"Im Prinzip konnte man alles einfrieren, Muttermilch, Tote, Erbsen, Bohnen, Spargel, die ganze DDR-Landwirtschaft, Fleischwirtschaft, Marmor, Stahl und Eisen, Akten, überhaupt hätte man die ganze ehemalige DDR mit einer Kühlzelle überbauen und sie konservieren können." Mit Lust am Detail hat Annett Gröschner ihre eigenen Erfahrungen als Mitglied einer Familie von manischen Gefrierforschern und Kühlanlagenkonstrukteuren zu einem Roman über das Leben in deutschen Landen vor und nach 1989 verdichtet.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.03.2001Vater in der Tiefkühltruhe
Beschneit: Annett Gröschner holt die DDR aus dem Kälteschlaf
Die Zeiten des "Leselands DDR" sind vorbei, aber einige Jahre nach seinem Ende ist der erste sozialistische Staat auf deutschem Boden zum Erzählland geworden. Zum Land, über das gerade von jüngeren Autoren mit viel Lust am historischen Detail erzählt wird, in diversen Tonlagen, die vom Ostalgisch-Weichgestimmten über das Behäbig-Dokumentenechte bis zum Kritisch-Komischen reichen. Die westdeutsche Lebensform, die sich einfach weiter in die Zukunft fortsetzt, kann offenbar nicht die gleichen Erzählanreize bieten wie eine rundum abgeschlossene Vergangenheit.
Zu den eigenwilligsten Erscheinungen dieser ostwärts gewandten Literatur gehört der erste Roman der 1964 in Magdeburg geborenen, in Berlin lebenden Annett Gröschner. "Moskauer Eis" lautet der Titel, der bei allen Eingeweihten unwillkürlichen Speichelfluß auslöst, denn das Moskauer Eis mit seinem verschwenderisch hohen Milchfettanteil gehörte zum Feinsten, was die DDR ihren ansonsten nicht genußverwöhnten Bewohnern bieten konnte. Der Umschlag des Buches erhöht den Ostalgieverdacht. Er zeigt putzige Requisiten der DDR-Alltagskultur, ein Stück sehr trendige VEB-Blümchentapete und drei Plaste-Eislöffel mit aufgedruckten Lieblingsnamen wie "Maik".
Aber putzig und sentimental geht es in diesem Roman gerade nicht zu. Erzählt wird eine bizarre Familiengeschichte, in der zugleich die Geschichte der DDR wie im Zerrspiegel sichtbar wird. Die Kobes, zu Hause auf einer Magdeburger Elbinsel, haben sich mit Leib und Seele allem Gefrorenen verschrieben. Der Eisschrank ist nicht nur der private Mittelpunkt der Familie, in der Kälteingenieure den Ton angeben. Der Großvater, Vertreter der vom Pioniergeist angetriebenen Aufbaugeneration, arbeitet als Kühlanlagenkonstrukteur, der Vater ist Gefrierkostentwickler. Tochter Annja, die Hauptfigur und Erzählerin des Buches, jobbt als Eisverkäuferin auf dem Berliner Alexanderplatz und gehört zur kritischen Wendegeneration, die auch gegenüber dem Westen kalt geblieben ist.
Die Kobes haben sich die Vervollkommnung und Erweiterung der Kühlkette bis zum Endverbraucher zum Ziel gesetzt. Mit einiger Mühe überzeugt man die Regierenden davon, daß die "Gefrierkonserve die modernste Form der gesellschaftlichen Verpflegung" ist. Schöne Utopie: "Eines Tages würden alle Menschen ihren Blumenkohl zu Hause einfrieren." Zwar wird die "Blitzkost" sogar im Weltall ausprobiert, man ist dem Westen wieder einmal um Längen voraus, aber bald macht der irdische Alltag im Realsozialismus den Traum von der vitaminschonenden Rundumversorgung zunichte. Wenn nicht gerade etwas fehlt, läuft zumindest etwas falsch. Man muß einsehen, daß die Kühlkette in der Mangelwirtschaft nicht zu schließen ist. Auf höhere Anordnung widmet sich der Vater fortan kleineren Zielen. "Wissenschaftlich einwandfreie Eiskrem" heißt die neue Vorgabe.
