In diesem Buch eröffnet uns Parag Khanna, indisch-amerikanischer Politikwissenschaftler und in Singapur lebender Vordenker, einen anderen, neuen Blick auf die Welt. Er bringt Geschichte, Politik und die natürlichen Lebensbedingungen des Menschen, die sich gerade rasant verändern, zusammen und leitet daraus Voraussagen für die Zukunft ab. Seine Grundthese: Die Menschheit wird sich in den nächsten Jahrzehnten neu auf der Erde verteilen (müssen). Gebiete, die bislang von der Natur bevorzugt wurden, drohen unbewohnbar zu werden; alte Industrieregionen, die Millionen von Menschen angezogen haben, werden veröden, neue Zentren entstehen. All dies wird nicht auf ein Land beschränkt sein, sondern zum weltweiten Phänomen. Die Gründe, die Khanna für riesige Migrationsströme über die Kontinente hinweg sieht, sind vielfältig: von demographischen Schieflagen und unterschiedlichen Modernisierungsgeschwindigkeiten über Klimaveränderungen bis zu sich neu verteilenden Arbeitsmöglichkeiten. DieMenschen werden, ob aus Zwang oder freiwillig, in kaum vorstellbarer Weise «on the move» sein. Faktenreich, mit anschaulichen Beispielen und überzeugendem Zahlenmaterial entwirft Khanna die «Zivilisation 3.0», in der Mobilität unser aller Schicksal, ja die Signatur der Zeit sein wird.
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Der Chronist der Machtverschiebungen im frühen 21. Jahrhundert ... Man bekommt den Eindruck, hier buchstabiert jemand tatsächlich die neue Welt von Klimawandel, Digitalisierung und demographischem Druck aus. Moritz Rudolph Frankfurter Allgemeine Zeitung 20210511
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.05.2021Die Revolution wird revolutioniert werden
Alles ganz mobil: Parag Khanna sieht die Menschheit auf dem Weg in ein neues nomadisches Zeitalter
Mitten im Lockdown ruft Parag Khanna das Bewegungszeitalter aus: Die weltweiten Rückholaktionen und das Einfrieren des öffentlichen Lebens erscheinen bei dem indisch-amerikanischen Politikwissenschaftler und Publizisten bloß als Versuch, alle noch einmal für ein letztes Familienbild zu versammeln, bevor sie sich in die Welt zerstreuen. Denn schon bald würden sich Milliarden aus den verwüsteten und überschwemmten Regionen des Südens in die Klimaoasen des Nordens aufmachen. Der wiederum braucht die Neuankömmlinge, um seine demographische Lücke zu füllen und seinen Wohlstand zu halten.
Wenn also alles mit rechten, vernünftigen Dingen zugeht, gelingt der Menschheit ein reibungsloser Übergang ins nächste Stadium, das ihrem ersten ähnelt: Nach der Sesshaftigkeit wird der Mensch wieder zum Nomaden, der dorthin zieht, wo die Natur ihn duldet. Er lebt in saisonalen "Pop-up-Städten", immer auf der Suche nach gutem Klima, guter Arbeit und guter Politik. Er wird die Arktis besiedeln, Sibirien und die Hudson Bay, Kasachstan wird über zweihundert Millionen Einwohner haben, Grönland immerhin sechzig Millionen; Südamerika und Australien müssen vermutlich aufgegeben werden. Woher weiß Khanna das alles? Er weiß es natürlich nicht, aber gerade das könnte seine These von der Zirkulationszivilisation stützen, denn "Mobilität ist unsere Antwort auf Ungewissheit".
Khanna prophezeit allerdings auch das Ende von "Nationalismus" und "Populismus". Beides rechne sich nicht und werde sich der Massenwanderung nicht in den Weg stellen. Doch ist es nicht wahrscheinlicher, dass der Nationalismus neu entsteht, zum Beispiel indem die "erste Generation postnationaler Europäer" eine europäische Festung hochzieht? Oder dass die neuen Schmelztiegelnationen des Nordens untereinander Krieg führen um den Zugang zur Arktis? Dass Identitäten fluide "Alchemie" sind, hat noch niemanden daran gehindert, sie zu fixieren und ein Abschottungskollektiv daraus zu formen.
Selbst wenn große Störungen ausbleiben, ist noch immer mit kleinen zu rechnen, die dort auftreten, wo Khannas Szenario Wirklichkeit wird.. Denn die meisten Menschen werden keine Lust haben, sich nach ökologisch-ökonomischen Kriterien über den Globus schieben zu lassen. Auch lungern sie nicht alle "untätig" im Süden herum und warten auf ein mieses Jobangebot aus dem Norden. Es dürfte ihnen ziemlich gegen den Strich gehen. Mag sein, dass sie dennoch um den Umzug nicht herumkommen, aber man muss solche Notwendigkeit ja nicht gleich anthropologisch veredeln und den Menschen zum Bewegungstier erklären, das erst im Davonlaufen zu sich kommt.
