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Semprun erzählt erstmals seine Überlebensgeschichte: Drei Monate lang gab er sich in Buchenwald als Sterbender aus, bis er letztlich an Stelle eines anderen für tot erklärt wurde. Diese List, sein offizieller Tod, rettete ihm das Leben.

Produktbeschreibung
Semprun erzählt erstmals seine Überlebensgeschichte: Drei Monate lang gab er sich in Buchenwald als Sterbender aus, bis er letztlich an Stelle eines anderen für tot erklärt wurde. Diese List, sein offizieller Tod, rettete ihm das Leben.
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Autorenporträt
Jorge Semprún, geboren am 10.12.1923 in Madrid als eines von sieben Kindern des linksliberalen Juraprofessors José Maria Semprun. Seine früh verstorbene Mutter, Susana Maura, war die Schwester des ersten Innenministers der spanischen Republik, Miguel Maura. Aufgrund des spanischen Bürgerkriegs zog José Maria Semprun im September 1936 mit seiner zweiten Frau und den Kindern nach Paris. Dort, an der Sorbonne, studierte Jorge Semprun nach der Rückkehr von einem längeren Aufenthalt in Den Haag Philosophie und schloss sich 1941 unter dem Decknamen 'Gérard' der kommunistischen Résistance an ('Francs-Tireurs et Partisans'). 1943 wurde Jorge Seprun von der Gestapo festgenommen und ins Konzentrationslager Buchenwald gebracht. Nach der Befreiung am 12. April 1945 wählte er erneut Paris als seinen Wohnort. Als Mitglied der spanischen Exil-KP begann er 1953, den Widerstand gegen das Franco-Regime zu koordinieren, und von 1957-62 wirkte er am Aufbau einer kommunistischen Untergrundorganisation

in Spanien mit. Wegen seiner Kritik am Stalinismus schloss die Kommunistische Partei ihn 1964 aus. Zu diesem Zeitpunkt hatte Jorge Semprun bereits zu schreiben begonnen. Der spanische Ministerpräsident Felipe Gonzales Marquez ernannte ihn 1988 zum Kultusminister, aber schon nach drei Jahren zog Jorge Semprun sich wieder aus der Politik zurück. 1994 wurde er mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. 2011 verstarb Jorge Semprún.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.04.2002

Überleben als ein Anderer
Mit Faulkner: Jorge Semprúns Erinnerungen an Buchenwald

Jorge Semprún wollte jahrelang nicht über seine Zeit im Konzentrationslager Buchenwald schreiben. Er wollte die Erinnerung nicht verdrängen, doch sollte diese ihn nicht an einem sehr aktiven - und im Untergrund gegen die Diktatur des Generals Franco auch sehr gefährlichen - Leben hindern. Die Leichtigkeit, mit der die Deutschen nach dem Kriegsende die unmittelbare Vergangenheit verdrängten, verwunderte ihn ebenso wie die Unwissenheit der siegreichen Alliierten.

Semprún selbst hatte sich vorgenommen, nie zu einem Veteranen zu werden. Er wollte kein Überlebender sein. "Vor den Wallfahrten, wie man die für die ehemaligen Deportierten und ihre Familien organisierten Reisen zu den Städten der einstigen Lager nannte, hat es mir immer gegraut", schrieb er in dem Roman "Was für ein schöner Sonntag" (1981). So lehnt er auch, als er noch Mitglied des Politbüros der Kommunistischen Partei Spaniens (PCE) war, die Einladung der DDR-Regierung ab, die Gedenkstätte Buchenwald zu besuchen. Aber er wollte nicht für immer schweigen.

