Nach einer Liebesnacht mit der wesentlich älteren Babs Stanebein wacht der junge Pizzabote Tom morgens auf und weiß nicht mehr, wer die Frau neben ihm ist, was geschehen ist und wo er eigentlich ist. Erst allmählich und bruchstückhaft kommen die Erinnerungen wieder: Es dämmert ihm, daß er am Vorabend jemanden niedergeschlagen und beraubt hat. Toms Leben, aber auch sein Geist sind aus den Fugen geraten, er flieht vor dem Mann, den er angegriffen hatte, ohne Schuhe auf die Straße - es ist Silvester -, folgt einer fremden Frau in ihre Wohnung und landet am Ende völlig zerrüttet bei San, seiner Freundin.
Der zweite Teil erzählt aus der Sicht von Veit, der straffällig geworden ist und von zu Hause abhaut, da sich seine Mutter ohnehin nicht um ihn kümmert. Er wird beim Trampen von einem Müllfahrer mitgenommen und gerät in dessen verworrene Lebensverhältnisse, wobei sich herausstellt, daß eines seiner Kinder der schizoide Tom ist, ein anderes San. Am Ende kehrt Veit zu seiner Mutter zurück, und es kommt zu einer prekären Versöhnung. In der dritten Geschichte trifft der Leser nun auf Babs Stanebein, die über ihren Liebhaber, ihre Nachbarin und ihr Leben räsonniert und einen mißglückten Versuch unternimmt, sich arbeitslos zu melden.
Atemlos, sprachmächtig, wie in einem Fiebertraum, zieht uns diese Prosa in ihren Bann, entfaltet sich der Roman dieser begabten Autorin durch drei Geschichten, die sich überlagern und ergänzen, wobei der Schluß in den Anfang zurückführt. Der Debutroman von Claudia Klischat zeichnet nicht nur ein Bild sich auflösender Familienverhältnisse und des zerfallenden Bewußtseins, er ist von einer brillanten und nervösen Schönheit, die etwas Erlösendes besitzt.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Der zweite Teil erzählt aus der Sicht von Veit, der straffällig geworden ist und von zu Hause abhaut, da sich seine Mutter ohnehin nicht um ihn kümmert. Er wird beim Trampen von einem Müllfahrer mitgenommen und gerät in dessen verworrene Lebensverhältnisse, wobei sich herausstellt, daß eines seiner Kinder der schizoide Tom ist, ein anderes San. Am Ende kehrt Veit zu seiner Mutter zurück, und es kommt zu einer prekären Versöhnung. In der dritten Geschichte trifft der Leser nun auf Babs Stanebein, die über ihren Liebhaber, ihre Nachbarin und ihr Leben räsonniert und einen mißglückten Versuch unternimmt, sich arbeitslos zu melden.
Atemlos, sprachmächtig, wie in einem Fiebertraum, zieht uns diese Prosa in ihren Bann, entfaltet sich der Roman dieser begabten Autorin durch drei Geschichten, die sich überlagern und ergänzen, wobei der Schluß in den Anfang zurückführt. Der Debutroman von Claudia Klischat zeichnet nicht nur ein Bild sich auflösender Familienverhältnisse und des zerfallenden Bewußtseins, er ist von einer brillanten und nervösen Schönheit, die etwas Erlösendes besitzt.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.11.2005Junge Hoffnungen
ES WURDE ZEIT, daß die junge deutsche Literatur sich der sozialen Wirklichkeit zuwendet. Die Leipziger Autorin Claudia Klischat (geboren 1970) hat in diesem Frühjahr mit ihrem Romandebüt auf radikale Weise versucht, die Abgründe der Gesellschaft auszuleuchten. Ihr virtuos komponiertes Triptychon erzählt aus drei verschiedenen Perspektiven eine tragische Geschichte von Mißbrauch und Traumatisierung - ein mitreißender Bewußtseinsstrom aus der Vorstadthölle. In ein ganz anderes Milieu führt das Debüt des 1976 in Pinneberg geborenen Arztes Jens Petersen. Er erzählt, psychologisch überzeugend, eine Vater-Sohn-Geschichte, in der die Leere nach dem Tod der Mutter von einer polnischen Haushaltshilfe etwas zu handgreiflich ausgefüllt wird - ein leiser, melancholischer Adoleszenzroman. In Marion Poschmanns "Schwarzweißroman" reist eine junge Studentin zu ihrem Vater, der im unwirtlichen Magnitogorsk als Ingenieur arbeitet. Der zweite Roman der jungen, vor allem als Lyrikerin bekannt gewordenen Autorin verbindet die Erfahrung der Fremde mit einer Reflexion über Individualität in der Moderne und zeigt, wie der einzelne im Kraftfeld anonymer Strukturen zu verschwinden droht.
