Ein halbes Jahrhundert ist über Latife Hanim, Atatürks erste Ehefrau, geschwiegen worden. Die hochgebildete Frauenrechtlerin war zweieinhalb Jahre mit dem Staatsgründer der Türkei verheiratet. Nach der Scheidung im Jahre 1925 zog sie sich komplett aus dem öffentlichen Leben zurück, wie es heißt, um ihren Mann zu schützen. Latife Hanim, die oft ohne Kopftuch und auch mal in Reithosen auftrat, war zu ihrer Zeit ein Vorbild für viele Frauen. Die mutige, wortgewandte, willensstarke Frau hatte großen Einfluss auf Atatürks politische Projekte, setzte sich für das Frauenwahlrecht und ein modernes Scheidungsrecht ein. Doch die Frau, die sich in der politischen Arena der Türkei regelmäßig zu Wort gemeldet hatte, wurde nach der Trennung von Atatürk zur Einsiedlerin; sie wurde verleumdet und erschien später in Geschichtsbüchern höchstens noch als Fußnote. Sie starb 1975.Die Journalistin Ipek Çalislar machte sich vor einigen Jahren daran, die Geschichte dieser Frau zu recherchieren, um der Vergessenen und Geschmähten ihre wahre Identität zurückzugeben. Entstanden ist das beeindruckende Porträt einer selbständigen türkischen Frau, die Anfang des 20. Jahrhunderts für die Sache der Frauen eintrat. Das Buch ist in der Türkei ein großer Erfolg und verkaufte sich bisher 90.000 mal."Calislar stellt uns eine weltoffene, belesene, streitbare Frau vor, die Jura studiert hat und acht Sprachen spricht. Der von der Geschichtsschreibung mystifizierte Mustafa Kemal wird plötzlich ein Mann von Fleisch und Blut. Die Biografie suggeriert, dass die Liebesehe an den Schwächen des Republikgründers gescheitert ist."Ömer Erzeren, Berliner Zeitung"Es gibt zwei verschiedene Geschichtsauffassungen. Einmal, die wahre Geschichte, die Grundlage dieses Romans ist und auf die wir stolz sind. Zum anderen die Geschichte voller Lügen, die diejenigen erfunden haben, die die Republik zerstören wollen."Aus dem Nachwort von Özakman
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.01.2009Der Pascha war leider überfordert
Latife Hanim, Ehefrau Kemal Atatürks in der noch jungen Republik, wurde in der Türkei lange totgeschwiegen. Ipek Çalislar entdeckt in ihr die Wegbereiterin eines modernen Frauenbilds.
Atatürk und die Frauen? Ein Playboy sei er gewesen, charmant und gutaussehend, von seinen Tanzkünsten hätten die Damen in ganz Europa geschwärmt, heißt es in der Türkei. Und: Eine Frau brachte sich sogar für ihn um. Fikriye Hanim, die jahrelange Geliebte Atatürks, hatte sich vor seinem Haus in Çankaya 1924 erschossen, weil der türkische Staatsgründer nicht sie, sondern Latife, die Tochter eines reichen Händlers aus Izmir, geheiratet hatte. Fikriye ging als schöne Märtyrerin in die türkische Geschichte ein. Bis heute nährt ihr Freitod den Personenkult um Atatürk. Latife hingegen, von der sich Atatürk im August 1925 nach nur zweieinhalb Jahren Ehe wieder scheiden ließ, gilt bis heute in der Türkei bei vielen als Sinnbild einer nörgelnden, übellaunigen Ehefrau. Als "latifegibi" bezeichnet man dort Ehefrauen, die mit den Absätzen aufstampfen und rumschreien, wenn ihre Männer nicht so wollen wie sie.