"Sich bewegen heißt frei sein" und ist eine "spirituelle Erfahrung", findet Khanna. Manchmal ist es aber auch bloß Terror. Selbst wenn es dem Gesetz von "Angebot und Nachfrage" folgt, das Khanna der "Ideologie" gegenüberstellt. Die Marktwirtschaft ist das Einzige, was in diesem Buch nicht in Bewegung gerät. Khanna erklärt sie zur Natur - natürlicher noch als die eigentliche Natur, denn die verwandelt ja ihr Antlitz und zwingt die Menschen zum Umzug.
Es geht alles ziemlich glatt in diesem Buch. Dabei entwirft Khanna neben dem Eintritt ins globale Nomadenstadium auch verschiedene Schreckensszenarien einer zerfallenden, kriegerischen Weltunordnung. Meist aber verfolgt er in seinem Buch die Idee gelingender Migrationen, und dann sieht alles gar nicht so schwer aus. Milliarden "Quantenmenschen" sausen auf den Bahnen der verdrahteten Welt umher und finden das nicht schlimm, Russland wird zum Kanada Eurasiens, und Detroit nimmt Klimaflüchtlinge aus Mittelamerika auf.
Erzeugt wird derlei "demographische Poesie" von gänzlich unpoetischen Naturen. Khanna setzt auf die stille Arbeit technokratischer Eliten, die im Hintergrund dafür sorgen, dass der große Umzug ohne großen Knall geschieht. Es wäre der erste sanfte Strukturbruch der Geschichte, die Revolutionierung der Revolution. Tatsächlich erwartet Khanna, dass sich die "nächste russische Revolution" als "Epos in Zeitlupe" abspielt, weil sie nicht um die Frage kreist, "wer Russland regiert, sondern darum, wer es besiedelt".
Wie immer hat Parag Khanna, der Chronist der Machtverschiebungen im frühen 21. Jahrhundert, zahllose Ideen zur Deutung der Welt - überraschende, funkelnde, scharfsinnige, mit manchen mag man nicht einverstanden sein, aber originell sind sie allemal. Man bekommt den Eindruck, hier buchstabiert jemand tatsächlich jene neue Welt von Klimawandel, Digitalisierung und demographischem Druck aus, die so oft beschworen und so selten skizziert wird. Man meint, Eigenheiten des 21. Jahrhunderts vor sich zu haben, und fragt sich, warum es das vorige nicht einfach fortsetzt, sondern uns ins höchste Stadium der Globalisierung katapultiert, in dem beinahe alles in Bewegung gerät, die Menschen, die Staaten, die Identitäten und sogar das Klima; die bewohnbaren Gebiete ziehen sich nach Norden zurück und in die Berge.
Dass es in dieser Skizze der mobilen neuen Welt so vernünftig zugeht, hat sicher auch etwas mit dem Autor selbst zu tun. Khanna, der in Indien geboren und in Deutschland, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Amerika aufgewachsen ist, erzählt hier auch von seinem Leben, das aus geglückten Umzügen besteht. Sein letzter führte ihn nach Singapur, das wieder einmal ziemlich gut wegkommt und vielleicht den Schlüssel zu Khannas Werk liefert. Fast alle seine Bücher beschwören die Vorbildrolle Singapurs für das 21. Jahrhundert: als Knotenpunkt im Netz einer neumittelalterlichen Stadtdiplomatie, als Epizentrum des asiatischen Jahrhunderts, als Smart City, der es gelungen ist, die Langeweile zu institutionalisieren - und nun als "panethnischer Schmelztiegel" und "Inkubator der neuen postnationalen Zivilisation", der ein Bollwerk gegen die "rassistischen Ewiggestrigen" bildet.
Der Inselstadtstaat hat pragmatische Eliten, sensible Technokraten, von denen sich Khanna gern verschieben lässt. Doch zunächst müssen sie sich selbst verschieben, denn Singapur wird wohl bald im Meer versinken. Möglich, dass es im Norden wieder augebaut wird. Vielleicht begnügt es sich aber auch damit, seinen Geist unter die Menschen zu bringen und als Welthauptstadt, die da und nicht da ist, ein Leben ohne Körper zu führen - als dezentriertes Zentrum der "Zivilisation 3.0".