Später, wenn niemand mehr davon rede, käme vielleicht die Zeit für ihn, darüber zu sprechen, heißt es in "Die große Reise". "Schreiben oder leben" lautete in den ersten zwei Jahrzehnten nach Buchenwald für ihn die alternative Fragestellung. Später wurde daraus "Schreiben, um weiterzuleben", und Jorge Semprún schrieb dann über Buchenwald. Sein erster Roman "Die große Reise" handelt noch vorwiegend von den in überfüllten Viehwagen transportierten hungernden Gefangenen aus Frankreich in das Konzentrationslager. Der erste Buchenwald-Roman war "Was für ein schöner Sonntag"; vorwiegend von den Tagen nach der Entlassung handelt "Leben oder Schreiben" (1994). Im vergangenen Jahr erschien in Paris "Le mort qu'il faut", jener autobiographische Roman, der jetzt auf deutsch unter dem Titel "Der Tote mit meinem Namen" vorliegt.

In dem neuen Buch erinnert sich Semprún am genauesten an Buchenwald. Es ist sicher die eindrucksvollste seiner Darstellungen des Lebens im Konzentrationslager, obwohl es auch in diesem Roman an Umwegen, Sprüngen, Rückblenden, Assoziationen und Vergleichen mit anderen Greuelkapiteln der jüngeren Geschichte - wie etwa dem GULag - nicht fehlt. Das Wechselspiel der Erinnerung ist zu einem Kennzeichen der Romantechnik Jorge Semprúns geworden. Die Obsession der Erinnerung, so meint er selbst, habe ihn wahrscheinlich zum Schriftsteller gemacht. "Der Kampf des Menschen gegen die Macht ist der Kampf der Erinnerung gegen das Vergessen." Jorge Semprún hat nichts dagegen, wenn man diesen Satz von Milan Kundera als Motto über sein ganzes Werk stellt.

In keinem seiner Bücher hat Semprún die scheußlichen Details der alltäglichen Realität in Buchenwald so genau und nüchtern dargestellt wie jetzt: die sadistische Mißhandlung und Erniedrigung durch die SS-Wächter, Fronarbeit, ständige Überwachung, völlige Erschöpfung und Hungertod. Für den im Alter von zwanzig Jahren nach Buchenwald deportierten Semprún ist der Hunger zu allen Tag- und Nachtstunden eine der intensivsten Erinnerungen geblieben. Dabei hatte er Glück: Als Mann des kommunistischen Widerstandes erhielt er mit Hilfe der geheimen, doch sehr effizienten Organisation seiner damaligen Partei eine vergleichsweise erträgliche Büroarbeit.

Buchenwald war auch eine Klassengesellschaft, in der die Minderheit aus Kriminellen bestand, die durchaus zu Spitzeldiensten für die Lagerleitung bereit waren. Die gut organisierten deutschen und russischen Kommunisten bildeten die Oberschichten. Die unterste Klasse bestand aus den sogenannten "Muselmanen", die Semprún in seiner Zeit vor den Erfahrungen im Konzentrationslager als Clochards oder Lumpenproletariat bezeichnet hätte. Es waren Menschen an der Grenze zwischen Leben und Tod, die, zur Arbeit nicht mehr fähig, nur noch auf einen qualvollen Tod warten konnten. Dort, bei diesen Menschen, findet die kommunistische Lagerorganisation auch den jungen todkranken französischen Studenten, dessen Namen Semprún annehmen wird.

Er war "Le mort qu'il faut" - der Tote, dessen es bedurfte. Den Toten brauchten sie, um Semprún eine neue Identität zu geben, nachdem aus Berlin eine Anfrage über ihn gekommen war. Wenn die deutsche Regierung sich für einen Häftling interessierte, das wußten die kommunistischen Hilfssekretäre in der Lagerverwaltung, bedeutete das gewöhnlich die Überführung des Betroffenen in ein Vernichtungslager, also in den sicheren Tod.

Die Verantwortlichen für die kommunistische Zelle Buchenwald wollten Semprún retten und ließen ihn deshalb bürokratisch sterben. Sie gaben ihm den Namen und die Papiere eines französischen "Muselmanen", der wenige Tage nach der Anfrage aus Berlin starb. Kurze Zeit später erfuhren sie dann, daß die Anfrage keine Gefahr für Semprún bedeutete. Das deutsche Außenministerium war von dem spanischen Botschafter in Paris um Auskunft gebeten worden. Diesen wiederum hatte Semprúns Vater, früher im diplomatischen Dienst der Republik, nun im französischen Exil und mit dem Botschafter Franco-Spaniens bekannt, um Informationen über seinen nach Deutschland deportierten Sohn gebeten.