Befragt man türkische Geschichtsbücher, dann findet man, wenn überhaupt, nur wenige Sätze, die der Gattin von Atatürk gewidmet sind. Sie klingen, als sei Latife wie eine große Katastrophe über ihn hereingebrochen. Auch in Biografien von Atatürk ist die Ehe ein blinder Fleck. Dabei teilte Latife das Leben des Staatsgründers in einer Phase der jungen Republik, in der er wichtige Weichen zur Gleichberechtigung von Mann und Frau stellte.
Die türkische Journalistin Ipek Çalislar wollte es mit Latifes schlechtem Ruf nicht auf sich beruhen lassen: Sie analysierte Memoiren und Autobiographien von Latifes Zeitgenossen und vor allem Korrespondentenberichte ausländischer Journalisten, die in den zwanziger und dreißiger Jahren aus der Türkei berichtet hatten. Das Porträt, das Çalislar auf diese Weise entwirft, ist geradezu verblüffend. Latife, so legt sie in ihrer jetzt auf Deutsch erschienenen Biographie nah - in der Türkei wurde das Buch innerhalb von wenigen Tagen zum Bestseller -, war nicht nur ideengebend für die Reformen des Frauenrechts, sondern auch eine wichtige, vielleicht sogar entscheidende Figur, um die Welt von der Hinwendung der Türkei zum Westen zu überzeugen.
Als sich Atatürk und Latife im Jahr 1922 in Izmir begegneten, war Latife dreiundzwanzig Jahre alt, Atatürk hatte die Vierzig schon überschritten. Frauen wie Latife gab es damals nur wenige in der Türkei: Nach der teilweise in Großbritannien verbrachen Schulzeit hatte sie an der Sorbonne Jura studiert, sprach mehrere Sprachen fließend, war weltgewandt, belesen und selbstbewusst. Das Paar heiratete im Januar 1923. Und brach - für alle Welt sichtbar - schon bei der Vermählung mit alten Traditionen: Anders als damals üblich, wurde Latife nicht durch einen Vormund vertreten, sondern saß bei der religiösen Zeremonie mit am Tisch, dem Geistlichen direkt gegenüber. Sie wurde persönlich gefragt, ob sie Mustafa Kemal heiraten wolle. Als Brautpreis zahlte dieser eine Summe von zehn Dirhem - ein lächerlich niedriger Betrag, der die Gleichstellung von Mann und Frau symbolisieren sollte.
Während der gesamten Ehe zelebrierte das Paar in der Öffentlichkeit einen Umgang miteinander, der einer Revolution des Geschlechterverhältnisses gleichkam. Selbst im modernen Ankara war damals das gesellschaftliche Leben von der sogenannten kaçgöç, der traditionellen islamischen Geschlechtertrennung, bestimmt, und türkische Frauen verhüllten ihre Gesichter. Die unverschleierte Latife hingegen begleitete ihren Mann bei seinen offiziellen Reisen durch die Türkei. Selbstbewusst posierte sie neben Mustafa Kemal für die Presse, arbeitete mit ihm seine Reden aus und sprach vor Publikum über Frauenrechte.
Ihre Haltung dazu war eindeutig: Frauen sollten ihren Gesichtsschleier ablegen und der Staat Bildung und Religion trennen, um die Stellung der Frau zu stärken. Außerdem unterstützte sie die Ausarbeitung eines Zivilgesetzes, das die nach islamischem Recht mögliche einseitige Scheidung durch den Mann und die Polygamie abschaffen sollte. Latife war die erste Frau in der türkischen Geschichte, die bei einer Sitzung des Parlaments anwesend war. Kamen ausländische Gesandte nach Ankara, dann bewirtete sie die Gäste in Atatürks Haus entgegen der jahrhundertealten Tradition persönlich mit Tee. "Kemal" nannte sie ihren Mann bei solchen Anlässen, obwohl das Protokoll die Anrede "mein Pascha" oder "verehrter Pascha" vorsah. Gesprächsrunden, die nur Männern vorbehalten waren, empfand sie als Angriff auf ihre Person. Latife sei die perfekte Synthese aus West und Ost und damit ein Symbol für die moderne Türkei, urteilten ausländische Regierungsvertreter und die Presse, die jeden ihrer Schritte aufmerksam beobachteten. Auch von ihrem politischen Gespür war man überzeugt: "Die Witwe Kemals könnte die Türkei regieren", schrieb die New York Times, als es im Jahr 1923 Gerüchte über ein Attentat auf Atatürk gab.