MORITZ RUDOLPH
Parag Khanna: "Move". Das Zeitalter der Migration. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz und Karsten Petersen. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2021. 448 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Alles ganz mobil: Parag Khanna sieht die Menschheit auf dem Weg in ein neues nomadisches Zeitalter
Mitten im Lockdown ruft Parag Khanna das Bewegungszeitalter aus: Die weltweiten Rückholaktionen und das Einfrieren des öffentlichen Lebens erscheinen bei dem indisch-amerikanischen Politikwissenschaftler und Publizisten bloß als Versuch, alle noch einmal für ein letztes Familienbild zu versammeln, bevor sie sich in die Welt zerstreuen. Denn schon bald würden sich Milliarden aus den verwüsteten und überschwemmten Regionen des Südens in die Klimaoasen des Nordens aufmachen. Der wiederum braucht die Neuankömmlinge, um seine demographische Lücke zu füllen und seinen Wohlstand zu halten.
Wenn also alles mit rechten, vernünftigen Dingen zugeht, gelingt der Menschheit ein reibungsloser Übergang ins nächste Stadium, das ihrem ersten ähnelt: Nach der Sesshaftigkeit wird der Mensch wieder zum Nomaden, der dorthin zieht, wo die Natur ihn duldet. Er lebt in saisonalen "Pop-up-Städten", immer auf der Suche nach gutem Klima, guter Arbeit und guter Politik. Er wird die Arktis besiedeln, Sibirien und die Hudson Bay, Kasachstan wird über zweihundert Millionen Einwohner haben, Grönland immerhin sechzig Millionen; Südamerika und Australien müssen vermutlich aufgegeben werden. Woher weiß Khanna das alles? Er weiß es natürlich nicht, aber gerade das könnte seine These von der Zirkulationszivilisation stützen, denn "Mobilität ist unsere Antwort auf Ungewissheit".
Khanna prophezeit allerdings auch das Ende von "Nationalismus" und "Populismus". Beides rechne sich nicht und werde sich der Massenwanderung nicht in den Weg stellen. Doch ist es nicht wahrscheinlicher, dass der Nationalismus neu entsteht, zum Beispiel indem die "erste Generation postnationaler Europäer" eine europäische Festung hochzieht? Oder dass die neuen Schmelztiegelnationen des Nordens untereinander Krieg führen um den Zugang zur Arktis? Dass Identitäten fluide "Alchemie" sind, hat noch niemanden daran gehindert, sie zu fixieren und ein Abschottungskollektiv daraus zu formen.
Selbst wenn große Störungen ausbleiben, ist noch immer mit kleinen zu rechnen, die dort auftreten, wo Khannas Szenario Wirklichkeit wird.. Denn die meisten Menschen werden keine Lust haben, sich nach ökologisch-ökonomischen Kriterien über den Globus schieben zu lassen. Auch lungern sie nicht alle "untätig" im Süden herum und warten auf ein mieses Jobangebot aus dem Norden. Es dürfte ihnen ziemlich gegen den Strich gehen. Mag sein, dass sie dennoch um den Umzug nicht herumkommen, aber man muss solche Notwendigkeit ja nicht gleich anthropologisch veredeln und den Menschen zum Bewegungstier erklären, das erst im Davonlaufen zu sich kommt.
"Sich bewegen heißt frei sein" und ist eine "spirituelle Erfahrung", findet Khanna. Manchmal ist es aber auch bloß Terror. Selbst wenn es dem Gesetz von "Angebot und Nachfrage" folgt, das Khanna der "Ideologie" gegenüberstellt. Die Marktwirtschaft ist das Einzige, was in diesem Buch nicht in Bewegung gerät. Khanna erklärt sie zur Natur - natürlicher noch als die eigentliche Natur, denn die verwandelt ja ihr Antlitz und zwingt die Menschen zum Umzug.
Es geht alles ziemlich glatt in diesem Buch. Dabei entwirft Khanna neben dem Eintritt ins globale Nomadenstadium auch verschiedene Schreckensszenarien einer zerfallenden, kriegerischen Weltunordnung. Meist aber verfolgt er in seinem Buch die Idee gelingender Migrationen, und dann sieht alles gar nicht so schwer aus. Milliarden "Quantenmenschen" sausen auf den Bahnen der verdrahteten Welt umher und finden das nicht schlimm, Russland wird zum Kanada Eurasiens, und Detroit nimmt Klimaflüchtlinge aus Mittelamerika auf.
