihrer Angst und Verzweiflung ausgesetzt war? War es nicht höchste Zeit, dies alles hinter sich zurückzulassen und den Faden des Lebens dort wiederaufzunehmen, wo sie ihn, der Not gehorchend, zuvor hatte fallenlassen? An Bekundungen ihrer Entschlossenheit zu selbstmächtiger Existenz lässt van der Stap es nicht fehlen. Zeit sei nicht etwas, dem man sich still und leise unterordne. "Zeit ergreift man mit beiden Händen, füllt sie mit allen Träumen, die man hat, und biegt sie nach dem eigenen Willen zurecht." Das liest sich so glatt, als sei es geradewegs aus einem Lehrbuch der Selbstverwirklichungskunst abgeschrieben worden. Aber mit jeder neuen Flucht van der Staps klingt es hektischer, ja panischer. Mit tiefem Erstaunen, das sich stellenweise zu blankem Entsetzen steigert, muss die Autorin feststellen, dass die alten Selbstsuggestionsformeln nicht mehr funktionieren. Das Rendezvous mit dem Tod hat ihnen ein für alle Mal die Kraft geraubt. Am Ende muss van der Stap sich eingestehen, dass wir nicht die Herren unseres Lebens sind. "Die Kugel, auf der ich balanciere, rollt weiter bergab. Ich rolle mit und passe mich den Umständen an, die mir gegeben werden. Dadurch wird die Summe der Dinge, die mir widerfahren, deutlich höher als die Summe der Dinge, die ich mir einmal für mich vorgestellt habe." Aller Autonomierhetorik zum Trotz bestehen unsere Biographien weniger darin, die äußeren Verhältnisse dem eigenen Willen zu unterwerfen, als vielmehr darin, das Schwere, welches sie bringen, mit Anstand zu ertragen.
Aber steht es uns nicht wenigstens offen, uns der einzelnen Augenblicke zu bemächtigen und, wie van der Stap es formuliert, von Moment zu Moment zu reisen, ohne uns irgendwo dauerhaft niederzulassen? Die Autorin muss erfahren, dass auch diese Rückzugsposition der unerbittlich drängenden Macht des Todes nicht standhält. Zwar ist es ein ehrenwertes Unterfangen, einige verdichtete Augenblicke vor dem Rad der unablässig fortrollenden Zeit in Sicherheit zu bringen und ihnen in unserer Erinnerung ein bescheidenes Asyl zu gewähren. Als allgemeine Lebensform taugt ein solcher Pointillismus aber nicht. "Denn ein Moment ist nichts wert, wenn man keine Vergangenheit hat, an der man sein Glück überprüfen kann, oder keine Zukunft, auf die man seinen Tag ausrichten kann. Ein Moment ohne Gestern und Morgen ist letzten Endes nicht mehr als die ständige Wiederholung desselben Fragments in einem anderen Umfeld." Er ist so langweilig und leer wie ein Musikstück, das aus einem einzigen Ton besteht.
Die Selbstverwirklichungsrhetorik ist untrennbar mit der Ideologie des Besitzindividualismus verbunden. Dieser entspricht es, das menschliche Leben nach Maßgabe eines eigentumsrechtlichen Kategoriensystems zu deuten: als den Inbegriff einer Summe von Gütern, die ihrem Inhaber zu dessen freier Verfügung zugeordnet sind. Van der Stap zeigt demgegenüber, dass das Phänomen der menschlichen Existenz unweigerlich verfehlt, wer in besitzrechtlichen Kategorien über es spricht. Unser Dasein gehört uns nicht. Wir sind nur Gäste, flüchtige Schemen, die sich häufig bei weitem zu wichtig nehmen. Individualität - so gibt diese höchst individualistisch sprechende Autorin zu verstehen - gewinnen wir nicht, indem wir uns an irgendwelchen Authentizitätsritualen beteiligen, sondern indem wir die Pflichten, die uns in unseren Verhältnissen zuwachsen, ordentlich erfüllen, das Los, das uns zugedacht ist, tragen, ohne zu verzweifeln.
Das einzelne Sterben bleibt freilich schrecklich, daran gibt es nichts zu beschönigen, und wer daran zweifelt, mag sich in der Schlaganfallstation oder der Onkologie des nächstgelegenen Krankenhauses eines Besseren belehren lassen. Das Kunststück van der Staps aber besteht darin, ihre Leser, namentlich diejenigen unter ihnen, die mit dem Gift des Naturalismus infiziert sind, daran zu erinnern, dass aus der Begegnung mit dem Tod zugleich das Wunder der Kultur und die Würde des Menschen entspringen.