Fest steht: Latife stärkte die Position ihres Mannes, zumindest was die Beziehung zur westlichen Welt anging. Auch wenn der Schluss naheliegt, dass politisches Kalkül hinter der Verbindung stand, stellt Çalislar nicht in Abrede, dass die beiden aus Liebe heirateten. In den von ihr verwendeten Quellen erscheint der stolze, unnahbare und machtbewusste Atatürk in einem ganz neuen Licht: als ein Mann mit Stärken und Schwächen, der beleidigt wie ein Kind reagiert, wenn Latife versucht, ihn vom Trinken und Rauchen abzuhalten, der sich mit ihr in nächtelange politische Diskussionen vertieft, der sagt: Spiel Tschaikowsky für uns! Latif - "hübsch", nannte er seine Frau. Einmal sandte er ihr als Geschenk sein Lieblingspferd, nach der Scheidung schickte er ihr immer wieder Rosen.
Die unkonventionelle Art, mit der Çalislar den Staatsgründer beschreibt, brachte ihr in der Türkei ein Gerichtsverfahren wegen "Beleidigung von Atatürk" ein. Vor allem an einer Szene erhitzte sich der Kläger: Çalislar schildert darin, wie Latife ihren Mann bei einem Attentatsversuch das Leben rettete. Als im Jahr 1923 Putschisten nachts ihr Haus umstellten, verkleidete sich Atatürk mit einem Tschador als Frau; nur so konnte er entkommen. Latife indes lenkte die Belagerer ab - mit einem Fellhut und auf einer Kiste hinter dem dunklen Fenster stehend mimte sie Atatürk. Ein Mustafa Kemal in Frauenkleidern? Das darf für hartgesottene Kemalisten nicht sein.
Bis heute kann nur darüber spekuliert werden, warum die Ehe scheiterte. Weder Atatürk noch Latife haben sich jemals öffentlich dazu geäußert - der persönliche Brief, mit dem Atatürk Latife das Ende der Ehe mitteilte, lagert im Archiv der türkischen historischen Gesellschaft und wird erst in einigen Jahren freigegeben. In der zeitgenössischen türkischen Lesart jedoch trägt allein Latife die Schuld. Çalislar kommt zu einem anderen Schluss: Was Atatürk an Latife schätzte und letztendlich auch als Anspruch an das Frauenbild der modernen Türkei vertrat, nämlich Latifes Unabhängigkeit, ihren Ehrgeiz und die Bedingungslosigkeit, mit der sie die politische Bühne mitgestalten wollte, dem war er am Ende nicht gewachsen. Für diese These spricht auch die Art und Weise, wie Atatürk die nach westlichem Vorbild geschlossene Ehe beendete: Er löste sie einseitig, nach altem islamischen Recht - Latife wurde aus seinem Haus verstoßen. Ein paar Monate später hätte Atatürk nicht mehr so handeln können, denn dann trat das von ihm und Latife initiierte neue Scheidungsrecht in Kraft.
Latife wurde nach der Scheidung verleumdet und aus dem öffentlichen Bewusstsein verbannt. Sie musste mundtot gemacht werden, weil sie zu viel wusste, glaubt Çalislar. Während ihrer Ehe hatte die junge Frau tiefe Einblicke in die politischen Ränkespiele des Landes gewonnen; in den Augen vieler war sie deshalb eine Gefahr. Das Paar soll sich noch ein einziges Mal begegnet sein - zufällig, bei einer Spazierfahrt auf dem Bosporus.