Das Interesse eines "faschistischen" spanischen Botschafters für den Häftling bringt Semprún ein strenges Verhör durch die Verantwortlichen der kommunistischen Organisation in Buchenwald ein. Viele Jahre später in Prag erzählt ihm ein Mithäftling und Freund, daß die kommunistischen Zellenführer, die ihn damals der "Verbindung zum Feind" verdächtigten und in dem Buch mit ihren wirklichen Namen erscheinen, zu Opfern der stalinistischen Säuberungen wurden.

Die Rolle des Überlebenden, die Semprún nie übernehmen wollte, bringt kaum Ansehen, hingegen viel Ärger, auch Gefahren mit sich. In manchen kommunistischen Ländern wurden Überlebende, ob aus dem spanischen Bürgerkrieg oder aus den deutschen Konzentrationslagern, häufig als Verräter verfolgt. Das Glück, überlebt zu haben, meint Semprún, werde einem auch in demokratischen Ländern häufig vorgeworfen: "In allen Tönen, einschließlich dem der Gereiztheit. Oder des Argwohns, des Mißtrauens." Man solle sich schuldig fühlen, Glück gehabt zu haben, insbesondere das Glück, überlebt zu haben. Die Historiker und Soziologen mißtrauten den überlebenden Zeugen, die schließlich nicht bis an das Ende der Erfahrung gegangen, nicht daran gestorben seien. Die besten, die einzigen wahren Zeugen sind diesen Experten zufolge die Toten. Doch "wie sollen sie die wahren Zeugen, das heißt die Toten, zu ihren Kolloquien einladen? Wie sie zum Sprechen bringen?"

Semprún schreibt über Buchenwald ohne Haß und Rachegefühle, ohne Klage oder Anklage. Er berichtet sachlich und präzise und verschweigt auch nicht, was ihm häufig nicht geglaubt wurde, daß es in Buchenwald eine recht gute Bibliothek gab und er dort Hegels Werke und "Absalom, Absalom!" von William Faulkner, einem seiner Lieblingsautoren, gelesen hat. Ein Exemplar dieser ersten deutschen Ausgabe des Faulkner-Romans fand er später bei einem Besuch in der Wohnung von Hans Magnus Enzensberger, der ihm den Band schenkte. Semprún sprach, als er nach Buchenwald kam, gut Deutsch. Stellen aus der deutschen, der französischen und der spanischen Literatur wußte er auswendig, andere lernte er im Lager dazu. Literarische Zitate und die Aufführung einer Theatergruppe aus spanischen Häftlingen waren für ihn Mittel, die schlimme Wirklichkeit des Lagerlebens zeitweise zu verdrängen.

Jorge Semprún streut in diesen Roman viel mehr als in seine anderen auf französisch geschriebenen Werke spanische Sätze und Ausdrücke ein. Buchenwald, mit der dortigen Anwesenheit zahlreicher anderer "Rotspanier", hat ihn nach eigener Aussage wieder zu der spanischen Sprache zurückgebracht, nachdem er im französischen Exil in Paris zur Schule gegangen, dort studiert und in der Résistance gekämpft hatte: "Wenn ich nicht in Buchenwald mit so vielen spanischen Leidensgenossen gewesen wäre, hätte mein Leben wahrscheinlich einen anderen Verlauf genommen, wäre ich wohl nicht in den spanischen Untergrund gegangen, hätte die französische Nationalität übernommen und wäre schon früher französischer Schriftsteller und nicht vorher spanischer Politiker geworden."