Erzeugt wird derlei "demographische Poesie" von gänzlich unpoetischen Naturen. Khanna setzt auf die stille Arbeit technokratischer Eliten, die im Hintergrund dafür sorgen, dass der große Umzug ohne großen Knall geschieht. Es wäre der erste sanfte Strukturbruch der Geschichte, die Revolutionierung der Revolution. Tatsächlich erwartet Khanna, dass sich die "nächste russische Revolution" als "Epos in Zeitlupe" abspielt, weil sie nicht um die Frage kreist, "wer Russland regiert, sondern darum, wer es besiedelt".
Wie immer hat Parag Khanna, der Chronist der Machtverschiebungen im frühen 21. Jahrhundert, zahllose Ideen zur Deutung der Welt - überraschende, funkelnde, scharfsinnige, mit manchen mag man nicht einverstanden sein, aber originell sind sie allemal. Man bekommt den Eindruck, hier buchstabiert jemand tatsächlich jene neue Welt von Klimawandel, Digitalisierung und demographischem Druck aus, die so oft beschworen und so selten skizziert wird. Man meint, Eigenheiten des 21. Jahrhunderts vor sich zu haben, und fragt sich, warum es das vorige nicht einfach fortsetzt, sondern uns ins höchste Stadium der Globalisierung katapultiert, in dem beinahe alles in Bewegung gerät, die Menschen, die Staaten, die Identitäten und sogar das Klima; die bewohnbaren Gebiete ziehen sich nach Norden zurück und in die Berge.
Dass es in dieser Skizze der mobilen neuen Welt so vernünftig zugeht, hat sicher auch etwas mit dem Autor selbst zu tun. Khanna, der in Indien geboren und in Deutschland, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Amerika aufgewachsen ist, erzählt hier auch von seinem Leben, das aus geglückten Umzügen besteht. Sein letzter führte ihn nach Singapur, das wieder einmal ziemlich gut wegkommt und vielleicht den Schlüssel zu Khannas Werk liefert. Fast alle seine Bücher beschwören die Vorbildrolle Singapurs für das 21. Jahrhundert: als Knotenpunkt im Netz einer neumittelalterlichen Stadtdiplomatie, als Epizentrum des asiatischen Jahrhunderts, als Smart City, der es gelungen ist, die Langeweile zu institutionalisieren - und nun als "panethnischer Schmelztiegel" und "Inkubator der neuen postnationalen Zivilisation", der ein Bollwerk gegen die "rassistischen Ewiggestrigen" bildet.
Der Inselstadtstaat hat pragmatische Eliten, sensible Technokraten, von denen sich Khanna gern verschieben lässt. Doch zunächst müssen sie sich selbst verschieben, denn Singapur wird wohl bald im Meer versinken. Möglich, dass es im Norden wieder augebaut wird. Vielleicht begnügt es sich aber auch damit, seinen Geist unter die Menschen zu bringen und als Welthauptstadt, die da und nicht da ist, ein Leben ohne Körper zu führen - als dezentriertes Zentrum der "Zivilisation 3.0".
MORITZ RUDOLPH
Parag Khanna: "Move". Das Zeitalter der Migration. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz und Karsten Petersen. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2021. 448 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Moritz Baumstieger hat seinen Spaß mit den Visionen des Politikwissenschaftlers Parag Khanna. Auch wenn er sich Baguette aus dem Automaten verbittet und Khannas Zukunftsvorstellungen von einem liberalen Sibirien, wo indische Einwanderer Obst und Gemüse anbauen doch etwas zu steil findet, regen ihn die Gedanken des Autors zu künftigen Migrationsbewegungen zum Nachdenken an. Dass die Route nicht mehr zwischen Süd und Nord, sondern zwischen Alt und Jung verlaufen wird und eine aufgeklärte Migrationspolitik vor der Tür steht, kann Baumstieger aber noch nicht so recht glauben. Und Siedlertrecks Richtung Pol und Kasachstan, das klingt für ihn ein bisschen nach Sci-Fi.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.07.2021Die neue Völkerwanderung
In den kommenden Jahrzehnten könnte sich die Hälfte der Menschheit in Bewegung setzen. Nur wohin? Der Politologe Parag Khanna wagt Prognosen
Vielleicht muss man sich Parag Khanna als eine Art modernen Mose vorstellen: Er hat die richtige Vision – sich rapide verschlechternde Verhältnisse machen eine große Wanderung unabdingbar –, und er weiß, wo diese hingehen soll. Nur eines scheint er, wie Mose, nicht so ganz genau zu wissen: Welcher Weg eigentlich in dieses gelobte Land führt.