rik.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
ES WURDE ZEIT, daß die junge deutsche Literatur sich der sozialen Wirklichkeit zuwendet. Die Leipziger Autorin Claudia Klischat (geboren 1970) hat in diesem Frühjahr mit ihrem Romandebüt auf radikale Weise versucht, die Abgründe der Gesellschaft auszuleuchten. Ihr virtuos komponiertes Triptychon erzählt aus drei verschiedenen Perspektiven eine tragische Geschichte von Mißbrauch und Traumatisierung - ein mitreißender Bewußtseinsstrom aus der Vorstadthölle. In ein ganz anderes Milieu führt das Debüt des 1976 in Pinneberg geborenen Arztes Jens Petersen. Er erzählt, psychologisch überzeugend, eine Vater-Sohn-Geschichte, in der die Leere nach dem Tod der Mutter von einer polnischen Haushaltshilfe etwas zu handgreiflich ausgefüllt wird - ein leiser, melancholischer Adoleszenzroman. In Marion Poschmanns "Schwarzweißroman" reist eine junge Studentin zu ihrem Vater, der im unwirtlichen Magnitogorsk als Ingenieur arbeitet. Der zweite Roman der jungen, vor allem als Lyrikerin bekannt gewordenen Autorin verbindet die Erfahrung der Fremde mit einer Reflexion über Individualität in der Moderne und zeigt, wie der einzelne im Kraftfeld anonymer Strukturen zu verschwinden droht.
rik.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.04.2006In Schmutz und Dreck Dinge finden, die leuchten
Von wegen neue Bürgerlichkeit: Die deutsche Literatur begibt sich in die sozialen Randzonen und entdeckt die Helden der Unterschicht
Eigentlich beginnen alle großen Leipziger Straßen in der Mitte der Stadt. Von da aus führen sie schnurgerade in alle Himmelsrichtungen und jeweils tief in die Peripherie hinein. Je weiter sie sich dabei vom Zentrum entfernen, desto schwächer werden sie. Steht am Anfang noch Haus neben Haus und findet sich ein Geschäft neben dem anderen, so lösen sich die Straßen, ganz wie Strahlen der Sonne, immer weiter auf, bis die Löcher zwischen den Häusern schließlich größer sind als diese selbst und aus dem Körper der Stadt längst sanft eine Landschaft geworden ist.
An solch einem ausfransenden Ende wohnt Clemens Meyer. Hier schrieb er sechs Jahre lang an seinem Roman „Als wir träumten” (erschienen im S. Fischer Verlag). Er blickt von seiner Wohnung aus auf eine riesige, wilde Brache, an deren Ende die Umrisse einer stillgelegten Fabrik zu sehen sind. Im Haus links davon wohnt keiner mehr, der Bauch des Gebäudes ist mit Plakaten verklebt, in den Stockwerken darüber schauen leere Fenster wie tote Augen herab. Das Haus rechts davon steht nicht mehr, dann kommt ein Bahndamm, später eine Tankstelle.