Latife, die im Jahr 1975 starb, hat die Trennung offenbar nie verwunden. Und auch Atatürk soll bis zu seinem Tod immer wieder von Latife gesprochen haben. Als im Jahr 1934 Familiennamen in der Türkei zur Pflicht erklärt wurden, nahm er sich persönlich des Nachnamens von Latife an: "Ussaki" schrieb er in ihren Pass - was so viel bedeutet wie "sie waren unter den Liebenden".
KAREN KRÜGER
Ipek Çalislar: "Mrs. Atatürk - Latife Hanim". Ein Porträt. Aus dem Türkischen von Constanze Letsch. Orlanda Frauenverlag, Berlin 2008. 272 S., Abb., br., 17,90 [Euro].
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Latife Hanim, Ehefrau Kemal Atatürks in der noch jungen Republik, wurde in der Türkei lange totgeschwiegen. Ipek Çalislar entdeckt in ihr die Wegbereiterin eines modernen Frauenbilds.
Atatürk und die Frauen? Ein Playboy sei er gewesen, charmant und gutaussehend, von seinen Tanzkünsten hätten die Damen in ganz Europa geschwärmt, heißt es in der Türkei. Und: Eine Frau brachte sich sogar für ihn um. Fikriye Hanim, die jahrelange Geliebte Atatürks, hatte sich vor seinem Haus in Çankaya 1924 erschossen, weil der türkische Staatsgründer nicht sie, sondern Latife, die Tochter eines reichen Händlers aus Izmir, geheiratet hatte. Fikriye ging als schöne Märtyrerin in die türkische Geschichte ein. Bis heute nährt ihr Freitod den Personenkult um Atatürk. Latife hingegen, von der sich Atatürk im August 1925 nach nur zweieinhalb Jahren Ehe wieder scheiden ließ, gilt bis heute in der Türkei bei vielen als Sinnbild einer nörgelnden, übellaunigen Ehefrau. Als "latifegibi" bezeichnet man dort Ehefrauen, die mit den Absätzen aufstampfen und rumschreien, wenn ihre Männer nicht so wollen wie sie.
Befragt man türkische Geschichtsbücher, dann findet man, wenn überhaupt, nur wenige Sätze, die der Gattin von Atatürk gewidmet sind. Sie klingen, als sei Latife wie eine große Katastrophe über ihn hereingebrochen. Auch in Biografien von Atatürk ist die Ehe ein blinder Fleck. Dabei teilte Latife das Leben des Staatsgründers in einer Phase der jungen Republik, in der er wichtige Weichen zur Gleichberechtigung von Mann und Frau stellte.
Die türkische Journalistin Ipek Çalislar wollte es mit Latifes schlechtem Ruf nicht auf sich beruhen lassen: Sie analysierte Memoiren und Autobiographien von Latifes Zeitgenossen und vor allem Korrespondentenberichte ausländischer Journalisten, die in den zwanziger und dreißiger Jahren aus der Türkei berichtet hatten. Das Porträt, das Çalislar auf diese Weise entwirft, ist geradezu verblüffend. Latife, so legt sie in ihrer jetzt auf Deutsch erschienenen Biographie nah - in der Türkei wurde das Buch innerhalb von wenigen Tagen zum Bestseller -, war nicht nur ideengebend für die Reformen des Frauenrechts, sondern auch eine wichtige, vielleicht sogar entscheidende Figur, um die Welt von der Hinwendung der Türkei zum Westen zu überzeugen.
Als sich Atatürk und Latife im Jahr 1922 in Izmir begegneten, war Latife dreiundzwanzig Jahre alt, Atatürk hatte die Vierzig schon überschritten. Frauen wie Latife gab es damals nur wenige in der Türkei: Nach der teilweise in Großbritannien verbrachen Schulzeit hatte sie an der Sorbonne Jura studiert, sprach mehrere Sprachen fließend, war weltgewandt, belesen und selbstbewusst. Das Paar heiratete im Januar 1923. Und brach - für alle Welt sichtbar - schon bei der Vermählung mit alten Traditionen: Anders als damals üblich, wurde Latife nicht durch einen Vormund vertreten, sondern saß bei der religiösen Zeremonie mit am Tisch, dem Geistlichen direkt gegenüber. Sie wurde persönlich gefragt, ob sie Mustafa Kemal heiraten wolle. Als Brautpreis zahlte dieser eine Summe von zehn Dirhem - ein lächerlich niedriger Betrag, der die Gleichstellung von Mann und Frau symbolisieren sollte.
