Owin hat seine Heimat verloren.Vater und Bruder sind tot. Nichtsund niemand ist ihm geblieben.Seine neuen Gefährten sind einHund und ein halb verhungertesBettelmädchen, das den stolzenNamen Regina trägt. Ihr opferter, als sie krank wird und Pflegebraucht, das Einzige, das er nochhat: seine Freiheit. Er wird Sklaveeines Sachsen. Lange wird esdauern, bis er sich auf den Wegmachen kann, um Regina wiederzusehen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.11.2011Innere Kämpfe
Rosemary Sutcliffs Roman "Morgenwind" erzählt vom Anbrechen einer neuen Zeit.
Von Hubert Spiegel
Marcus Flavius Aquila ist die bekannteste Figur der britischen Kinderbuchautorin Rosemary Sutcliff. Generationen junger Leser reisten mit dem römischen Centurio und seinem britannischen Sklaven Esca zu den Grenzbezirken des römischen Imperiums, das Britannien zwar zu seiner Provinz gemacht hatte, aber nie vollständig unterwerfen konnte. "Der Adler der neunten Legion", geschrieben neun Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, mit dem Großbritannien aufgehört hatte, ein Weltreich zu sein. 1960 ließ die Schriftstellerin den Roman "Morgenwind" folgen, der in einer revidierten Fassung der Übersetzung Alfred Neumanns neu erschienen ist. Auch in diesem Roman scheinen der Weltkrieg und das Ende des Empires nachzuwirken. In der Wirklichkeit lagen zwischen beiden Büchern sechs Jahre, in ihrer Fiktion hatte Rosemary Sutcliff fast ein halbes Jahrtausend vergehen lassen.
Im späten sechsten Jahrhundert hat das Rom des Marcus Flavius längst aufgehört zu bestehen, die Weltmacht ist untergegangen, die Langobarden sind in Italien eingefallen, und sächsische Horden haben weite Teile Britanniens erobert. Die Nachkommen jener römischen Legionäre, die einst als Eindringlinge bekämpft wurden, ziehen Seite an Seite mit Britanniern in die letzten Gefechte gegen die übermächtigen Sachsen. "Morgenwind" beginnt mit einer letzten großen Schlacht. Aber es ist typisch für den Erzählstil dieser Autorin, dass sie nicht die Spannungsmomente des Kampfs inszeniert, sondern die Handlung einsetzen lässt, als die Schlacht bereits verloren ist.
Im Mondlicht kommt der vierzehnjährige Owin nach tiefer Ohnmacht wieder zu sich. Er hat von der Schlacht eine Speerwunde davongetragen. Vater und Bruder sind tot, und das einzige lebendige Wesen weit und breit scheint ein einer der furchterregenden Kriegshunde des gefallenen Heerführers Kyndylan zu sein. Das Tier, darauf abgerichtet, in der Schlacht dem Gegner die Kehle zu zerfetzen, wird zum treuen Gefährten des Jungen, der erkennen muss, das mit der Niederlage bei Aquae Sulis seine Welt untergegangen ist. Owin wird von Bauern gesund gepflegt, kehrt in die verlassene Stadt zurück und stößt auf das Bettlermädchen Regina. Als Regina krank wird, erkauft er ihr Überleben mit seiner Freiheit, indem er sich einem Sachsen als Sklave anbietet. Elf Jahre lang sind Regina und Owin ohne jede Nachricht voneinander. Er weiß nicht einmal, ob sein Opfer belohnt und Regina tatsächlich gesund wurde. Während dieser Zeit erwirbt er die Anerkennung und Freundschaft seines Besitzers Beornwulf, der ihm schließlich die Freiheit schenkt. Doch vorher ziehen beide noch einmal in den Krieg, denn nachdem die Britannier geschlagen sind, beginnen unter den Sachsenfürsten heftige Machtkämpfe. Beornwulf und Owin kämpfen an der Seite Königs Aethelberts von Kent, der zwar siegreich ist, aber erkennen muss, dass sein Königreich ohne mächtige Verbündete auf dem Kontinent nicht von Dauer sein wird. Aethelbert verbündet sich mit dem Papst, dessen Abgesandter, der spätere Augustinus von Canterbury, 597 mit vierzig Mönchen über den Ärmelkanal setzt.
"Morgenwind" ist ein Abenteuerroman, in dem Schwerter geschärft werden und Blut fließt, aber die dramatischsten Kämpfe im Inneren des jungen Helden stattfinden. Owin ist ein stoischer Heiliger, einer, der alles verloren hat und bei seinen Versuchen, ein neues Leben zu gewinnen, immer wieder zugunsten anderer Verzicht übt. Auch als ihm der Sklavenring längst vom Hals geschnitten ist, bleibt er gebunden: an das eigene Wort, das er dem sterbenden Beornwulf gab, als er ihm versprach, die Familie nicht zu verlassen, bevor Beornwulfs Sohn Bryni für sie sorgen könnte. So erfährt Owin nicht nur am eigenen Leib, das eine neue Zeit begonnen hat, die Britannier und Sachsen zu einem Volk vereint, sondern erkennt auch, dass diese Vereinigung im Zeichen der Religion stattfinden wird. Es ist ein christlicher Morgenwind, der dem Buch den Titel gibt und den Übergang von der Spätantike zum frühen Mittelalters markiert. Dass Rosemary Sutcliff den stolzen Mönch aus Rom als selbstgewissen Fanatiker zeichnet, der seine Mission doch nur beginnen kann, weil Machtpolitik es so will, gehört zu jenem Realismus, der ihre Bücher noch heute so lesenswert macht.