Sozialhilfe und Hartz IV
Hier, im schrumpfenden Leipziger Osten, spielt auch Meyers Roman über eine Nachwendejugend zwischen Autoklau, Alkohol, Drogentod und Jugendhaftanstalt, der zu einem der erfolgreichsten Bücher dieses Frühjahrs geworden ist und vor allem durch seinen klaren, authentischen Blick auf die Verhältnisse in den sozialen Randlagen der Gesellschaft überzeugt. Doch längst ist Clemens Meyer mit einem solchen Sujet nicht mehr allein. In den letzten Monaten sind von jungen deutschen Autoren wie Kirsten Fuchs, Claudia Klischat, Marion Poschmann oder Jens Petersen Romane erschienen, die in der sozialen Wirklichkeit der deutschen Unterschichten spielen. Sie alle sind in der Ära der rot-grünen Koalition entstanden und erzählen mehr von Arbeitsämtern, Ich-AGs, Arbeitslosigkeit, Sozialhilfe und Hartz IV als von einer neuen Bürgerlichkeit, die so mancher zugereiste Feuilletonist glaubt, im Kulturbetrieb entstehen zu sehen.
Von all diesen Autoren wirkt Clemens Meyer wahrscheinlich am stärksten, als käme er aus seinem eigenen Text. Der 28-Jährige ist bis auf den Kopf am ganzen Körper tätowiert, zumindest hat er das in Interviews oft gesagt. Heute trägt er einen langärmeligen Pullover, und nur an den Rändern schauen ein paar blaue Striche hervor. Vor seinem Studium am Leipziger Literaturinstitut hat er auf dem Bau und als Wachmann gearbeitet, und wenn er sich daran erinnert, wie er Zementsäcke durch Treppenhäuser geschleppt hat, macht ihn das ähnlich stolz wie sein Literaturerfolg. „Man stelle sich das einmal vor, noch vor ein paar Jahren habe ich hier ohne Geld rumgekrebst und jetzt bin ich Autor im Fischer Verlag!”, ruft er - und vermisst dabei seine Fallhöhe vielleicht doch ein wenig zu großzügig. Auf jeden Fall wird er sich nun endlich ein Konto einrichten und seine Schulden bezahlen, die hat er nämlich überall.
Die Berliner Autorin Kirsten Fuchs dagegen ist eine Ich-AG, zumindest entstand ihr hochgelobtes Debüt „Die Titanic und Herr Berg” unter dieser Rechtsform. Eine Sozialhilfeempfängerin verliebt sich hier in ihren Betreuer auf dem Amt, einen längst zynisch und stumpf gewordenen Angestellten einer öffentlichen Behörde, der entscheidet, wem er Stütze gewährt und wem nicht, und dabei denkt: „Erzählt mir doch alle das Allertraurigste, das euch einfällt. Aus welchem Kriegsgebiet seid ihr geflüchtet? Habt ihr Moos gefressen? Wer hat euch vergewaltigt, der Vater oder der Stiefvater?” Kommt er am Abend nachhause, legt er sich aufs Bett und macht sich ein Bier auf: „Ich denke beim Wichsen an nichts. Ich will auch nicht, dass irgendwer beim Wichsen an mich denkt. So weit kommts noch. Ich komme nicht, wenn ich an jemanden denke.”
Plötzlich taucht da ein knapp 20-jähriges Mädchen auf und dreht den Spieß einmal um. Sie beantragt weniger, als dass sie geben will: „Ich müsste mich nackt ausziehen und meine Backen nach außen krempeln. Ich müsste mich zeigen, wie ich bin, nackt, und was ich habe, nichts, mich.” Sie beantragt also Sex auf einem Sozialamt, und eine sonderbare, weil leichtfüßig am Abgrund taumelnde und doch beängstigende Liebesgeschichte nimmt ihren Anfang, die die gelernte Tischlerin Kirsten Fuchs physisch und explizit erzählt, wie es so kunstvoll vor ihr wohl noch keine deutsche Schriftstellerin getan hat.
