Für die renommierte Orientalistin Annemarie Schimmel waren der Orient und seine Sprachen, der Islam und seine Mystik niemals nur nüchterne Forschungsobjekte. Wie alles Orientalische seit ihrer Kindheit Teil ihres Lebens und sie selbst zur herausragenden Vermittlerin zwischen Orient und Okzident wurde, schildert sie in ihrer warmherzigen, witzigen und poetischen Autobiografie.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.11.2002Mein Damaskus? Ankara!
Annemarie Schimmels Memoiren / Von Wolfgang Günter Lerch
Warum wird man Orientalist? Annemarie Schimmel, die bekannteste Orientalistin unserer Zeit, wurde in jungen Jahren von einer Weisheit der islamischen Mystiker getroffen wie vom Blitz: "Die Menschen schlafen, und wenn sie sterben, erwachen sie." Die Mystik des Islams hat sie niemals mehr verlassen. In ihrer jetzt erschienenen Autobiographie "Morgenland und Abendland. Mein west-östliches Leben" hält sie Rückschau auf ein Gelehrtenleben, das sich in mehr als hundert Buchpublikationen, darunter einige Standardwerke, und zahllosen nationalen wie internationalen Ehrungen erfüllt. Einem breiteren Publikum wurde sie bekannt, als sie 1995 den Friedenspreis des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels erhielt und wegen strittiger Äußerungen der Preisträgerin zum Fall Rushdie ein öffentlicher Wirbel entstand, der bisweilen an ein regelrechtes Kesseltreiben erinnerte.
Es ist keine Autobiographie, die Geheimnisse enthüllte oder gar als individuelle Beichte gedacht wäre, sondern eine typische Gelehrtenbiographie. Allzu Persönliches ist ihr "haram - tabu", wie die Muslime sagen. Im munteren Plauderton beschreibt die Orientalistin die Stationen ihres Lebenswegs. Die Tochter eines Beamten, 1922 in Erfurt geboren, erwies sich schon früh als hochbegabt, wurde im protestantischen Elternhaus durch typisch bildungsbürgerliche Anregungen auf den Feldern Literatur und Musik gefördert, bewahrte sich eine Abneigung gegen Bach, begann mit fünfzehn Arabisch zu lernen, promovierte mit neunzehn und war mit dreiundzwanzig Jahren schon Professorin und jünger als die meisten ihrer Studenten. Während des Krieges war sie im Auswärtigen Amt als Übersetzerin tätig.
Für immer geprägt wurde die Gelehrte, als sie 1953 nach Ankara gerufen wurde. Für den Rezensenten sind ihre Schilderungen der Türkei in jenen Jahren fast der interessanteste Teil dieser Memoiren. Die junge, in rapider Säkularisierung begriffene Republik scheute nicht davor zurück, eine Frau und Christin als Dozentin für Religionswissenschaft an die frisch gegründete Theologische Fakultät (Ilahiyat Fakültesi) der Universität Ankara zu berufen. Mit Recht fragt Frau Schimmel, ob man sich so etwas in Deutschland auch umgekehrt vorstellen könne.
Ihren Aufenthalt in der Türkei nutzte Annemarie Schimmel zu einem gründlichen Kennenlernen des Landes. Vor allem die Stadt Konya (das antike Ikonium) wird sie nicht zu beschreiben müde, wandelte sie dort doch auf den Spuren eines ihrer spirituellen Favoriten, des großen mystischen Dichters und Denkers Maulana, Mevlana Celalettin Rumi (1207 bis 1273), der dort unter der türkisfarbenen Kuppel ruht. Im Kontakt mit den einfachen Leuten verstand sie konkret, was Mystik und Volksislam miteinander verbindet. Was die Adeptin des Religionswissenschaftlers Friedrich Heiler und des Orientalisten und Kulturphilosophen Hans Heinrich Schaeder zunächst theoretisch erworben hatte, wurde nun einsichtig. Maulanas kosmische Religiosität jenseits der Konfessionen ist für die Religionswissenschaftlerin Vorbild und Muster.
Für Orientalisten interessant sind ihre Begegnungen mit Größen des damaligen türkischen Geisteslebens, mit der konservativen Dichterin Samiha Ayverdi, mit dem progressiven Lyriker Behçet Necatigil, mit den Romanciers und Erzählern Samim Kocagöz und Hasan Ali Yücel, mit dem Maler und Dichter Bedri Rahmi Eyüboglu, dem Mystik-Forscher Abdülbaki Gölpinarli und vielen anderen. Für die Türkei waren diese fünfziger Jahre eine Zeit größerer demokratischer Öffnung, in der man wieder begann, die unter Atatürk eingeschränkten, zuweilen auch unterdrückten Traditionen unbefangener zu sehen, ja sie teilweise wiederzubeleben.