Es ist ein Lesevergnügen, wie Annett Gröschner ihre Gefrierthematik mit vielfältigen Frostmotiven entfaltet und auf allen Ebenen episodenreich durchspielt. Sogar Annjas weibliche Entwicklung hängt entscheidend mit dem Moskauer Eis zusammen, das dem Vater endlich gelungen ist. Es verschafft dem magersüchtigen Mädchen zur Freude der pfeifenden Männerwelt Körperrundungen. Auch für das Ende der DDR findet die Autorin das passende Bild: An den Straßenrändern stehen die aus den Wohnungen gewiesenen Ostkühlschränke Spalier. Der irrwitzige Realismus, der über die absonderlichsten Details verfügt, ergibt eine groteske Perspektive auf das öffentliche und private Leben in der DDR. Die auf der Hand liegende Symbolik des allgegenwärtigen Wärmeentzugs wird nur selten überstrapaziert, der Erzählton ist passend auf feinfrostigen Sarkasmus gestimmt. Zumindest die Kühlkette dieses Buches ist so dicht geschlossen, daß der Ausbruch der Mutter - sie flieht nach Ost-Berlin, um etwas Warmherziges wie Kulturwissenschaften zu studieren - merkwürdig anmutet wie in der kalt-hermetischen Welt von Kafkas "Schloß" die Erwähnung des sonnigen Spanien, über die sich einst Adorno kritisch wunderte.
Viel Gutes ist über dieses Buch zu sagen. Aber auch nach Einwänden muß man nicht lange suchen. Sie betreffen zum geringeren Teil die Gefahr, daß wie bei Thomas Brussig alles und jedes zur Anekdote gerinnt. Die engen politischen Winkelverhältnisse, in denen man überall schnell an Grenzen stoßen konnte, bieten sich an zur anekdotischen Engführung von Privatleben und Zeitgeschichte. Für die lustige Ethnologie des DDR-Alltags genügen schon ein paar Markennamen oder Blüten des amtlichen Jargons; auch die mit allem Ernst betriebenen Münchhausen-Projekte der DDR-Ernährungswissenschaft wie die Versuche, aus Möhrenbrei Tomatenketchup oder aus unreifen Tomaten Zitronat zu gewinnen, garantieren Heiterkeit. Satirische Anekdoten werden allerdings selten um der Figuren willen erzählt, die in ihnen bloß exemplarisch agieren, und wenn sie der Charakterisierung dienen, sind die Figuren damit erschöpfend auf den Punkt gebracht. Ein Roman von einigen hundert Seiten lebt jedoch von entwicklungsfähigem Personal. In "Moskauer Eis" ist es ebenso beschränkt wie die Verhältnisse. Das gilt an erster Stelle für den Vater, diesen kleinkarierten Schemen sozialistischer Pflichterfüllung, der sich mit fügsamer Miene in alle Zumutungen der Realgroteske einlebt.
Ein viel größeres Problem hat dieses Buch mit seinem zweiten Handlungsstrang. Die Gefrierforscher-Saga ist ja nur die ausschweifende Vorgeschichte, die irgendwann in eine Geschichte münden muß. Auf der Ebene der erzählten Gegenwart aber herrscht Ratlosigkeit. Im Wechsel mit den Episoden aus der Vergangenheit berichtet Annja Kobe, wie sie im Winter 1991/92 ins kaputte Magdeburg zurückkehrt, um ihre sterbende Großmutter zu pflegen. Der Vater hat gerade im Auftrag der Treuhand sein Lebenswerk, das Kälteinstitut, abgewickelt, worauf er sich der neuen Zeit auf ihm gemäße Weise entzieht: Er liegt bei minus 18 Grad in der Tiefkühltruhe, obwohl diese nicht an den Stromkreis angeschlossen ist - ein Wunder? Der Roman macht viele Worte um diesen mysteriösen Gefriervorgang; ist es Selbstmord, oder hat sich der Vater für bessere Zeiten kaltgelagert? Am Ende weiß die Autorin selbst nicht recht, was sie mit dem starrgefrorenen Vater anfangen soll, der als Bild für die Opfer der Treuhand so aufdringlich ist wie der Prolog des Buches mit seinen metaphernseligen Räsonnements über die Wendezeit. Da könnte man beinahe vergessen, daß "Moskauer Eis" ein weit überdurchschnittliches Debüt ist, mit dem sich Annett Gröschner als markante Stimme im Chor der Berliner Literatur ausweist.