Auch die ebenfalls in Leipzig lebende, 1970 in Bayern geborene Claudia Klischat verdient ihr Geld durch oder mit dem Arbeitsamt: Sie gibt dort Integrationskurse für alleinstehende Sozialhilfeempfängerinnen, in denen sie den Frauen beibringt, wie man kommuniziert, wie man sich gegen Mobbing wehrt und in Bewerbungsgesprächen verhält. Einige Teilnehmerinnen haben gerade Clemens Meyers Roman gelesen, nachdem die Leipziger Bild-Zeitung ihn groß mit all seinen Tattoos abgebildet hatte. Die Frauen sind vom Buch hellauf begeistert.
Eine Reaktion, die sich Claudia Klischat selbst für ihren Roman „Morgen. Später Abend” nur wünschen kann. Freunde brachen die Lektüre mit den Worten ab, so viel Härte nicht ertragen zu können, und nun zweifelt die Autorin mitunter daran, ob ihr Stoff ein Publikum finden kann. Klischat, der Name verweist auf litauische Vorfahren, stammt aus einem Ort mit einem großen Aussiedlerlager. Sie wuchs auf in einem bildungsfernen Milieu voll fremder, umherkreisender Identitäten und ständigem Anpassungsdruck. So erzählt auch der Roman, der sich aus drei Kapiteln mit jeweils einem Bewusstseinsstrom zusammensetzt, von einer Gruppe Menschen, deren Leben aus den Fugen geraten ist. Der Pizzafahrer Tom erinnert sich nach schwer durchzechter Nacht, dass er jemanden ausgeraubt hat, während der straffällige Veit auf der Flucht zufällig in der Familie landet, aus der Tom stammt und dort auf einen analphabetischen Vater und Geschwister trifft, deren Erzeuger dann aber doch in der Nachbarschaft wohnen. Bei der arbeitslosen und alkoholabhängigen Babs schließlich endet der Erzählreigen am Morgen genau dort, wo er gut 300 Seiten zuvor am Abend begonnen hatte.
Raus aus der Mittelstandsidylle
Unermüdlich wurde in den letzten Jahren geklagt, die junge deutsche Literatur sei zu unpolitisch, zu selbstverliebt und irrelevant. Vor allem ältere Generationen von Kritikern, sich der eigenen Jugendzeit in den 70er Jahren (oder den Erzählungen darüber) nostalgisch erinnernd, erneuerten dieses zu einem Klischee gewordene Postulat immer wieder, ohne die Banalität der Verhältnisse in den 90er Jahren als Kontinuität der satten Bundesrepublik vor dem Mauerfall zu begreifen. Und Literatur kann eben nur so relevant sein, wie die Wirklichkeit, der sie entstammt.
Es sind nun junge Autoren wie Claudia Klischat, Kirsten Fuchs und Clemens Meyer, die aus dieser 90er Jahre Mittelstandsidylle ausbrechen. Sie schreiben ausnehmend politische, zeitnahe und drastische Romane, stellen aber gleichzeitig wie Kirsten Fuchs klar: „Ich bin kein besonders politischer Mensch. Ich schreibe in der normalen Sprache vieler Menschen.” Und Clemens Meyer sagt: „Ich schreibe kein Buch, um irgendwelcher Aussagen willen. Ich interessiere mich für Menschen und will in unguten Welten, in Schmutz und Dreck, Dinge finden, die leuchten.” Oder Claudia Klischat, die betont: „Politik kann solche Zustände nicht abfedern.” Ihre Romane sollen also für sich stehen. Sie entsagen dem oft zweifelhaft biederen und zuletzt wieder im Bundestagswahlkampf nahezu vergeblich eingeforderten Engagement und reklamieren für sich nichts weiter, als eine krisenhafte Gegenwart, die längst Normalität geworden ist, in den literarischen Blick zu nehmen.