Während der gesamten Ehe zelebrierte das Paar in der Öffentlichkeit einen Umgang miteinander, der einer Revolution des Geschlechterverhältnisses gleichkam. Selbst im modernen Ankara war damals das gesellschaftliche Leben von der sogenannten kaçgöç, der traditionellen islamischen Geschlechtertrennung, bestimmt, und türkische Frauen verhüllten ihre Gesichter. Die unverschleierte Latife hingegen begleitete ihren Mann bei seinen offiziellen Reisen durch die Türkei. Selbstbewusst posierte sie neben Mustafa Kemal für die Presse, arbeitete mit ihm seine Reden aus und sprach vor Publikum über Frauenrechte.
Ihre Haltung dazu war eindeutig: Frauen sollten ihren Gesichtsschleier ablegen und der Staat Bildung und Religion trennen, um die Stellung der Frau zu stärken. Außerdem unterstützte sie die Ausarbeitung eines Zivilgesetzes, das die nach islamischem Recht mögliche einseitige Scheidung durch den Mann und die Polygamie abschaffen sollte. Latife war die erste Frau in der türkischen Geschichte, die bei einer Sitzung des Parlaments anwesend war. Kamen ausländische Gesandte nach Ankara, dann bewirtete sie die Gäste in Atatürks Haus entgegen der jahrhundertealten Tradition persönlich mit Tee. "Kemal" nannte sie ihren Mann bei solchen Anlässen, obwohl das Protokoll die Anrede "mein Pascha" oder "verehrter Pascha" vorsah. Gesprächsrunden, die nur Männern vorbehalten waren, empfand sie als Angriff auf ihre Person. Latife sei die perfekte Synthese aus West und Ost und damit ein Symbol für die moderne Türkei, urteilten ausländische Regierungsvertreter und die Presse, die jeden ihrer Schritte aufmerksam beobachteten. Auch von ihrem politischen Gespür war man überzeugt: "Die Witwe Kemals könnte die Türkei regieren", schrieb die New York Times, als es im Jahr 1923 Gerüchte über ein Attentat auf Atatürk gab.
Fest steht: Latife stärkte die Position ihres Mannes, zumindest was die Beziehung zur westlichen Welt anging. Auch wenn der Schluss naheliegt, dass politisches Kalkül hinter der Verbindung stand, stellt Çalislar nicht in Abrede, dass die beiden aus Liebe heirateten. In den von ihr verwendeten Quellen erscheint der stolze, unnahbare und machtbewusste Atatürk in einem ganz neuen Licht: als ein Mann mit Stärken und Schwächen, der beleidigt wie ein Kind reagiert, wenn Latife versucht, ihn vom Trinken und Rauchen abzuhalten, der sich mit ihr in nächtelange politische Diskussionen vertieft, der sagt: Spiel Tschaikowsky für uns! Latif - "hübsch", nannte er seine Frau. Einmal sandte er ihr als Geschenk sein Lieblingspferd, nach der Scheidung schickte er ihr immer wieder Rosen.
Die unkonventionelle Art, mit der Çalislar den Staatsgründer beschreibt, brachte ihr in der Türkei ein Gerichtsverfahren wegen "Beleidigung von Atatürk" ein. Vor allem an einer Szene erhitzte sich der Kläger: Çalislar schildert darin, wie Latife ihren Mann bei einem Attentatsversuch das Leben rettete. Als im Jahr 1923 Putschisten nachts ihr Haus umstellten, verkleidete sich Atatürk mit einem Tschador als Frau; nur so konnte er entkommen. Latife indes lenkte die Belagerer ab - mit einem Fellhut und auf einer Kiste hinter dem dunklen Fenster stehend mimte sie Atatürk. Ein Mustafa Kemal in Frauenkleidern? Das darf für hartgesottene Kemalisten nicht sein.
