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Das Buch befragt die deutsche Literatur- und Geistesgeschichte nach der Verdrängung der jüdischen Tradition und markiert die Lücken, die durch die Vertreibung der geistigen Repräsentanten des Judentums aus dem deutschen Sprachraum gerissen worden sind.
Als in Deutschland gegen Ende des 18. Jahrhunderts uneingeschränkte Bewunderung für das antike Griechentum aufkam, wurde gleichzeitig das sich gerade der europäischen Aufklärung öffnende Judentum auf dem Schauplatz der Religionskritik vehement bekämpft. In diesem Kontext ist der aggressive Antijudaismus zu verstehen, mit dem sich Goethe und…mehr

Produktbeschreibung
Das Buch befragt die deutsche Literatur- und Geistesgeschichte nach der Verdrängung der jüdischen Tradition und markiert die Lücken, die durch die Vertreibung der geistigen Repräsentanten des Judentums aus dem deutschen Sprachraum gerissen worden sind.

Als in Deutschland gegen Ende des 18. Jahrhunderts uneingeschränkte Bewunderung für das antike Griechentum aufkam, wurde gleichzeitig das sich gerade der europäischen Aufklärung öffnende Judentum auf dem Schauplatz der Religionskritik vehement bekämpft. In diesem Kontext ist der aggressive Antijudaismus zu verstehen, mit dem sich Goethe und Schiller gegen die Sinai-Offenbarung und deren legendären Mittler Moses wandten. Beginnend mit Winckelmann hat die deutsche Klassik einen neuen Legitimationsdiskurs geschaffen, der unter Rückgriff auf den antiken Polytheismus das 'produktive Individuum' und die 'wachsende Natur' zu seinen zentralen Kategorien machte und damit den geltenden Monotheismus zu verdrängen suchte. Im Gegensatz dazu suchten Mendelssohn und Heine die Position einer deutsch-jüdischen Moderne zu etablieren. Das Buch verfolgt, wie der 'Weltanschauungskampf' gegen den Monotheismus zum 'völkischen' Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts führte und in der Shoa mündete, was die Verdrängung der jüdischen Tradition aus dem kulturellen Gedächtnis der Deutschen zur Folge hatte.


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Autorenporträt
Bernd Witte, Heinrich Heine Universität Düsseldorf.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.02.2019

Die böse Lust an Griechenland?
Bernd Witte glaubt in deutscher Antikenverehrung die Wurzel für rassischen Antisemitismus ausmachen zu können

Bernd Witte, renommierter Düsseldorfer Literaturwissenschaftler, eröffnet sein neuestes Buch mit dessen Leitthese: In der Schwellenzeit zwischen 1770 und 1800 und auch im neunzehnten Jahrhundert sei "die Tradition des Judentums und damit die Präsenz des einen und einzigen Gottes" durch ein neues "Weltmodell" ersetzt worden. Ein Modell, "das zu einer Verdrängung des metaphysischen Gottesbegriffs führte (. . .) und die ,Tyrannei Griechenlands' über den deutschen Geist etablierte". Die "Tyrannei Griechenlands" ist ein Zitat aus dem gegen Hitler-Deutschland gerichteten Buch von Eliza M. Butler "The Tyranny of Greece over Germany" (1935). Deren Grundthese wiederholt Witte immer wieder. Der Hauptimpuls der deutschen Eliten seit 1770 sei ein extinktiver Antijudaismus. Der pagane Polytheismus - oder der Spinozismus, die Naturphilosophie, die Kunstästhetik und so fort - sei eingesetzt worden, um den kulturell höher stehenden Monotheismus auszulöschen. Letzterer stelle den wertvollsten Beitrag des Judentums zur Zivilisation dar. Das Griechentum aber sei zur "Gegenreligion" erhoben worden - und zwar schon von Herder, Goethe, Schiller oder Hegel, besonders radikal von Hölderlin und Fichte.

Mit der antijudaischen Ausrichtung ihrer Ästhetik und Philosophie ermöglichten die Klassizisten in Wittes Augen den "Rassenantisemitismus". Dieser beherrsche die "ununterbrochene, bis zum mörderischen Antisemitismus der Nationalsozialisten sich steigernde Abfolge" der Geschichte - über Wagner bis zu Hitler, Benn oder Heidegger. Die geistzentrierte Schriftreligion der Juden und ihr unendlicher Kommentierungsauftrag sei "ersetzt" worden durch den Körper-Fetischismus der Griechen-Deutschen, der von Winckelmann bis zur Körperästhetik des NS-Regimes reiche: eine Form antimosaischer Idolatrie.

Die klassische Kunst ist für Witte eine strategische Verletzung des zweiten Gebots des Dekalogs. Denn für ihn ist der Dekalog das Gründungsdokument nicht nur des Volkes Israel, sondern einer friedlichen und regelgeleiteten Zivilisation überhaupt. Der "Zivilisationsbruch", den Historiker in der Judenvernichtung als Gipfelpunkt des Antisemitismus ausmachen, beginnt nach Witte deshalb schon bei Winckelmann. Homer als Portalfigur der modernen deutschen Kulturgeschichte einzusetzen propagiere eine kriegerisch-gewalttätige Gesellschaft, die gegen die Moralität und Gesetzlichkeit des jüdischen Monotheismus gerichtet sei.