Dabei sind es weniger die Verhältnisse selbst, als der Blick auf sie, der sich verändert hat. Auch die Figuren in den Texten von Judith Hermann, Franziska Gerstenberg, Marianna Leky und anderen verhielten sich abseitig und inkompatibel; auch sie waren entrückte Außenseiter, Aussteiger, Underdogs und Überlebenskünstler. Über diese legte sich dann jedoch ein melancholischer, verklärender, entschleunigender literarischer Blick, der die Protagonisten allenfalls psychologisch, nie aber sozial determiniert erfasste. Eine vergangenheitslose, gegenwartsgesättigte Literatur jenseits aller Klassen und Schichten war das Ergebnis.
Vielleicht stellt sich ja im Nachhinein heraus, dass das der eigentliche Traum des Post-Wende-Jahrzehnts gewesen ist, in dem die wohlstandsfette Ex-BRD und die erklärtermaßen klassenlose Ex-DDR aufeinander trafen?
Die neue Unterschichten-Literatur dieser Tage jedenfalls hat solche Illusionen hinter sich gelassen. Ihr Blick ist klarer, unverstellter und auch kälter geworden. Diese Autoren kennen die Wirklichkeit, sie sind mit ihr reifer geworden. Clemens Meyer beschreibt denn auch jene entrückte Prosa so: „In diesen Texten sitzen Leute vor dem Spiegel, kämmen sich die Haare und darüber vergehen Generationen.” Kirsten Fuchs erklärt, ihre Figuren weniger interessant, als vielmehr besorgniserregend zu finden.
Ganz wie die Umrisse der stillgelegten Fabrik vor den Fenstern von Clemens Meyer tauchen in ihren Romanen nun auch die Umrisse der Gesellschaft wieder auf. Mithin der Staat an sich, in Form von Behörden, Ämtern, Vollzugsanstalten, Polizisten, kehrt zurück in die junge deutsche Literatur und bildet nach Jahren langer Abwesenheit so etwas wie die Leinwand für die neuen Helden aus der Unterschicht. JANA HENSEL
Kirsten Fuchs, Claudia Klischat und Clemens Meyer
Fotos: Ekko von Schwichow/Hartmut Pöstges/Jörg Steinmetz
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Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Von wegen neue Bürgerlichkeit: Die deutsche Literatur begibt sich in die sozialen Randzonen und entdeckt die Helden der Unterschicht
Eigentlich beginnen alle großen Leipziger Straßen in der Mitte der Stadt. Von da aus führen sie schnurgerade in alle Himmelsrichtungen und jeweils tief in die Peripherie hinein. Je weiter sie sich dabei vom Zentrum entfernen, desto schwächer werden sie. Steht am Anfang noch Haus neben Haus und findet sich ein Geschäft neben dem anderen, so lösen sich die Straßen, ganz wie Strahlen der Sonne, immer weiter auf, bis die Löcher zwischen den Häusern schließlich größer sind als diese selbst und aus dem Körper der Stadt längst sanft eine Landschaft geworden ist.
An solch einem ausfransenden Ende wohnt Clemens Meyer. Hier schrieb er sechs Jahre lang an seinem Roman „Als wir träumten” (erschienen im S. Fischer Verlag). Er blickt von seiner Wohnung aus auf eine riesige, wilde Brache, an deren Ende die Umrisse einer stillgelegten Fabrik zu sehen sind. Im Haus links davon wohnt keiner mehr, der Bauch des Gebäudes ist mit Plakaten verklebt, in den Stockwerken darüber schauen leere Fenster wie tote Augen herab. Das Haus rechts davon steht nicht mehr, dann kommt ein Bahndamm, später eine Tankstelle.