Während der biblische Prophet ein einzelnes Volk aus der Versklavung leiten wollte, sieht der 1977 geborene, indisch-amerikanische Politikwissenschaftler und Strategieberater weit breitere Wanderungsbewegungen voraus: Etwa die Hälfte der Erdbevölkerung, schätzt er, könnte sich in den kommenden Jahrzehnten auf den Weg machen – um sich in ihrem eigenen Land an günstigerer Stelle wieder niederzulassen, um in ein Nachbarland zu ziehen oder um ganze Kontinente durch- und Ozeane zu überqueren. Oder um stets mobil zu bleiben und stetig weiterzuziehen, ähnlich dem alten Volk Israel, das 40 Jahre über den Sinai irrte – „Quantenmenschen“ nennt Khanna die neuen Nomaden von heute.
Das von Moses Anhängern dann doch noch irgendwann erreichte Gebiet um den Jordan wird jedoch keinesfalls das Ziel der Wanderungsbewegungen der Gegenwart sein. Wenn der Klimawandel weiter so fortschreitet, wird der biblische Fluss bald kein Wasser mehr führen, die Region weiter austrocknen und verwüsten.
„Gegenwärtig schlägt die Natur zurück und zwingt uns, vom sesshaften Leben zu einer nomadischen Lebensweise zurückzukehren“, schreibt Khanna in „Move: Das Zeitalter der Migration“. Seine Fans, zu denen etwa auch der ehemalige amerikanische Präsident Barack Obama gehört, der Khanna zum außenpolitischen Berater seiner ersten, vom Ruf nach „Change“ durchtränkten Wahlkampagne machte – schätzen Khanna als einen, der die Zukunft voraussagen kann. Weniger weil er einen verlässlich brennenden Dornbusch im Vorgarten hat, sondern weil er Karten und Daten richtig lesen und miteinander in Beziehung setzen kann. Jene, die er in den vergangenen Jahren in Bezug auf Klimawandel, Demografie und Ökonomie gelesen hat, scheinen nur einen Schluss zuzulassen: Wenn wegen Hitze und Überflutungen weite Teile der Erde kaum mehr zu bewohnen seien werden, werden sich weite Teile der Erdbevölkerung in Bewegung setzen. „Für Milliarden Menschen käme es dem Selbstmord gleich, würden sie am angestammten Ort bleiben.“
Natürlich werden in Khannas Vision auch Europa und Nordamerika weiter Ziel von Migration sein. Und sowohl der Staatenbund als auch der Bundesstaat werden sich öffnen müssen, wenn ihre derzeitigen Gesellschaften nicht irgendwann vollkommen vergreist dahinsiechen wollen – zwar umgeben von vielleicht immer noch sichereren Grenzen, aber eben auch von vollkommen überalterter Infrastruktur. „Europa steht vor der Wahl, Migranten aufzunehmen und zu integrieren oder von einer demographischen Klippe zu stürzen“, formuliert es Khanna. Und er ist zuversichtlich, dass der sich derzeit noch hinter rasiermesserscharfen Zäunen abschottende Kontinent die richtige Wahl treffen wird.
Die entscheidende Mentalitätsgrenze, so weiß es Khanna oder so hofft er es vielleicht auch nur, verlaufe heute nicht mehr zwischen Nord und Süd, sondern vielmehr zwischen Jung und Alt. Im Zweifel hätten zwei im Whatsapp-Zeitalter aufgewachsene Menschen aus vollkommen verschiedenen Erdregionen mehr miteinander gemein als die Mitglieder zweier Generation aus demselben Land, schreibt er – und leitet daraus ab, dass die jungen, in Zeiten von Erasmusprogrammen und Globalisierung aufgewachsenen Europäer sich ganz rational für eine aufgeklärtere Migrationspolitik entscheiden werden.
Angesichts der Erfolge der PiS-Partei in Polen, der Fidesz in Ungarn, der Migrationsfeinde von AfD, Lega und Rassemblement National, dem Irrsinn eines Donald Trump und des Brexits mag das wie der fromme Optimismus eines Kosmopoliten klingen. Khanna wurde in Indien geboren, ist in den Emiraten, den USA und Deutschland aufgewachsen, ging wieder in die Vereinigten Staaten und nach Großbritannien, um zu lernen und zu lehren, heute hat er sich in Singapur niedergelassen.
Dass er als Weltbürger eher Chancen sieht, wenn es um Migration geht, ist verständlich – was jedoch die vielen Menschen, die sich von Zuzug bedroht sehen, vielleicht nicht unbedingt interessieren wird. Doch Khanna ist sich sicher, dass die Welle der populistisch-nationalistischen Migrationsfeinde bald ausläuft. Sie erreichten „weitgehend eine ältere Generation, die bereits mit einem Fuß im Grab steht – und werden ihr auch dorthin folgen.“
Migrationsbewegungen eines bislang ungekannten Ausmaßes ausschließlich in Richtung der gegenwärtigen Wohlstandsinseln USA und Europa hin zu denken, würde in gewisser Weise ja auch nur den Narrativen jener folgen, die den christlich geprägten Westen gegen Menschen mit dunklerer Haut zu verteidigen glauben müssen. Khanna denkt hier aber viel weiter, die künftigen gelobten Länder sieht er eher dort, wo Permafrost milden Temperaturen weichen wird, wo heute höchstens Gräser und Birken, morgen aber schon erlesene Weine wachsen könnten.