In diese durch die Klassik verhängnisvoll inspirierte deutsche Geschichte montiert Witte eine jüdische Gegengeschichte, welche die zivilisatorischen Errungenschaften der mosaischen Offenbarung am Sinai rettet. Sie beginnt mit Moses Mendelsohn, der die jüdische Philosophie und Religion in genau dem Augenblick mit der europäischen Aufklärung zu verbinden unternahm, als die Klassiker die judenfeindliche Abwertung des Kulturbringers Moses eingeleitet und die "Vergriechung" der deutschen Eliten betrieben haben sollen. Die jüdische Linie zieht Witte von Mendelsohn über den Maler Moritz Daniel Oppenheim und Heinrich Heine bis zu Sigmund Freud, Leo Baeck, Martin Buber und Erich Auerbach und zu den einzigen Frauen in diesem Buch: Gertrud Kantorowicz und Margarete Susman. Das Ziel dieser Gegenreihe jüdischer Intellektueller ist für Witte nicht Hannah Arendt, Theodor W. Adorno oder Jacques Derrida, sondern Emmanuel Lévinas. Gilt aber wirklich immer Moses oder Homer? Schon die Freundschaft zwischen Mendelsohn und Kant widersetzt sich Wittes Polarisierung. Auch lässt sich im "Ältesten Systemprogramm" der jungen Stiftler Hölderlin, Hegel und Schelling kaum die Keimzelle einer antijüdischen, deutsch-griechischen Bewegung namens "Idealismus" entdecken. Freuds Moses-Schrift führt nicht, wie oft behauptet, den Weg von Athen zurück nach Jerusalem. Die Quellen zu den letzten Jahren Freuds zeigen, dass er sich mit seiner Zugehörigkeit zum jüdischen Volk versöhnt, aber zur gleichen Zeit die vorsokratische Naturphilosophie studiert, in der er Rückhalt für seine letzte Triebtheorie sucht. Auch bei Kantorowicz und Auerbach war die Hinwendung zur jüdischen Identität keine Abwendung von antiker Kultur und Kunst; und ebenso wenig gibt es bei Buber und Baeck - wie eng immer sie institutionell und intellektuell mit der jüdischen Religion verbunden waren - eine solche Ausschließungslogik. Das gilt auch umgekehrt, etwa für Hölderlin: Dessen griechenbegeisterte Dichtungen sind nicht antijüdisch, selbst wenn sie von antisemitischen Ideologen instrumentalisiert wurden. Offensichtlich sind Wittes Zeugen vielstimmiger, als es der Autor wahrhaben möchte.

Manche Auslegungen sind plakativ. Die Äußerung Hölderlins, dass Kant "der Moses unserer Nation (ist), der sie aus der ägyptischen Erschlaffung in die freie einsame Wüste seiner Spekulation führt, und der das energische Gesetz vom heiligen Berge bringt", kommentiert Witte so: "Dieser Satz belegt, dass in Hölderlins kulturellem Gedächtnis die Figur des Moses ausgelöscht werden soll." Wie kann man übersehen, dass Moses hier im Gegenteil als Maßstab eingesetzt wird, der die säkulare Figur Kant aufwertet, aber nicht Moses auslöscht? Ebenso abwegig ist, dass Goethe in seiner Schrift "Israel in der Wüste" beabsichtigt habe, "Moses als einen der Gründungsväter der westlichen Kultur zu vernichten" und "die endgültige Vernichtung des biblischen Monotheismus" zu vollenden. Spinoza hätte den Spinozismus Goethes kaum als Vernichtung der Kernbestände der jüdischen Religion verstanden. Und kaum auch hätten Aby Warburg, der von Ängsten vor antijüdischen Pogromen gepeinigt war, oder Walter Benjamin einem solchen Urteil über Goethe beigepflichtet.

Den Gegensatz von Homer und Moses, von Antike und Judentum, von Gewalt und Friede, von Bilderkult und Sprache als weltgeschichtlichen Kampf zwischen Poly- und Monotheismus zu konstruieren lässt zudem unberücksichtigt, was schon in der Antike selbst kulturelle Überschneidungen ermöglichte, etwa im hellenistischen Judentum, in der Gnosis, im frühen Christentum. Gibt es nur eine Antike? Nur ein Judentum? Nur einen Gott? Die beiden ersten Fragen kann man historisch entscheiden, die dritte nicht. Doch kann man aus ihr lernen, dass es auf den unentscheidbaren Streit über Gott oder Götter nicht ankommt, sondern darauf, was kulturell daraus gemacht wird.

HARTMUT BÖHME

Bernd Witte: "Moses und Homer". Griechen, Juden und Deutsche: Eine andere Geschichte der deutschen Kultur.

De Gruyter Verlag, Berlin/Boston 2018. 384 S., Abb., geb., 49,95 [Euro].

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"Wittes Studie provoziert zu einem erneuten Nachdenken und Bewerten der griechischen Antike und ihrer Aneignung durch die Weimarer Klassik."
Micha Brumlik in: Frankfurter Rundschau (10.11.2018)

"Nun macht Bernd Witte, ein eminenter Kenner Goethes, eine weitere Opposition auf: die von Griechen und Juden, personifiziert in den Protagonisten Homer und Moses. "Griechen, Juden, Deutsche: eine andere Geschichte der deutschen Kultur" verspricht sein Buch, das ein Dutzend Einzelstudien vereint, die von Winckelmanns Entdeckung der schönen griechischen Körper bis zu Erich Auerbachs kontrastiver Lektüre von Homer und Genesis und zu Heideggers Griechen-Idolatrie reichen. Diese Vermehrung der Koordinaten ist eine produktive Idee."
Gustav Seibt in: Süddeutsche Zeitung (02.01.2019)

"We should be grateful to Bernd Witte for having provided [...] an intriguing, provocative rereading of the entire modern German intellectual tradition."
Steven E. Aschheim in: Jewish Review of Books (2019), 9-11