Seit den sechziger Jahren bis zu ihrer Emeritierung 1991 wirkte Annemarie Schimmel als Professorin in Bonn und Harvard. Ihre Schüler lehren auf fast allen Kontinenten. Neben den mystischen Traditionen des Islams wurde mehr und mehr der Islam des indischen Subkontinents zu Frau Schimmels wissenschaftlicher Domäne. Auf diesem in Deutschland bis dahin weitgehend unbeackerten Feld hat sie wichtige Pionierarbeit geleistet. Da sie etliche Bücher über ihre Zeit in Pakistan und über die dortige Kultur geschrieben hat, kommen ihre Aufenthalte in diesem Land in der Autobiographie nur am Rande vor. Daß sie in Amerika nie wirklich heimisch wurde, wird in dem einschlägigen Kapitel deutlich. Erst im Alter von vierzig Jahren begann Frau Schimmel, regelmäßig die arabische Welt oder Iran zu bereisen, wo sie bald zu einer Botschafterin des deutschen Geisteslebens wurde. Über Politik äußerst sie sich wenig, über Religion, Kunst, Dichtung und Kultur hingegen sehr viel.
Orientalisten schreiben selten ihre Memoiren. Ihre Wissenschaft blühte lange im Schatten von scheinbar Wichtigerem, so daß damit wenig Staat zu machen, nur eine geringe Leserschaft zu gewinnen war. Als der russische Gelehrte Kratschkowskij unter dem schönen Titel "Über arabische Handschriften gebeugt" seine Erinnerungen publizierte, bescheinigten viele dem Buch Gelehrsamkeit und Langeweile. Letztere kann man diesen Memoiren nicht vorwerfen, und an Gelehrsamkeit mangelt es ohnehin nicht. Es sind Bekenntnisse einer gelehrten Seele, deren Inneres oft von den gewalttätigen Zeitläuften letztlich nichts weiß, weil es ganz in Gott ruht.
Annemarie Schimmel: "Morgenland und Abendland". Mein west-östliches Leben. Verlag C. H. Beck, München 2002. 352 S., 32 Abb., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Annemarie Schimmels Memoiren / Von Wolfgang Günter Lerch
Warum wird man Orientalist? Annemarie Schimmel, die bekannteste Orientalistin unserer Zeit, wurde in jungen Jahren von einer Weisheit der islamischen Mystiker getroffen wie vom Blitz: "Die Menschen schlafen, und wenn sie sterben, erwachen sie." Die Mystik des Islams hat sie niemals mehr verlassen. In ihrer jetzt erschienenen Autobiographie "Morgenland und Abendland. Mein west-östliches Leben" hält sie Rückschau auf ein Gelehrtenleben, das sich in mehr als hundert Buchpublikationen, darunter einige Standardwerke, und zahllosen nationalen wie internationalen Ehrungen erfüllt. Einem breiteren Publikum wurde sie bekannt, als sie 1995 den Friedenspreis des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels erhielt und wegen strittiger Äußerungen der Preisträgerin zum Fall Rushdie ein öffentlicher Wirbel entstand, der bisweilen an ein regelrechtes Kesseltreiben erinnerte.
Es ist keine Autobiographie, die Geheimnisse enthüllte oder gar als individuelle Beichte gedacht wäre, sondern eine typische Gelehrtenbiographie. Allzu Persönliches ist ihr "haram - tabu", wie die Muslime sagen. Im munteren Plauderton beschreibt die Orientalistin die Stationen ihres Lebenswegs. Die Tochter eines Beamten, 1922 in Erfurt geboren, erwies sich schon früh als hochbegabt, wurde im protestantischen Elternhaus durch typisch bildungsbürgerliche Anregungen auf den Feldern Literatur und Musik gefördert, bewahrte sich eine Abneigung gegen Bach, begann mit fünfzehn Arabisch zu lernen, promovierte mit neunzehn und war mit dreiundzwanzig Jahren schon Professorin und jünger als die meisten ihrer Studenten. Während des Krieges war sie im Auswärtigen Amt als Übersetzerin tätig.
Für immer geprägt wurde die Gelehrte, als sie 1953 nach Ankara gerufen wurde. Für den Rezensenten sind ihre Schilderungen der Türkei in jenen Jahren fast der interessanteste Teil dieser Memoiren. Die junge, in rapider Säkularisierung begriffene Republik scheute nicht davor zurück, eine Frau und Christin als Dozentin für Religionswissenschaft an die frisch gegründete Theologische Fakultät (Ilahiyat Fakültesi) der Universität Ankara zu berufen. Mit Recht fragt Frau Schimmel, ob man sich so etwas in Deutschland auch umgekehrt vorstellen könne.
