Geschrieben im Hochsicherheitsgefängnis von Edirne - »ein Zeichen des Widerstands gegen Erdogan« FAS
Wenn eine Frau Opfer staatlicher Willkür wird, nur weil sie zur falschen Zeit auf dem Weg zur Arbeit ist. Wenn ein Vater sich gezwungen sieht, über seine Tochter zu richten, um die Ehre der Familie zu retten. Wenn einem Mädchen nur die Flucht von zu Hause bleibt, um selbst über sein Leben zu bestimmen.
Jede einzelne der Schicksalsgeschichten lässt einem den Atem stocken, weil nichts so erschütternd ist wie die Realität, aus der Selahattin Demirtas schöpft. Nur selten kommt man dem Alltag in der islamischen Welt so nahe wie in diesen Erzählungen. Konkret und ungeschönt schildern sie das Leben in der Türkei, das gespalten ist zwischen Tradition und Moderne, Ignoranz und ohnmächtiger Wut. Storys von politischer Wucht - die in der Türkei von Hunderttausenden gelesen werden.
Ausstattung: mit Banderole
Wenn eine Frau Opfer staatlicher Willkür wird, nur weil sie zur falschen Zeit auf dem Weg zur Arbeit ist. Wenn ein Vater sich gezwungen sieht, über seine Tochter zu richten, um die Ehre der Familie zu retten. Wenn einem Mädchen nur die Flucht von zu Hause bleibt, um selbst über sein Leben zu bestimmen.
Jede einzelne der Schicksalsgeschichten lässt einem den Atem stocken, weil nichts so erschütternd ist wie die Realität, aus der Selahattin Demirtas schöpft. Nur selten kommt man dem Alltag in der islamischen Welt so nahe wie in diesen Erzählungen. Konkret und ungeschönt schildern sie das Leben in der Türkei, das gespalten ist zwischen Tradition und Moderne, Ignoranz und ohnmächtiger Wut. Storys von politischer Wucht - die in der Türkei von Hunderttausenden gelesen werden.
Ausstattung: mit Banderole
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.02.2019In den Fängen der Macht
Das Debüt des türkischen Autors Selahattin Demirtas
Der türkische Journalist und Schriftsteller Can Dündar schrieb 2016 in einem seiner Kassiber aus der Haft mit bitterer Ironie: "Ins Gefängnis zu kommen ist für Autoren in der Türkei fast wie eine Stufe auf ihrer Karriereleiter, wie eine zwingend notwendige Phase, die jeder durchleben muss, um überhaupt zur Reife zu gelangen." Dass allerdings nicht jeder ein guter Autor wird, der in ein türkisches Gefängnis kommt, hatte ausgerechnet Dündars Gegenspieler, der heutige türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, schon einige Jahre zuvor bewiesen: Der kam 1999 in Haft, weil er öffentlich ein Gedicht zitiert hatte, das die Richter als volksverhetzend einstuften.
Zur literarischen Reife gelangte Erdogan dort nicht, seine Haft dürfte höchstens zu seiner Radikalisierung beigetragen haben, die heute auch dadurch sichtbar ist, dass der Autokrat gerade Journalisten und Dichter wegsperren lässt. Und doch trifft Dündars Bonmot etwas: Viele der großen türkischen Autoren wie etwa Nâzim Hikmet oder Orhan Kemal schrieben wichtige Werke hinter Gittern oder wurden dort überhaupt erst zu Schriftstellern.
Auch Selahattin Demirtas, ehemaliger Ko-Vorsitzender der türkischen Oppositionspartei HDP und der zurzeit vielleicht prominenteste politische Häftling des Landes, hat nun aus dem Gefängnis heraus sein literarisches Debüt vorgelegt. Und was für eines: Zwölf Kurzgeschichten versammelt der schmale Band, der im vergangenen Jahr sofort zum Bestseller in der Türkei wurde und seitdem in zahlreiche Sprachen übersetzt vorliegt. Verantwortlich für diesen Erfolg sind nicht vordergründige politische Botschaften in den kurzen Erzählungen. Der Grund ist offenbar deren literarische Qualität - wenngleich der Band deshalb nicht als unpolitisch eingestuft werden kann. Nicht zuletzt die Widmung macht das deutlich: "Allen misshandelten und ermordeten Frauen" ist das Werk zugeeignet, dessen titelgebende Erzählung "Seher" (ein türkische Wort für "Morgengrauen") einen "Ehrenmord" thematisiert. Seher, die zweiundzwanzigjährige Protagonistin, ist verliebt in Hayri, der ihre Liebe nur scheinbar erwidert und dann die junge Frau zusammen mit seinen Kumpanen vergewaltigt. Doch in den Augen von Sehers Familie - zumindest des männlichen Teils - trägt daran Seher die Schuld, ihr Leid habe die Ehre der Sippe beschmutzt. Der Vater zwingt daher Sehers jüngeren Bruder, die Schwester zu erschießen. Deren letzte Gedanken gelten ausgerechnet ihrem Mörder - nachdem sie sich vorher auch beim Vater entschuldigt hat. Der sich anschließende Schuss dürfte auch in der Vorstellung des Lesers noch lange nachhallen.