MICHAEL PAWLIK
Sophie van der Stap: "Morgen bin ich wieder da". Die Suche nach meinem zweiten Leben. Aus dem Niederländischen von Barbara Heller. Droemer Verlag, München 2009. 249 S., br., 16,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wer, vom Krebs schon gezeichnet, dem Tod noch einmal entrinnen konnte, schaut sein Leben mit anderen Augen an. Das Beispiel der Sophie van der Stap.
Er habe eine gute Nachricht, erklärte der Arzt. Die tödliche Diagnose sei ein Irrtum gewesen, es sei alles in bester Ordnung, das Leben könne weitergehen wie bisher. Der Rezensent glaubte seinen Ohren nicht zu trauen und fragte ein-, zwei-, dreimal nach. Ja, bestätigte der Arzt, schon leicht ungeduldig werdend, so sei es, der Computertomograph habe ein falsches Bild geliefert, aber jetzt müsse er weiter, die nächsten Patienten warteten. Es war vierzehn Uhr. Der Rezensent erinnerte sich daran, dass fünfhundert Kilometer entfernt soeben die Beerdigung eines seiner Studienfreunde begann, der mit zweiundvierzig Jahren an einem Gehirntumor verstorben war. Innerlich jubelte er, und zugleich schämte er sich seiner Freude. Selber davongekommen zu sein, während der andere gehen musste - wie konnte er dies vor dem Toten rechtfertigen?
In ihrem bewegenden Buch "Morgen bin ich wieder da" verrät die junge holländische Autorin Sophie van der Stap, dass sie sich die gleiche Frage gestellt hat, während sie am Sterbebett einer Freundin saß. Beide waren frühzeitig an Krebs erkrankt, aber während van der Stap wider alles Erwarten geheilt wurde, erlag ihre Schicksalsgenossin der Krankheit. "Ich hatte ein Problem damit, der Glückspilz von uns beiden zu sein und meine Freundin zu meinen Füßen elend sterben zu sehen. Weitaus schlimmer war es jedoch, die Hauptperson zu sein, die allein übrig bleiben würde in einer Geschichte, in der das Leben mehr zu erzählen hat als der Tod. Ich wollte nicht mehr der Fokus meines eigenen Lebens sein. Mehr noch: Ich war es nicht mehr. Zumindest nicht hier, auf dieser kleinen Fläche, wo ich völlig absorbiert war von der Geschichte einer anderen."
Als van der Stap später das Krankenhaus verließ, an einem sonnigen, warmen Frühlingsabend, bemerkte sie, dass in der Stadt ein großes Fest im Gange war. "Ich schaute nach links, ich schaute nach rechts. Links wurde gefeiert, rechts lag meine Freundin im Sterben. Und ich stand dazwischen, genau in der Mitte zwischen Leben und Tod. Ein Ort, an dem ich mich noch heute befinde." Dabei hat van der Stap keinen Aufwand gescheut, um diesem Nichtort zu entkommen. Von Amsterdam reist sie nach Buenos Aires, von Buenos Aires flüchtet sie sich in die Einsamkeit der argentinischen Bergwelt, von dort weiter nach Rio, dann in das wohl unvermeidliche Tibet, schließlich nach Hongkong. Am Ende aber muss sie sich eingestehen, dass sie sich keinen Schritt von dem entfernt hat, wovor sie wegzulaufen versuchte. "Es scheint, als wollte der Tod mich nicht mehr loslassen, nachdem er mich von beiden Seiten so fest umarmt hat. Ich sitze gefangen in einer anderen Perspektive, einer Perspektive, die nicht zu den Träumen einer vierundzwanzigjährigen Frau gehört."