WOLFGANG SCHNEIDER
Annett Gröschner: "Moskauer Eis". Roman. Gustav Kiepenheuer Verlag, Leipzig 2000. 287 S., geb., 36,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Beschneit: Annett Gröschner holt die DDR aus dem Kälteschlaf
Die Zeiten des "Leselands DDR" sind vorbei, aber einige Jahre nach seinem Ende ist der erste sozialistische Staat auf deutschem Boden zum Erzählland geworden. Zum Land, über das gerade von jüngeren Autoren mit viel Lust am historischen Detail erzählt wird, in diversen Tonlagen, die vom Ostalgisch-Weichgestimmten über das Behäbig-Dokumentenechte bis zum Kritisch-Komischen reichen. Die westdeutsche Lebensform, die sich einfach weiter in die Zukunft fortsetzt, kann offenbar nicht die gleichen Erzählanreize bieten wie eine rundum abgeschlossene Vergangenheit.
Zu den eigenwilligsten Erscheinungen dieser ostwärts gewandten Literatur gehört der erste Roman der 1964 in Magdeburg geborenen, in Berlin lebenden Annett Gröschner. "Moskauer Eis" lautet der Titel, der bei allen Eingeweihten unwillkürlichen Speichelfluß auslöst, denn das Moskauer Eis mit seinem verschwenderisch hohen Milchfettanteil gehörte zum Feinsten, was die DDR ihren ansonsten nicht genußverwöhnten Bewohnern bieten konnte. Der Umschlag des Buches erhöht den Ostalgieverdacht. Er zeigt putzige Requisiten der DDR-Alltagskultur, ein Stück sehr trendige VEB-Blümchentapete und drei Plaste-Eislöffel mit aufgedruckten Lieblingsnamen wie "Maik".
Aber putzig und sentimental geht es in diesem Roman gerade nicht zu. Erzählt wird eine bizarre Familiengeschichte, in der zugleich die Geschichte der DDR wie im Zerrspiegel sichtbar wird. Die Kobes, zu Hause auf einer Magdeburger Elbinsel, haben sich mit Leib und Seele allem Gefrorenen verschrieben. Der Eisschrank ist nicht nur der private Mittelpunkt der Familie, in der Kälteingenieure den Ton angeben. Der Großvater, Vertreter der vom Pioniergeist angetriebenen Aufbaugeneration, arbeitet als Kühlanlagenkonstrukteur, der Vater ist Gefrierkostentwickler. Tochter Annja, die Hauptfigur und Erzählerin des Buches, jobbt als Eisverkäuferin auf dem Berliner Alexanderplatz und gehört zur kritischen Wendegeneration, die auch gegenüber dem Westen kalt geblieben ist.
Die Kobes haben sich die Vervollkommnung und Erweiterung der Kühlkette bis zum Endverbraucher zum Ziel gesetzt. Mit einiger Mühe überzeugt man die Regierenden davon, daß die "Gefrierkonserve die modernste Form der gesellschaftlichen Verpflegung" ist. Schöne Utopie: "Eines Tages würden alle Menschen ihren Blumenkohl zu Hause einfrieren." Zwar wird die "Blitzkost" sogar im Weltall ausprobiert, man ist dem Westen wieder einmal um Längen voraus, aber bald macht der irdische Alltag im Realsozialismus den Traum von der vitaminschonenden Rundumversorgung zunichte. Wenn nicht gerade etwas fehlt, läuft zumindest etwas falsch. Man muß einsehen, daß die Kühlkette in der Mangelwirtschaft nicht zu schließen ist. Auf höhere Anordnung widmet sich der Vater fortan kleineren Zielen. "Wissenschaftlich einwandfreie Eiskrem" heißt die neue Vorgabe.