Rosemary Sutcliff: "Morgenwind". Roman.
Aus dem Englischen von Alfred Nordmann. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2011. 309 S., geb., 14,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Rosemary Sutcliffs Roman "Morgenwind" erzählt vom Anbrechen einer neuen Zeit.
Von Hubert Spiegel
Marcus Flavius Aquila ist die bekannteste Figur der britischen Kinderbuchautorin Rosemary Sutcliff. Generationen junger Leser reisten mit dem römischen Centurio und seinem britannischen Sklaven Esca zu den Grenzbezirken des römischen Imperiums, das Britannien zwar zu seiner Provinz gemacht hatte, aber nie vollständig unterwerfen konnte. "Der Adler der neunten Legion", geschrieben neun Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, mit dem Großbritannien aufgehört hatte, ein Weltreich zu sein. 1960 ließ die Schriftstellerin den Roman "Morgenwind" folgen, der in einer revidierten Fassung der Übersetzung Alfred Neumanns neu erschienen ist. Auch in diesem Roman scheinen der Weltkrieg und das Ende des Empires nachzuwirken. In der Wirklichkeit lagen zwischen beiden Büchern sechs Jahre, in ihrer Fiktion hatte Rosemary Sutcliff fast ein halbes Jahrtausend vergehen lassen.
Im späten sechsten Jahrhundert hat das Rom des Marcus Flavius längst aufgehört zu bestehen, die Weltmacht ist untergegangen, die Langobarden sind in Italien eingefallen, und sächsische Horden haben weite Teile Britanniens erobert. Die Nachkommen jener römischen Legionäre, die einst als Eindringlinge bekämpft wurden, ziehen Seite an Seite mit Britanniern in die letzten Gefechte gegen die übermächtigen Sachsen. "Morgenwind" beginnt mit einer letzten großen Schlacht. Aber es ist typisch für den Erzählstil dieser Autorin, dass sie nicht die Spannungsmomente des Kampfs inszeniert, sondern die Handlung einsetzen lässt, als die Schlacht bereits verloren ist.
Im Mondlicht kommt der vierzehnjährige Owin nach tiefer Ohnmacht wieder zu sich. Er hat von der Schlacht eine Speerwunde davongetragen. Vater und Bruder sind tot, und das einzige lebendige Wesen weit und breit scheint ein einer der furchterregenden Kriegshunde des gefallenen Heerführers Kyndylan zu sein. Das Tier, darauf abgerichtet, in der Schlacht dem Gegner die Kehle zu zerfetzen, wird zum treuen Gefährten des Jungen, der erkennen muss, das mit der Niederlage bei Aquae Sulis seine Welt untergegangen ist. Owin wird von Bauern gesund gepflegt, kehrt in die verlassene Stadt zurück und stößt auf das Bettlermädchen Regina. Als Regina krank wird, erkauft er ihr Überleben mit seiner Freiheit, indem er sich einem Sachsen als Sklave anbietet. Elf Jahre lang sind Regina und Owin ohne jede Nachricht voneinander. Er weiß nicht einmal, ob sein Opfer belohnt und Regina tatsächlich gesund wurde. Während dieser Zeit erwirbt er die Anerkennung und Freundschaft seines Besitzers Beornwulf, der ihm schließlich die Freiheit schenkt. Doch vorher ziehen beide noch einmal in den Krieg, denn nachdem die Britannier geschlagen sind, beginnen unter den Sachsenfürsten heftige Machtkämpfe. Beornwulf und Owin kämpfen an der Seite Königs Aethelberts von Kent, der zwar siegreich ist, aber erkennen muss, dass sein Königreich ohne mächtige Verbündete auf dem Kontinent nicht von Dauer sein wird. Aethelbert verbündet sich mit dem Papst, dessen Abgesandter, der spätere Augustinus von Canterbury, 597 mit vierzig Mönchen über den Ärmelkanal setzt.
"Morgenwind" ist ein Abenteuerroman, in dem Schwerter geschärft werden und Blut fließt, aber die dramatischsten Kämpfe im Inneren des jungen Helden stattfinden. Owin ist ein stoischer Heiliger, einer, der alles verloren hat und bei seinen Versuchen, ein neues Leben zu gewinnen, immer wieder zugunsten anderer Verzicht übt. Auch als ihm der Sklavenring längst vom Hals geschnitten ist, bleibt er gebunden: an das eigene Wort, das er dem sterbenden Beornwulf gab, als er ihm versprach, die Familie nicht zu verlassen, bevor Beornwulfs Sohn Bryni für sie sorgen könnte. So erfährt Owin nicht nur am eigenen Leib, das eine neue Zeit begonnen hat, die Britannier und Sachsen zu einem Volk vereint, sondern erkennt auch, dass diese Vereinigung im Zeichen der Religion stattfinden wird. Es ist ein christlicher Morgenwind, der dem Buch den Titel gibt und den Übergang von der Spätantike zum frühen Mittelalters markiert. Dass Rosemary Sutcliff den stolzen Mönch aus Rom als selbstgewissen Fanatiker zeichnet, der seine Mission doch nur beginnen kann, weil Machtpolitik es so will, gehört zu jenem Realismus, der ihre Bücher noch heute so lesenswert macht.
Rosemary Sutcliff: "Morgenwind". Roman.
Aus dem Englischen von Alfred Nordmann. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2011. 309 S., geb., 14,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main