Eine andere Geschichte erzählt von Nazan, einer Putzfrau, die in eine Demonstration gerät, die von der Polizei brutal niedergeknüppelt wird. Auch Nazan ist unter den Verletzten, ohne zu wissen, um was es bei dem Protest ging. Doch der Albtraum beginnt erst: Einmal in den Fängen der Staatsmacht kann sie sich nicht mehr befreien und landet schließlich im Gefängnis. Auf wenigen Seiten vermag Demirtas hier aus der Perspektive einer einfachen Arbeiterin zu zeigen, was von der Demokratie in der Türkei noch übrig ist.
Überhaupt sind es solche Figuren und deren Milieus, die den Autor besonders interessieren. "Alle morsch und müde, nach Armut stinkend", das ist "unsere Welt", wie nicht nur Nazan sie kennt. In das Leben dieser Menschen bricht das Schicksal ein, dessen brutale Macht nicht immer nur mit dem Staat im Bunde sein muss. Dass das Schicksal auch den Namen "Erfolg" tragen kann, zeigt die Erzählung "Unendlich einsam", in der ein junges Architektenpärchen so sehr mit Geldverdienen beschäftigt ist, dass es sich selbst und die eigene Familie dabei verliert. Erst spät, zu spät, lernen die beiden dazu.
Demirtas interessiert sich aber nicht nur für die Außenseiter und Verlorenen der eigenen Gesellschaft, sondern auch für jene, die aus dem Nachbarland Syrien fliehen müssen, wie etwa Mina, die fünfjährige Protagonistin einer weiteren, surrealen Geschichte, die als "Meerjungfrau" endet. Nicht zuletzt durch seine knappe Sprache - kongenial von Gerhard Meier ins Deutsche übertragen - gelingt Selahattin Demirtas große Literatur auf kleinem Raum, die im Original von Zeichnungen seiner Schwester Bahar begleitet werden, auf die der Penguin Verlag in der deutschen Publikation leider verzichtet.
Mit seinen Kurzgeschichten hat sich Demirtas jedenfalls in die erste Reihe der türkischen Gegenwartsliteratur katapultiert - und doch muss man für ihn hoffen, dass sein brutaler, unfreiwilliger "Reifungsprozess" im Gefängnis umgehend zum Ende kommt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte schon seine Untersuchungshaft für unrechtmäßig erklärt. Demirtas erfährt viel Solidarität aus dem In- und Ausland: Am 27. Februar veranstaltet auch die Schriftstellervereinigung PEN-Zentrum Deutschland in Nürnberg einen Solidaritätsabend für den Politiker und Autor.
SASCHA FEUCHERT
Selahattin Demirtas: "Morgengrauen". Storys.
Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Penguin Verlag, München 2018. 144 S., geb., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Debüt des türkischen Autors Selahattin Demirtas
Der türkische Journalist und Schriftsteller Can Dündar schrieb 2016 in einem seiner Kassiber aus der Haft mit bitterer Ironie: "Ins Gefängnis zu kommen ist für Autoren in der Türkei fast wie eine Stufe auf ihrer Karriereleiter, wie eine zwingend notwendige Phase, die jeder durchleben muss, um überhaupt zur Reife zu gelangen." Dass allerdings nicht jeder ein guter Autor wird, der in ein türkisches Gefängnis kommt, hatte ausgerechnet Dündars Gegenspieler, der heutige türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, schon einige Jahre zuvor bewiesen: Der kam 1999 in Haft, weil er öffentlich ein Gedicht zitiert hatte, das die Richter als volksverhetzend einstuften.
Zur literarischen Reife gelangte Erdogan dort nicht, seine Haft dürfte höchstens zu seiner Radikalisierung beigetragen haben, die heute auch dadurch sichtbar ist, dass der Autokrat gerade Journalisten und Dichter wegsperren lässt. Und doch trifft Dündars Bonmot etwas: Viele der großen türkischen Autoren wie etwa Nâzim Hikmet oder Orhan Kemal schrieben wichtige Werke hinter Gittern oder wurden dort überhaupt erst zu Schriftstellern.