Semprún schreibt weiterhin in beiden Sprachen, doch vorwiegend, wie er sagt "aus rein technischen Gründen", französisch. Sein bisher letztes Werk, "Der Tote mit meinem Namen", hätte er am liebsten - "wenn man das den Lesern zumuten könnte" - halb auf spanisch und halb auf französisch geschrieben. Mit der deutschen Literatur und Philosophie hat sich Jorge Semprún während seines ganzen Lebens beschäftigt. Er hegt keinerlei Ressentiments gegen Deutschland und die Deutschen und hat immer, auch in diesem Buch, die große deutsche Kultur den Greueltaten der deutschen Nationalsozialisten entgegengestellt. Als Kulturminister einer demokratischen spanischen Regierung hat er die intellektuellen und künstlerischen Begegnungen zwischen Spaniern und Deutschen konsequent gefördert. Die Deutschen haben erst spät von Jorge Semprún Notiz genommen. 1984 wurde er zum ersten Mal in die Bundesrepublik eingeladen von seinem deutschen Verlag nach Frankfurt. Zehn Jahre später erhielt er dann den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Jetzt sind seine Bücher sämtlich ins Deutsche übersetzt.

Jorge Semprún: "Der Tote mit meinem Namen". Aus dem Französischen übersetzt von Eva Moldenhauer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2002. 210 S., geb., 18,90 .