Sozialhilfe und Hartz IV
Hier, im schrumpfenden Leipziger Osten, spielt auch Meyers Roman über eine Nachwendejugend zwischen Autoklau, Alkohol, Drogentod und Jugendhaftanstalt, der zu einem der erfolgreichsten Bücher dieses Frühjahrs geworden ist und vor allem durch seinen klaren, authentischen Blick auf die Verhältnisse in den sozialen Randlagen der Gesellschaft überzeugt. Doch längst ist Clemens Meyer mit einem solchen Sujet nicht mehr allein. In den letzten Monaten sind von jungen deutschen Autoren wie Kirsten Fuchs, Claudia Klischat, Marion Poschmann oder Jens Petersen Romane erschienen, die in der sozialen Wirklichkeit der deutschen Unterschichten spielen. Sie alle sind in der Ära der rot-grünen Koalition entstanden und erzählen mehr von Arbeitsämtern, Ich-AGs, Arbeitslosigkeit, Sozialhilfe und Hartz IV als von einer neuen Bürgerlichkeit, die so mancher zugereiste Feuilletonist glaubt, im Kulturbetrieb entstehen zu sehen.
Von all diesen Autoren wirkt Clemens Meyer wahrscheinlich am stärksten, als käme er aus seinem eigenen Text. Der 28-Jährige ist bis auf den Kopf am ganzen Körper tätowiert, zumindest hat er das in Interviews oft gesagt. Heute trägt er einen langärmeligen Pullover, und nur an den Rändern schauen ein paar blaue Striche hervor. Vor seinem Studium am Leipziger Literaturinstitut hat er auf dem Bau und als Wachmann gearbeitet, und wenn er sich daran erinnert, wie er Zementsäcke durch Treppenhäuser geschleppt hat, macht ihn das ähnlich stolz wie sein Literaturerfolg. „Man stelle sich das einmal vor, noch vor ein paar Jahren habe ich hier ohne Geld rumgekrebst und jetzt bin ich Autor im Fischer Verlag!”, ruft er - und vermisst dabei seine Fallhöhe vielleicht doch ein wenig zu großzügig. Auf jeden Fall wird er sich nun endlich ein Konto einrichten und seine Schulden bezahlen, die hat er nämlich überall.
Die Berliner Autorin Kirsten Fuchs dagegen ist eine Ich-AG, zumindest entstand ihr hochgelobtes Debüt „Die Titanic und Herr Berg” unter dieser Rechtsform. Eine Sozialhilfeempfängerin verliebt sich hier in ihren Betreuer auf dem Amt, einen längst zynisch und stumpf gewordenen Angestellten einer öffentlichen Behörde, der entscheidet, wem er Stütze gewährt und wem nicht, und dabei denkt: „Erzählt mir doch alle das Allertraurigste, das euch einfällt. Aus welchem Kriegsgebiet seid ihr geflüchtet? Habt ihr Moos gefressen? Wer hat euch vergewaltigt, der Vater oder der Stiefvater?” Kommt er am Abend nachhause, legt er sich aufs Bett und macht sich ein Bier auf: „Ich denke beim Wichsen an nichts. Ich will auch nicht, dass irgendwer beim Wichsen an mich denkt. So weit kommts noch. Ich komme nicht, wenn ich an jemanden denke.”
Plötzlich taucht da ein knapp 20-jähriges Mädchen auf und dreht den Spieß einmal um. Sie beantragt weniger, als dass sie geben will: „Ich müsste mich nackt ausziehen und meine Backen nach außen krempeln. Ich müsste mich zeigen, wie ich bin, nackt, und was ich habe, nichts, mich.” Sie beantragt also Sex auf einem Sozialamt, und eine sonderbare, weil leichtfüßig am Abgrund taumelnde und doch beängstigende Liebesgeschichte nimmt ihren Anfang, die die gelernte Tischlerin Kirsten Fuchs physisch und explizit erzählt, wie es so kunstvoll vor ihr wohl noch keine deutsche Schriftstellerin getan hat.