Auch Selahattin Demirtas, ehemaliger Ko-Vorsitzender der türkischen Oppositionspartei HDP und der zurzeit vielleicht prominenteste politische Häftling des Landes, hat nun aus dem Gefängnis heraus sein literarisches Debüt vorgelegt. Und was für eines: Zwölf Kurzgeschichten versammelt der schmale Band, der im vergangenen Jahr sofort zum Bestseller in der Türkei wurde und seitdem in zahlreiche Sprachen übersetzt vorliegt. Verantwortlich für diesen Erfolg sind nicht vordergründige politische Botschaften in den kurzen Erzählungen. Der Grund ist offenbar deren literarische Qualität - wenngleich der Band deshalb nicht als unpolitisch eingestuft werden kann. Nicht zuletzt die Widmung macht das deutlich: "Allen misshandelten und ermordeten Frauen" ist das Werk zugeeignet, dessen titelgebende Erzählung "Seher" (ein türkische Wort für "Morgengrauen") einen "Ehrenmord" thematisiert. Seher, die zweiundzwanzigjährige Protagonistin, ist verliebt in Hayri, der ihre Liebe nur scheinbar erwidert und dann die junge Frau zusammen mit seinen Kumpanen vergewaltigt. Doch in den Augen von Sehers Familie - zumindest des männlichen Teils - trägt daran Seher die Schuld, ihr Leid habe die Ehre der Sippe beschmutzt. Der Vater zwingt daher Sehers jüngeren Bruder, die Schwester zu erschießen. Deren letzte Gedanken gelten ausgerechnet ihrem Mörder - nachdem sie sich vorher auch beim Vater entschuldigt hat. Der sich anschließende Schuss dürfte auch in der Vorstellung des Lesers noch lange nachhallen.
Eine andere Geschichte erzählt von Nazan, einer Putzfrau, die in eine Demonstration gerät, die von der Polizei brutal niedergeknüppelt wird. Auch Nazan ist unter den Verletzten, ohne zu wissen, um was es bei dem Protest ging. Doch der Albtraum beginnt erst: Einmal in den Fängen der Staatsmacht kann sie sich nicht mehr befreien und landet schließlich im Gefängnis. Auf wenigen Seiten vermag Demirtas hier aus der Perspektive einer einfachen Arbeiterin zu zeigen, was von der Demokratie in der Türkei noch übrig ist.
Überhaupt sind es solche Figuren und deren Milieus, die den Autor besonders interessieren. "Alle morsch und müde, nach Armut stinkend", das ist "unsere Welt", wie nicht nur Nazan sie kennt. In das Leben dieser Menschen bricht das Schicksal ein, dessen brutale Macht nicht immer nur mit dem Staat im Bunde sein muss. Dass das Schicksal auch den Namen "Erfolg" tragen kann, zeigt die Erzählung "Unendlich einsam", in der ein junges Architektenpärchen so sehr mit Geldverdienen beschäftigt ist, dass es sich selbst und die eigene Familie dabei verliert. Erst spät, zu spät, lernen die beiden dazu.
Demirtas interessiert sich aber nicht nur für die Außenseiter und Verlorenen der eigenen Gesellschaft, sondern auch für jene, die aus dem Nachbarland Syrien fliehen müssen, wie etwa Mina, die fünfjährige Protagonistin einer weiteren, surrealen Geschichte, die als "Meerjungfrau" endet. Nicht zuletzt durch seine knappe Sprache - kongenial von Gerhard Meier ins Deutsche übertragen - gelingt Selahattin Demirtas große Literatur auf kleinem Raum, die im Original von Zeichnungen seiner Schwester Bahar begleitet werden, auf die der Penguin Verlag in der deutschen Publikation leider verzichtet.
Mit seinen Kurzgeschichten hat sich Demirtas jedenfalls in die erste Reihe der türkischen Gegenwartsliteratur katapultiert - und doch muss man für ihn hoffen, dass sein brutaler, unfreiwilliger "Reifungsprozess" im Gefängnis umgehend zum Ende kommt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte schon seine Untersuchungshaft für unrechtmäßig erklärt. Demirtas erfährt viel Solidarität aus dem In- und Ausland: Am 27. Februar veranstaltet auch die Schriftstellervereinigung PEN-Zentrum Deutschland in Nürnberg einen Solidaritätsabend für den Politiker und Autor.
SASCHA FEUCHERT
Selahattin Demirtas: "Morgengrauen". Storys.
Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Penguin Verlag, München 2018. 144 S., geb., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Mit seinen Kurzgeschichten hat sich Demirtas jedenfalls in die erste Reihe der türkischen Gegenwartsliteratur katapultiert.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, Sascha Feuchert