Die Perspektive, gegen die van der Stap sich über weite Strecken ihres Buches hinweg mit Händen und Füße wehrt, ist diejenige der Machtlosigkeit und des Sichfügens. Genügte es nicht, dass sie während ihrer Krankheit erfahren musste, wie sie immer weiter von ihren bisherigen Lebensplänen abgedrängt wurde, und dass sie hilflos wie ein manövrierunfähiges Schiff dem Sturm ihrer Angst und Verzweiflung ausgesetzt war? War es nicht höchste Zeit, dies alles hinter sich zurückzulassen und den Faden des Lebens dort wiederaufzunehmen, wo sie ihn, der Not gehorchend, zuvor hatte fallenlassen? An Bekundungen ihrer Entschlossenheit zu selbstmächtiger Existenz lässt van der Stap es nicht fehlen. Zeit sei nicht etwas, dem man sich still und leise unterordne. "Zeit ergreift man mit beiden Händen, füllt sie mit allen Träumen, die man hat, und biegt sie nach dem eigenen Willen zurecht." Das liest sich so glatt, als sei es geradewegs aus einem Lehrbuch der Selbstverwirklichungskunst abgeschrieben worden. Aber mit jeder neuen Flucht van der Staps klingt es hektischer, ja panischer. Mit tiefem Erstaunen, das sich stellenweise zu blankem Entsetzen steigert, muss die Autorin feststellen, dass die alten Selbstsuggestionsformeln nicht mehr funktionieren. Das Rendezvous mit dem Tod hat ihnen ein für alle Mal die Kraft geraubt. Am Ende muss van der Stap sich eingestehen, dass wir nicht die Herren unseres Lebens sind. "Die Kugel, auf der ich balanciere, rollt weiter bergab. Ich rolle mit und passe mich den Umständen an, die mir gegeben werden. Dadurch wird die Summe der Dinge, die mir widerfahren, deutlich höher als die Summe der Dinge, die ich mir einmal für mich vorgestellt habe." Aller Autonomierhetorik zum Trotz bestehen unsere Biographien weniger darin, die äußeren Verhältnisse dem eigenen Willen zu unterwerfen, als vielmehr darin, das Schwere, welches sie bringen, mit Anstand zu ertragen.
Aber steht es uns nicht wenigstens offen, uns der einzelnen Augenblicke zu bemächtigen und, wie van der Stap es formuliert, von Moment zu Moment zu reisen, ohne uns irgendwo dauerhaft niederzulassen? Die Autorin muss erfahren, dass auch diese Rückzugsposition der unerbittlich drängenden Macht des Todes nicht standhält. Zwar ist es ein ehrenwertes Unterfangen, einige verdichtete Augenblicke vor dem Rad der unablässig fortrollenden Zeit in Sicherheit zu bringen und ihnen in unserer Erinnerung ein bescheidenes Asyl zu gewähren. Als allgemeine Lebensform taugt ein solcher Pointillismus aber nicht. "Denn ein Moment ist nichts wert, wenn man keine Vergangenheit hat, an der man sein Glück überprüfen kann, oder keine Zukunft, auf die man seinen Tag ausrichten kann. Ein Moment ohne Gestern und Morgen ist letzten Endes nicht mehr als die ständige Wiederholung desselben Fragments in einem anderen Umfeld." Er ist so langweilig und leer wie ein Musikstück, das aus einem einzigen Ton besteht.
Die Selbstverwirklichungsrhetorik ist untrennbar mit der Ideologie des Besitzindividualismus verbunden. Dieser entspricht es, das menschliche Leben nach Maßgabe eines eigentumsrechtlichen Kategoriensystems zu deuten: als den Inbegriff einer Summe von Gütern, die ihrem Inhaber zu dessen freier Verfügung zugeordnet sind. Van der Stap zeigt demgegenüber, dass das Phänomen der menschlichen Existenz unweigerlich verfehlt, wer in besitzrechtlichen Kategorien über es spricht. Unser Dasein gehört uns nicht. Wir sind nur Gäste, flüchtige Schemen, die sich häufig bei weitem zu wichtig nehmen. Individualität - so gibt diese höchst individualistisch sprechende Autorin zu verstehen - gewinnen wir nicht, indem wir uns an irgendwelchen Authentizitätsritualen beteiligen, sondern indem wir die Pflichten, die uns in unseren Verhältnissen zuwachsen, ordentlich erfüllen, das Los, das uns zugedacht ist, tragen, ohne zu verzweifeln.
Das einzelne Sterben bleibt freilich schrecklich, daran gibt es nichts zu beschönigen, und wer daran zweifelt, mag sich in der Schlaganfallstation oder der Onkologie des nächstgelegenen Krankenhauses eines Besseren belehren lassen. Das Kunststück van der Staps aber besteht darin, ihre Leser, namentlich diejenigen unter ihnen, die mit dem Gift des Naturalismus infiziert sind, daran zu erinnern, dass aus der Begegnung mit dem Tod zugleich das Wunder der Kultur und die Würde des Menschen entspringen.
MICHAEL PAWLIK
Sophie van der Stap: "Morgen bin ich wieder da". Die Suche nach meinem zweiten Leben. Aus dem Niederländischen von Barbara Heller. Droemer Verlag, München 2009. 249 S., br., 16,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main