Bis heute kann nur darüber spekuliert werden, warum die Ehe scheiterte. Weder Atatürk noch Latife haben sich jemals öffentlich dazu geäußert - der persönliche Brief, mit dem Atatürk Latife das Ende der Ehe mitteilte, lagert im Archiv der türkischen historischen Gesellschaft und wird erst in einigen Jahren freigegeben. In der zeitgenössischen türkischen Lesart jedoch trägt allein Latife die Schuld. Çalislar kommt zu einem anderen Schluss: Was Atatürk an Latife schätzte und letztendlich auch als Anspruch an das Frauenbild der modernen Türkei vertrat, nämlich Latifes Unabhängigkeit, ihren Ehrgeiz und die Bedingungslosigkeit, mit der sie die politische Bühne mitgestalten wollte, dem war er am Ende nicht gewachsen. Für diese These spricht auch die Art und Weise, wie Atatürk die nach westlichem Vorbild geschlossene Ehe beendete: Er löste sie einseitig, nach altem islamischen Recht - Latife wurde aus seinem Haus verstoßen. Ein paar Monate später hätte Atatürk nicht mehr so handeln können, denn dann trat das von ihm und Latife initiierte neue Scheidungsrecht in Kraft.
Latife wurde nach der Scheidung verleumdet und aus dem öffentlichen Bewusstsein verbannt. Sie musste mundtot gemacht werden, weil sie zu viel wusste, glaubt Çalislar. Während ihrer Ehe hatte die junge Frau tiefe Einblicke in die politischen Ränkespiele des Landes gewonnen; in den Augen vieler war sie deshalb eine Gefahr. Das Paar soll sich noch ein einziges Mal begegnet sein - zufällig, bei einer Spazierfahrt auf dem Bosporus.
Latife, die im Jahr 1975 starb, hat die Trennung offenbar nie verwunden. Und auch Atatürk soll bis zu seinem Tod immer wieder von Latife gesprochen haben. Als im Jahr 1934 Familiennamen in der Türkei zur Pflicht erklärt wurden, nahm er sich persönlich des Nachnamens von Latife an: "Ussaki" schrieb er in ihren Pass - was so viel bedeutet wie "sie waren unter den Liebenden".
KAREN KRÜGER
Ipek Çalislar: "Mrs. Atatürk - Latife Hanim". Ein Porträt. Aus dem Türkischen von Constanze Letsch. Orlanda Frauenverlag, Berlin 2008. 272 S., Abb., br., 17,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ipek Calislars Biografie über Latife Hanim, die Ehefrau Kemal Atatürks, scheint Karen Krüger erhellend. Das Buch, in der Türkei ein Bestseller, wirft für sie ein neues Licht auf Latife. Während diese in der Türkei lange totgeschwiegen oder negativ dargestellt wurde, vermittelt die Autorin in ihren Augen ein positives Bild von Latife, von der sich Atatürk nach nur zweieinhalb Jahren Ehe im August 1925 wieder scheiden ließ. Latife erscheint für Krüger als eine moderne, selbstbewusste, weltgewandte Frau, die in Großbritannien ihre Schulzeit verbracht und an der Sorbonne Jura studiert hat. Sie unterstreicht insbesondere Latifes Rolle als Ideengeberin für das Frauenrecht. Außerdem habe Latife die Position ihre Mannes hinsichtlich der westlichen Welt gestärkt. Über das Scheitern der Ehe kann laut Krüger bis heute nur spekuliert werden. Calislars Vermutung, Atatürk sei seiner unabhängigen und auch ehrgeizigen Frau nicht gewachsen gewesen, hält sie aber für durchaus plausibel.
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