So wie die Planwagen in den USA einst nach Westen rollten, hält er bald Siedlertrecks für möglich, die in Richtung Pol ziehen. Um in Kanada und den skandinavischen Staaten Land urbar zu machen, und nicht nur dort: Kasachstan, das heute rund 20 Millionen Einwohner hat, könnte sich klimatisch günstig verändern – ist es bereit für 200 Millionen weitere Einwohner?
Und Russland! Sibirien, bislang klischeemäßig mit Straflagern und Erfrierungstod assoziiert und somit Inbegriff der Lebensfeindlichkeit, könnte bei steigenden Temperaturen zu einer Art Obst- und Gemüsegarten Eurasiens werden, der von Millionen migrierten Asiaten, Indern und auch Südeuropäern bestellt wird. Khanna fordert sogar: „Russland muss zu einem eurasischen Kanada werden.“ Das autoritäre Russland Wladimir Putins – ein eurasischer Hort von Liberalität und Multikulturalismus? Dass er hier eben mal eine vollkommene Umkehrung der bestehenden politischen Verhältnisse hinpinselt, weiß Khanna, er betitelt das entsprechende Kapitel ja sogar vielsagend mit: „Die nächste russische Revolution“. Der Klimawandel wird Disruptionen ungeahnten Ausmaßes hervorbringen, keine Frage – und die meisten Menschen gehen wohl eher davon aus, dass diese Veränderungen schmerzhaft bis grausam sein dürften.
Khanna scheint jedoch an die Fähigkeit der Menschheit zu glauben, zu Entscheidungen zu kommen, von denen letztlich alle profitieren – und so wünschenswert seine Vision von einem Konsens der Aufgeklärten zu so gigantischen wie gerechten Umsiedlungsplänen auch wäre, klingt sie etwas sehr nach Science-Fiction. Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit. Gleichzeitig, und da ist Khanna wieder der Mose ohne Plan, beschreibt er in keinem Fall näher, wie die gewaltigen, von ihm prognostizierten Veränderungen ablaufen könnten, die notwendig sind, um seine Visionen nicht nur technologisch, sondern auch politisch möglich zu machen. Dass er, wenn es um Technik intelligent nutzende postnationale Gesellschaften geht, meist auf autoritär geführte Stadtstaaten wie Singapur oder die Vereinigten Arabischen Emirate verweist, müsste Khanna selbst am meisten zu denken geben.
Und so bedenkenswert viele seiner Gedanken auch sind, scheint ihn manchmal auch einfach die Lust an der sehr steilen These zu packen. Vor lauter Zukunftsbegeisterung vergisst er dann den Faktor Mensch, der schon viele Visionen und Innovationen ausgebremst hat. Soziale und familiäre Bindungen kommen in den knapp 420 Seiten nur am Rande vor, Technik dafür umso öfter. „In Frankreich“, schreibt Khanna etwa, würden kleine Dorfbäckereien bald durch halbautomatisierte Lebensmittelläden „und sogar Baguette-Automaten ersetzt“ werden. Baguette aus der Maschine? Mais non, jamais.
MORITZ BAUMSTIEGER
„Für Milliarden Menschen wäre
es Selbstmord, würden sie am
angestammten Ort bleiben.“
Sibirien könnte zu einer
Art Obst- und Gemüsegarten
Eurasiens werden
Auch ein Generationenkonflikt: Kinder auf der Flucht im Oktober 2015 auf einer Wiese an der deutsch-österreichischen Grenze bei Wegscheid.
Foto: Armin Weigel/dpa
Parag Khanna:
Move – Das Zeitalter
der Migration.
Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz und Karsten Petersen.
Rowohlt Berlin, 2021.
448 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In den kommenden Jahrzehnten könnte sich die Hälfte der Menschheit in Bewegung setzen. Nur wohin? Der Politologe Parag Khanna wagt Prognosen
Vielleicht muss man sich Parag Khanna als eine Art modernen Mose vorstellen: Er hat die richtige Vision – sich rapide verschlechternde Verhältnisse machen eine große Wanderung unabdingbar –, und er weiß, wo diese hingehen soll. Nur eines scheint er, wie Mose, nicht so ganz genau zu wissen: Welcher Weg eigentlich in dieses gelobte Land führt.