Es ist ein Lesevergnügen, wie Annett Gröschner ihre Gefrierthematik mit vielfältigen Frostmotiven entfaltet und auf allen Ebenen episodenreich durchspielt. Sogar Annjas weibliche Entwicklung hängt entscheidend mit dem Moskauer Eis zusammen, das dem Vater endlich gelungen ist. Es verschafft dem magersüchtigen Mädchen zur Freude der pfeifenden Männerwelt Körperrundungen. Auch für das Ende der DDR findet die Autorin das passende Bild: An den Straßenrändern stehen die aus den Wohnungen gewiesenen Ostkühlschränke Spalier. Der irrwitzige Realismus, der über die absonderlichsten Details verfügt, ergibt eine groteske Perspektive auf das öffentliche und private Leben in der DDR. Die auf der Hand liegende Symbolik des allgegenwärtigen Wärmeentzugs wird nur selten überstrapaziert, der Erzählton ist passend auf feinfrostigen Sarkasmus gestimmt. Zumindest die Kühlkette dieses Buches ist so dicht geschlossen, daß der Ausbruch der Mutter - sie flieht nach Ost-Berlin, um etwas Warmherziges wie Kulturwissenschaften zu studieren - merkwürdig anmutet wie in der kalt-hermetischen Welt von Kafkas "Schloß" die Erwähnung des sonnigen Spanien, über die sich einst Adorno kritisch wunderte.
Viel Gutes ist über dieses Buch zu sagen. Aber auch nach Einwänden muß man nicht lange suchen. Sie betreffen zum geringeren Teil die Gefahr, daß wie bei Thomas Brussig alles und jedes zur Anekdote gerinnt. Die engen politischen Winkelverhältnisse, in denen man überall schnell an Grenzen stoßen konnte, bieten sich an zur anekdotischen Engführung von Privatleben und Zeitgeschichte. Für die lustige Ethnologie des DDR-Alltags genügen schon ein paar Markennamen oder Blüten des amtlichen Jargons; auch die mit allem Ernst betriebenen Münchhausen-Projekte der DDR-Ernährungswissenschaft wie die Versuche, aus Möhrenbrei Tomatenketchup oder aus unreifen Tomaten Zitronat zu gewinnen, garantieren Heiterkeit. Satirische Anekdoten werden allerdings selten um der Figuren willen erzählt, die in ihnen bloß exemplarisch agieren, und wenn sie der Charakterisierung dienen, sind die Figuren damit erschöpfend auf den Punkt gebracht. Ein Roman von einigen hundert Seiten lebt jedoch von entwicklungsfähigem Personal. In "Moskauer Eis" ist es ebenso beschränkt wie die Verhältnisse. Das gilt an erster Stelle für den Vater, diesen kleinkarierten Schemen sozialistischer Pflichterfüllung, der sich mit fügsamer Miene in alle Zumutungen der Realgroteske einlebt.
Ein viel größeres Problem hat dieses Buch mit seinem zweiten Handlungsstrang. Die Gefrierforscher-Saga ist ja nur die ausschweifende Vorgeschichte, die irgendwann in eine Geschichte münden muß. Auf der Ebene der erzählten Gegenwart aber herrscht Ratlosigkeit. Im Wechsel mit den Episoden aus der Vergangenheit berichtet Annja Kobe, wie sie im Winter 1991/92 ins kaputte Magdeburg zurückkehrt, um ihre sterbende Großmutter zu pflegen. Der Vater hat gerade im Auftrag der Treuhand sein Lebenswerk, das Kälteinstitut, abgewickelt, worauf er sich der neuen Zeit auf ihm gemäße Weise entzieht: Er liegt bei minus 18 Grad in der Tiefkühltruhe, obwohl diese nicht an den Stromkreis angeschlossen ist - ein Wunder? Der Roman macht viele Worte um diesen mysteriösen Gefriervorgang; ist es Selbstmord, oder hat sich der Vater für bessere Zeiten kaltgelagert? Am Ende weiß die Autorin selbst nicht recht, was sie mit dem starrgefrorenen Vater anfangen soll, der als Bild für die Opfer der Treuhand so aufdringlich ist wie der Prolog des Buches mit seinen metaphernseligen Räsonnements über die Wendezeit. Da könnte man beinahe vergessen, daß "Moskauer Eis" ein weit überdurchschnittliches Debüt ist, mit dem sich Annett Gröschner als markante Stimme im Chor der Berliner Literatur ausweist.
WOLFGANG SCHNEIDER
Annett Gröschner: "Moskauer Eis". Roman. Gustav Kiepenheuer Verlag, Leipzig 2000. 287 S., geb., 36,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main