Ihren Aufenthalt in der Türkei nutzte Annemarie Schimmel zu einem gründlichen Kennenlernen des Landes. Vor allem die Stadt Konya (das antike Ikonium) wird sie nicht zu beschreiben müde, wandelte sie dort doch auf den Spuren eines ihrer spirituellen Favoriten, des großen mystischen Dichters und Denkers Maulana, Mevlana Celalettin Rumi (1207 bis 1273), der dort unter der türkisfarbenen Kuppel ruht. Im Kontakt mit den einfachen Leuten verstand sie konkret, was Mystik und Volksislam miteinander verbindet. Was die Adeptin des Religionswissenschaftlers Friedrich Heiler und des Orientalisten und Kulturphilosophen Hans Heinrich Schaeder zunächst theoretisch erworben hatte, wurde nun einsichtig. Maulanas kosmische Religiosität jenseits der Konfessionen ist für die Religionswissenschaftlerin Vorbild und Muster.
Für Orientalisten interessant sind ihre Begegnungen mit Größen des damaligen türkischen Geisteslebens, mit der konservativen Dichterin Samiha Ayverdi, mit dem progressiven Lyriker Behçet Necatigil, mit den Romanciers und Erzählern Samim Kocagöz und Hasan Ali Yücel, mit dem Maler und Dichter Bedri Rahmi Eyüboglu, dem Mystik-Forscher Abdülbaki Gölpinarli und vielen anderen. Für die Türkei waren diese fünfziger Jahre eine Zeit größerer demokratischer Öffnung, in der man wieder begann, die unter Atatürk eingeschränkten, zuweilen auch unterdrückten Traditionen unbefangener zu sehen, ja sie teilweise wiederzubeleben.
Seit den sechziger Jahren bis zu ihrer Emeritierung 1991 wirkte Annemarie Schimmel als Professorin in Bonn und Harvard. Ihre Schüler lehren auf fast allen Kontinenten. Neben den mystischen Traditionen des Islams wurde mehr und mehr der Islam des indischen Subkontinents zu Frau Schimmels wissenschaftlicher Domäne. Auf diesem in Deutschland bis dahin weitgehend unbeackerten Feld hat sie wichtige Pionierarbeit geleistet. Da sie etliche Bücher über ihre Zeit in Pakistan und über die dortige Kultur geschrieben hat, kommen ihre Aufenthalte in diesem Land in der Autobiographie nur am Rande vor. Daß sie in Amerika nie wirklich heimisch wurde, wird in dem einschlägigen Kapitel deutlich. Erst im Alter von vierzig Jahren begann Frau Schimmel, regelmäßig die arabische Welt oder Iran zu bereisen, wo sie bald zu einer Botschafterin des deutschen Geisteslebens wurde. Über Politik äußerst sie sich wenig, über Religion, Kunst, Dichtung und Kultur hingegen sehr viel.
Orientalisten schreiben selten ihre Memoiren. Ihre Wissenschaft blühte lange im Schatten von scheinbar Wichtigerem, so daß damit wenig Staat zu machen, nur eine geringe Leserschaft zu gewinnen war. Als der russische Gelehrte Kratschkowskij unter dem schönen Titel "Über arabische Handschriften gebeugt" seine Erinnerungen publizierte, bescheinigten viele dem Buch Gelehrsamkeit und Langeweile. Letztere kann man diesen Memoiren nicht vorwerfen, und an Gelehrsamkeit mangelt es ohnehin nicht. Es sind Bekenntnisse einer gelehrten Seele, deren Inneres oft von den gewalttätigen Zeitläuften letztlich nichts weiß, weil es ganz in Gott ruht.
Annemarie Schimmel: "Morgenland und Abendland". Mein west-östliches Leben. Verlag C. H. Beck, München 2002. 352 S., 32 Abb., geb., 24,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Friedrich Niewöhner schwärmt geradezu von Annemarie Schimmels Lebenserinnerungen. Nachdem er die beeindruckende akademische Karriere der enthusiastischen Islamwissenschaftlerin nacherzählt hat, kommt er zu dem Schluss, dass Schimmel nie "nur" Arabistin, Turkologin, Islamkundlerin, sondern immer "mehr" war. Ihre Autobiografie findet Niewöhner auch deshalb besonders aufschlussreich, "weil sie den Werdegang einer Gelehrten schildert, die Zeit ihres Lebens eigentlich immer 'quer' zu allen Fächern gestanden hat". Schimmel schildere ihr Leben nicht ohne Selbstironie, ihren Reisen in den Orient folge der Leser gern. Obschon ihre zahlreichen Bücher über die muslimische Kultur und ihre zahlreichen Übersetzungen nur beiläufig erwähnt werden, hat der Rezensent nun richtig Lust bekommen, sie zu lesen. "Denn", resümiert Niewöhner, "Schimmels Begeisterung für den Orient wirkt ansteckend."
© Perlentaucher Medien GmbH
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