Während der biblische Prophet ein einzelnes Volk aus der Versklavung leiten wollte, sieht der 1977 geborene, indisch-amerikanische Politikwissenschaftler und Strategieberater weit breitere Wanderungsbewegungen voraus: Etwa die Hälfte der Erdbevölkerung, schätzt er, könnte sich in den kommenden Jahrzehnten auf den Weg machen – um sich in ihrem eigenen Land an günstigerer Stelle wieder niederzulassen, um in ein Nachbarland zu ziehen oder um ganze Kontinente durch- und Ozeane zu überqueren. Oder um stets mobil zu bleiben und stetig weiterzuziehen, ähnlich dem alten Volk Israel, das 40 Jahre über den Sinai irrte – „Quantenmenschen“ nennt Khanna die neuen Nomaden von heute.
Das von Moses Anhängern dann doch noch irgendwann erreichte Gebiet um den Jordan wird jedoch keinesfalls das Ziel der Wanderungsbewegungen der Gegenwart sein. Wenn der Klimawandel weiter so fortschreitet, wird der biblische Fluss bald kein Wasser mehr führen, die Region weiter austrocknen und verwüsten.
„Gegenwärtig schlägt die Natur zurück und zwingt uns, vom sesshaften Leben zu einer nomadischen Lebensweise zurückzukehren“, schreibt Khanna in „Move: Das Zeitalter der Migration“. Seine Fans, zu denen etwa auch der ehemalige amerikanische Präsident Barack Obama gehört, der Khanna zum außenpolitischen Berater seiner ersten, vom Ruf nach „Change“ durchtränkten Wahlkampagne machte – schätzen Khanna als einen, der die Zukunft voraussagen kann. Weniger weil er einen verlässlich brennenden Dornbusch im Vorgarten hat, sondern weil er Karten und Daten richtig lesen und miteinander in Beziehung setzen kann. Jene, die er in den vergangenen Jahren in Bezug auf Klimawandel, Demografie und Ökonomie gelesen hat, scheinen nur einen Schluss zuzulassen: Wenn wegen Hitze und Überflutungen weite Teile der Erde kaum mehr zu bewohnen seien werden, werden sich weite Teile der Erdbevölkerung in Bewegung setzen. „Für Milliarden Menschen käme es dem Selbstmord gleich, würden sie am angestammten Ort bleiben.“
Natürlich werden in Khannas Vision auch Europa und Nordamerika weiter Ziel von Migration sein. Und sowohl der Staatenbund als auch der Bundesstaat werden sich öffnen müssen, wenn ihre derzeitigen Gesellschaften nicht irgendwann vollkommen vergreist dahinsiechen wollen – zwar umgeben von vielleicht immer noch sichereren Grenzen, aber eben auch von vollkommen überalterter Infrastruktur. „Europa steht vor der Wahl, Migranten aufzunehmen und zu integrieren oder von einer demographischen Klippe zu stürzen“, formuliert es Khanna. Und er ist zuversichtlich, dass der sich derzeit noch hinter rasiermesserscharfen Zäunen abschottende Kontinent die richtige Wahl treffen wird.
Die entscheidende Mentalitätsgrenze, so weiß es Khanna oder so hofft er es vielleicht auch nur, verlaufe heute nicht mehr zwischen Nord und Süd, sondern vielmehr zwischen Jung und Alt. Im Zweifel hätten zwei im Whatsapp-Zeitalter aufgewachsene Menschen aus vollkommen verschiedenen Erdregionen mehr miteinander gemein als die Mitglieder zweier Generation aus demselben Land, schreibt er – und leitet daraus ab, dass die jungen, in Zeiten von Erasmusprogrammen und Globalisierung aufgewachsenen Europäer sich ganz rational für eine aufgeklärtere Migrationspolitik entscheiden werden.
Angesichts der Erfolge der PiS-Partei in Polen, der Fidesz in Ungarn, der Migrationsfeinde von AfD, Lega und Rassemblement National, dem Irrsinn eines Donald Trump und des Brexits mag das wie der fromme Optimismus eines Kosmopoliten klingen. Khanna wurde in Indien geboren, ist in den Emiraten, den USA und Deutschland aufgewachsen, ging wieder in die Vereinigten Staaten und nach Großbritannien, um zu lernen und zu lehren, heute hat er sich in Singapur niedergelassen.