Auch die ebenfalls in Leipzig lebende, 1970 in Bayern geborene Claudia Klischat verdient ihr Geld durch oder mit dem Arbeitsamt: Sie gibt dort Integrationskurse für alleinstehende Sozialhilfeempfängerinnen, in denen sie den Frauen beibringt, wie man kommuniziert, wie man sich gegen Mobbing wehrt und in Bewerbungsgesprächen verhält. Einige Teilnehmerinnen haben gerade Clemens Meyers Roman gelesen, nachdem die Leipziger Bild-Zeitung ihn groß mit all seinen Tattoos abgebildet hatte. Die Frauen sind vom Buch hellauf begeistert.
Eine Reaktion, die sich Claudia Klischat selbst für ihren Roman „Morgen. Später Abend” nur wünschen kann. Freunde brachen die Lektüre mit den Worten ab, so viel Härte nicht ertragen zu können, und nun zweifelt die Autorin mitunter daran, ob ihr Stoff ein Publikum finden kann. Klischat, der Name verweist auf litauische Vorfahren, stammt aus einem Ort mit einem großen Aussiedlerlager. Sie wuchs auf in einem bildungsfernen Milieu voll fremder, umherkreisender Identitäten und ständigem Anpassungsdruck. So erzählt auch der Roman, der sich aus drei Kapiteln mit jeweils einem Bewusstseinsstrom zusammensetzt, von einer Gruppe Menschen, deren Leben aus den Fugen geraten ist. Der Pizzafahrer Tom erinnert sich nach schwer durchzechter Nacht, dass er jemanden ausgeraubt hat, während der straffällige Veit auf der Flucht zufällig in der Familie landet, aus der Tom stammt und dort auf einen analphabetischen Vater und Geschwister trifft, deren Erzeuger dann aber doch in der Nachbarschaft wohnen. Bei der arbeitslosen und alkoholabhängigen Babs schließlich endet der Erzählreigen am Morgen genau dort, wo er gut 300 Seiten zuvor am Abend begonnen hatte.
Raus aus der Mittelstandsidylle
Unermüdlich wurde in den letzten Jahren geklagt, die junge deutsche Literatur sei zu unpolitisch, zu selbstverliebt und irrelevant. Vor allem ältere Generationen von Kritikern, sich der eigenen Jugendzeit in den 70er Jahren (oder den Erzählungen darüber) nostalgisch erinnernd, erneuerten dieses zu einem Klischee gewordene Postulat immer wieder, ohne die Banalität der Verhältnisse in den 90er Jahren als Kontinuität der satten Bundesrepublik vor dem Mauerfall zu begreifen. Und Literatur kann eben nur so relevant sein, wie die Wirklichkeit, der sie entstammt.
Es sind nun junge Autoren wie Claudia Klischat, Kirsten Fuchs und Clemens Meyer, die aus dieser 90er Jahre Mittelstandsidylle ausbrechen. Sie schreiben ausnehmend politische, zeitnahe und drastische Romane, stellen aber gleichzeitig wie Kirsten Fuchs klar: „Ich bin kein besonders politischer Mensch. Ich schreibe in der normalen Sprache vieler Menschen.” Und Clemens Meyer sagt: „Ich schreibe kein Buch, um irgendwelcher Aussagen willen. Ich interessiere mich für Menschen und will in unguten Welten, in Schmutz und Dreck, Dinge finden, die leuchten.” Oder Claudia Klischat, die betont: „Politik kann solche Zustände nicht abfedern.” Ihre Romane sollen also für sich stehen. Sie entsagen dem oft zweifelhaft biederen und zuletzt wieder im Bundestagswahlkampf nahezu vergeblich eingeforderten Engagement und reklamieren für sich nichts weiter, als eine krisenhafte Gegenwart, die längst Normalität geworden ist, in den literarischen Blick zu nehmen.