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.07.2002

Der einzig wahre Zeuge
Jorge Semprún auf der Suche nach dem vollständigen Zitat
Jorge Semprún tut, was er seit sechzig Jahren getan hat. Er überlegt, wie man etwas sagen kann, wofür es keine Worte gibt. Entsteht durch Zuschauen beim Leiden anderer tatsächlich, wie Aristoteles behauptet, eine stärkende „emotionale Robustheit”? Weshalb hat er, der damals zwanzigjährige politische Gefangene, Buchenwald überlebt, und die anderen nicht? Öffentlich formulierte Semprun diese Frage zum ersten Mal 1963, als der Pariser Gallimard Verlag seinen Roman über eine fünftägige Reise im Viehwagen der Eisenbahn von Compiègne nach Buchenwald herausbrachte. Geschrieben hatte „Die große Reise” der vierzigjährige, damals wegen „ketzerischer” Ideen aus der Kommunistischen Partei Spaniens ausgeschlossene Jorge Semprún, Sohn der politischen Oberschicht, Enkel des Premierministers Antonio Maura und Neffe Miguel Mauras, einem der Gründer der spanischen Republik.
Bei Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges machten die Semprúns Ferien in San Sebastian, sie konnten sich mit einem Fischerboot nach Frankreich retten.
Jorge Semprún, getrieben von den Ideologien des 20. Jahrhunderts, hat ein politisch bestimmtes Leben gelebt. Der Schüler des Pariser Elite-Gymnasium Henri IV nahm im Alter von 16 Jahren ein Philosophiestudium an der Sorbonne auf und schloss sich bei Kriegsausbruch der französischen Résistance an. 1943 verhaftete die Gestapo den Studenten. Mit der Befreiung aus Buchenwald war dessen politischer Widerstand nicht gebrochen. Als Mitglied der Kommunistischen Partei Spaniens reiste er zwischen Moskau, Prag, Ost-Berlin hin und her.
Exil von der Welt
Als er „Die große Reise” schrieb, fühlte Semprún sich noch auf der richtigen Seite, zwanzig Jahre später bei Niederschrift des Romans „Was für ein schöner Sonntag” verglich er die stalinistischen Verbrechen mit den faschistischen. Aus dem engagierten Politbüromitglied war ein scharfer Kritiker des Kommunismus geworden. Semprún las, als das Buch gerade gedruckt wurde, Solschenizyns „Ein Tag des Ivan Denissowitsch” und wusste, dass er seine Erlebnisse im Konzentrationslager noch einmal erleben musste. Die zwei Jahre als politischer Häftling in Buchenwald nennt Semprún: „Exil von der Welt”.
Jorge Semprún ist kein Belletrist, er schreibt keine Fiktion, er beschreibt sein eigenes Leben und hat sich geschworen, seine Leser nicht in die Irre zu führen: „niemals darf es geschehen, dass er nicht mehr weiß, woran er ist”. Der Autobiograph Semprún ist mit dem Teilnehmer und Analytiker Semprún, der vom „Traumgespinst eines Toten von einst” begleitet wird, identisch. Dieses „Traumgespinst”, das in seinen Büchern unter den Namen Rafael Artigas, Federico Sánchez, Gerard Sorel, Augustín Larrea auftaucht, heißt in seinem jüngsten Buch „Der Tote mit meinem Namen” François L., Pariser Student wie er, mit dem gleichen Transport in Buchenwald eingetroffen und durch eine Nummer registriert, die nur wenige Zahlen von seiner abweicht. François L. war sein Gesprächspartner in der Quarantänestation, Sohn eines nazifreundlichen Hochschullehrers. François F. musste in Buchenwald die schweren Steine schleppen, die ein kräftiger russischer Gefangene Jorge Semprún abnahm.
Der Student François L. ist, wie der rote Kapo Kaminski in der ersten Zeile des Buches ruft, „der passende Tote” – der noch lebende Leichnam soll mit seiner Identität das Leben Semprúns retten, eine Anfrage aus dem Berliner Machtzentrum deutet auf akute Gefahr. Der Häftling Semprún setzt sich im Revier neben den sterbenden François, „ein anderes Ich oder ich selbst als ein anderer”. In der Nacht, in der François stirbt, liegt er neben ihm und schläft fest. Semprún setzt sein Thema vom Doppelgänger fort: Der einzig wahre Zeuge, sagt Semprún, ist derjenige, der nicht überlebt hat, der bis ans Ende der Erfahrungen gegangen ist und weder von den Historikern noch von den Soziologen zum Sprechen gebracht werden kann.
Die Stimme Zarah Leanders
Sechzig Jahre nach seiner Befreiung als Gefangener in Buchenwald reflektiert er seine Art des „in-der-Welt-Seins”. Semprun will sich selbst durch die Bücher, die er gelesen hat, erklären. Das „Kommunistische Manifest”, das in dem Studenten einen „wahren Orkan” auslöste, die philosophischen Texte Husserls, Heideggers „Sein und Zeit”, die Schriften Hegels und Faulkners, die er in der Lagerbibliothek fand. Tod, Seele, Gott, Erinnerung, nicht Schuld, Feind, Hass sind die Themen, die Semprún interessieren. Wieder beschreibt er die Sonntage, den Stillstand im Lageralltag, Zeit des Leerlaufs, die Pause von der Arbeit am Montageband der Gustloff. Die Zeit der „Latrinengespräche” und der Männerphantasien, durch Zarah Leanders Stimme ausgelöst. Den Sonntagen haftete die Verlorenheit an, es gibt nichts Schlimmeres, schreibt Semprún, als die absolute Durchsichtigkeit des privaten Lebens, bei der jeder „zum big brother des anderen wird”.
In den vielen Jahren, die inzwischen vergangenen sind, hat sein Gedächtnis Distanzen aufgebaut, die Reflexion ersetzt die direkte Anschauung. Die Bilder verblassen, vieles ist ausgeblendet. „Bald”, schreibt der achtzigjährige Semprún, „wird es keine störenden Zeugen mit lästigem Gedächtnis mehr geben”. Mehr als fünfzig Jahre suchte Jorge Semprún nach dem vollständigen Zitat, das der sterbende François L. kaum hörbar gesprochen hatte. Bei einer Textrecherche springt ihm das „nihil” von damals bei den Troerinnen in einer Interpretation Senecas in die Augen: „Nach dem Tod ist nichts, der Tod selbst ist nichts”. Jorge Semprún hat ein weiteres Buch gegen den heuchlerischen Begriff „verarbeiten” geschrieben, und die unbestechliche Beharrlichkeit des Gedächtnisses erklärt.
VERENA AUFFERMANN
JORGE SEMPRÚN: Der Tote mit meinem Namen. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 202 Seiten. 18,90 Euro.
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