Dass er als Weltbürger eher Chancen sieht, wenn es um Migration geht, ist verständlich – was jedoch die vielen Menschen, die sich von Zuzug bedroht sehen, vielleicht nicht unbedingt interessieren wird. Doch Khanna ist sich sicher, dass die Welle der populistisch-nationalistischen Migrationsfeinde bald ausläuft. Sie erreichten „weitgehend eine ältere Generation, die bereits mit einem Fuß im Grab steht – und werden ihr auch dorthin folgen.“
Migrationsbewegungen eines bislang ungekannten Ausmaßes ausschließlich in Richtung der gegenwärtigen Wohlstandsinseln USA und Europa hin zu denken, würde in gewisser Weise ja auch nur den Narrativen jener folgen, die den christlich geprägten Westen gegen Menschen mit dunklerer Haut zu verteidigen glauben müssen. Khanna denkt hier aber viel weiter, die künftigen gelobten Länder sieht er eher dort, wo Permafrost milden Temperaturen weichen wird, wo heute höchstens Gräser und Birken, morgen aber schon erlesene Weine wachsen könnten.
So wie die Planwagen in den USA einst nach Westen rollten, hält er bald Siedlertrecks für möglich, die in Richtung Pol ziehen. Um in Kanada und den skandinavischen Staaten Land urbar zu machen, und nicht nur dort: Kasachstan, das heute rund 20 Millionen Einwohner hat, könnte sich klimatisch günstig verändern – ist es bereit für 200 Millionen weitere Einwohner?
Und Russland! Sibirien, bislang klischeemäßig mit Straflagern und Erfrierungstod assoziiert und somit Inbegriff der Lebensfeindlichkeit, könnte bei steigenden Temperaturen zu einer Art Obst- und Gemüsegarten Eurasiens werden, der von Millionen migrierten Asiaten, Indern und auch Südeuropäern bestellt wird. Khanna fordert sogar: „Russland muss zu einem eurasischen Kanada werden.“ Das autoritäre Russland Wladimir Putins – ein eurasischer Hort von Liberalität und Multikulturalismus? Dass er hier eben mal eine vollkommene Umkehrung der bestehenden politischen Verhältnisse hinpinselt, weiß Khanna, er betitelt das entsprechende Kapitel ja sogar vielsagend mit: „Die nächste russische Revolution“. Der Klimawandel wird Disruptionen ungeahnten Ausmaßes hervorbringen, keine Frage – und die meisten Menschen gehen wohl eher davon aus, dass diese Veränderungen schmerzhaft bis grausam sein dürften.
Khanna scheint jedoch an die Fähigkeit der Menschheit zu glauben, zu Entscheidungen zu kommen, von denen letztlich alle profitieren – und so wünschenswert seine Vision von einem Konsens der Aufgeklärten zu so gigantischen wie gerechten Umsiedlungsplänen auch wäre, klingt sie etwas sehr nach Science-Fiction. Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit. Gleichzeitig, und da ist Khanna wieder der Mose ohne Plan, beschreibt er in keinem Fall näher, wie die gewaltigen, von ihm prognostizierten Veränderungen ablaufen könnten, die notwendig sind, um seine Visionen nicht nur technologisch, sondern auch politisch möglich zu machen. Dass er, wenn es um Technik intelligent nutzende postnationale Gesellschaften geht, meist auf autoritär geführte Stadtstaaten wie Singapur oder die Vereinigten Arabischen Emirate verweist, müsste Khanna selbst am meisten zu denken geben.
Und so bedenkenswert viele seiner Gedanken auch sind, scheint ihn manchmal auch einfach die Lust an der sehr steilen These zu packen. Vor lauter Zukunftsbegeisterung vergisst er dann den Faktor Mensch, der schon viele Visionen und Innovationen ausgebremst hat. Soziale und familiäre Bindungen kommen in den knapp 420 Seiten nur am Rande vor, Technik dafür umso öfter. „In Frankreich“, schreibt Khanna etwa, würden kleine Dorfbäckereien bald durch halbautomatisierte Lebensmittelläden „und sogar Baguette-Automaten ersetzt“ werden. Baguette aus der Maschine? Mais non, jamais.
MORITZ BAUMSTIEGER
„Für Milliarden Menschen wäre
es Selbstmord, würden sie am
angestammten Ort bleiben.“
Sibirien könnte zu einer
Art Obst- und Gemüsegarten
Eurasiens werden
Auch ein Generationenkonflikt: Kinder auf der Flucht im Oktober 2015 auf einer Wiese an der deutsch-österreichischen Grenze bei Wegscheid.
Foto: Armin Weigel/dpa
Parag Khanna:
Move – Das Zeitalter
der Migration.
Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz und Karsten Petersen.
Rowohlt Berlin, 2021.
448 Seiten, 24 Euro.
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