Dabei sind es weniger die Verhältnisse selbst, als der Blick auf sie, der sich verändert hat. Auch die Figuren in den Texten von Judith Hermann, Franziska Gerstenberg, Marianna Leky und anderen verhielten sich abseitig und inkompatibel; auch sie waren entrückte Außenseiter, Aussteiger, Underdogs und Überlebenskünstler. Über diese legte sich dann jedoch ein melancholischer, verklärender, entschleunigender literarischer Blick, der die Protagonisten allenfalls psychologisch, nie aber sozial determiniert erfasste. Eine vergangenheitslose, gegenwartsgesättigte Literatur jenseits aller Klassen und Schichten war das Ergebnis.
Vielleicht stellt sich ja im Nachhinein heraus, dass das der eigentliche Traum des Post-Wende-Jahrzehnts gewesen ist, in dem die wohlstandsfette Ex-BRD und die erklärtermaßen klassenlose Ex-DDR aufeinander trafen?
Die neue Unterschichten-Literatur dieser Tage jedenfalls hat solche Illusionen hinter sich gelassen. Ihr Blick ist klarer, unverstellter und auch kälter geworden. Diese Autoren kennen die Wirklichkeit, sie sind mit ihr reifer geworden. Clemens Meyer beschreibt denn auch jene entrückte Prosa so: „In diesen Texten sitzen Leute vor dem Spiegel, kämmen sich die Haare und darüber vergehen Generationen.” Kirsten Fuchs erklärt, ihre Figuren weniger interessant, als vielmehr besorgniserregend zu finden.
Ganz wie die Umrisse der stillgelegten Fabrik vor den Fenstern von Clemens Meyer tauchen in ihren Romanen nun auch die Umrisse der Gesellschaft wieder auf. Mithin der Staat an sich, in Form von Behörden, Ämtern, Vollzugsanstalten, Polizisten, kehrt zurück in die junge deutsche Literatur und bildet nach Jahren langer Abwesenheit so etwas wie die Leinwand für die neuen Helden aus der Unterschicht. JANA HENSEL
Kirsten Fuchs, Claudia Klischat und Clemens Meyer
Fotos: Ekko von Schwichow/Hartmut Pöstges/Jörg Steinmetz
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Für Richard Kämmerlings unterscheidet sich die 1970 geborene Claudia Klischat deutlich von ihren schreibenden Generationsgenossen und -genossinnen, die, so lautet sein Lamento, "Landschaften der Kindheit oder des Nachtlebens" zum Blühen bringen, aber wohl kaum in Abgründe blicken würden. Klischat passt nicht "in dieses neue Biedermeier", spricht Kämmerlings ihr ein Kompliment aus. Nach einem Erzählband legt Klischat mit "Morgen. Später Abend" nun ihren ersten Roman vor, der sehr ehrgeizig geraten ist, wie Kämmerlings findet. Die Messlatte der Autorin hänge so hoch, stellt er fest, dass Klischat das von ihr gesteckte Ziel nicht erreichen könne. Macht nichts, behauptet er auch, die Schwächen ließen sich ertragen und zeugten trotzdem von einer Autorin, die ihren eigenen Ton, ihren eigenen Stil gefunden habe. Der Roman hat drei Teile, die auf sehr vertrackte Weise (Kämmerlings fallen dabei die Filme des Kanadiers Atom Egoyan ein) miteinander verwoben sein sollen. Erst allmählich verstehe der Leser, dass die drei Geschichten zusammenhängen und eine kaputte Familienkonstellation umreißen. In Form des inneren Monologs ihrer drei Protagonisten versuche Klischat dabei an die Darstellung zerfallenden Bewusstseins eines Joyce oder Döblin oder Canetti anzuknüpfen, erklärt Kämmerlings, eine hohe Kunstform, die Klischat nicht immer gelinge, aber manchmal einen ganz intensiven Sprachfluss zeitige, dessen Bann sich der Kritiker nicht entziehen konnte.
© Perlentaucher Medien GmbH"
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