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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.11.2018

Hausfrau, Froschmann
Rachel Ingalls lüftet "Mrs. Calibans Geheimnis"

Mit Stangensellerie beginnt es. Eigentlich will Dorothy zum Küchenmesser greifen, mit dem sie die Rohkostplatte vorbereitet. Doch sie kriegt nur den Sellerie zu fassen und weiß in ihrer Panik keinen Ausweg, als dem Eindringling das Gemüse hinzuhalten. Ein großes grünes Wesen mit Froschaugen und flacher Nase, Schwimmhäuten zwischen den Fingern, kleinen Ohren sowie männlich-muskulösem Körper, braun gesprenkelt, hat sie in der Küche überrascht. Doch der Unhold nimmt ihr den Sellerie freundlich aus der Hand, verspeist ihn und bedankt sich. Auch das weitere Frischgemüse schmeckt ihm, und die Schüssel Spaghetti schüttet er sich mit einem Rutsch in den Schlund. Anschließend versteckt sie ihn im Gästezimmer - erst mal wollen Ehemann und Besuch im Esszimmer versorgt sein.

Am nächsten Morgen dann, als ihr Mann wie üblich ohne Gruß zur Arbeit aufgebrochen ist und Dorothy schon dachte, die Begegnung mit dem Fremden wäre bloß Traum gewesen, löst ihr der Froschmann den Bademantel und liebt sie ausgiebig. Dann unterhalten sie sich; sein Name ist Larry. So beginnt eine der wundersamsten, schaurig schönsten Liebesgeschichten, die man je gelesen hat, das Geniestück einer unterschätzten Autorin, die jetzt wieder einmal wiederzuentdecken ist.

Zuerst 1982 bei Faber in London erschienen, 1986 von der BBC zu einem der "besten amerikanischen Romane seit dem Zweiten Weltkrieg" gekürt, wurde die Erzählung bald wieder vergessen, bevor sie der Verlag New Directions vor einem Jahr neu herausbrachte. Auch bei uns erscheint sie jetzt bereits zum zweiten Mal in der subtilen Übersetzung von Werner Löcher-Lawrence, diesmal bei Wagenbach, wo ihr hoffentlich bleibender Ruhm bevorsteht. Denn das Problem der Autorin Rachel Ingalls, Amerikanerin aus Boston, Jahrgang 1940 und seit mehr als fünf Jahrzehnten in England lebend, liegt darin, dass sie uneindeutige Erzählformen bevorzugt - für Short Stories zu lang, für Romane zu kurz - und deshalb auf dem Markt untergeht. Dabei entfaltet sie auf knappem Raum Figuren und Geschichten von derart suggestiver Kraft und Faszination, dass man sie nie vergisst.

Larry zum Beispiel: Im tiefen Meer ist er zu Hause, wie er erzählt, in einer Welt aus rauschendem Klang, von der wir uns bloß armselige Begriffe machen. Skrupellose Wissenschaftler haben ihn im Golf von Mexiko gefangen, ins Labor verbracht und mit Elektroschocks traktiert, um seine Beschaffenheit zu testen. Da ist der Meermann ausgebrochen, hat zweien seiner Peiniger den Kopf abreißen müssen und wird seither polizeilich gesucht. So muss Dorothys Leidenschaft der Öffentlichkeit verborgen bleiben. Nicht mal der besten Freundin wagt sie, davon zu erzählen. Und der Ehemann, wie immer mit seinen Affären beschäftigt, merkt erst recht nichts.

Eine Zeitlang geht das gut. Ausgiebige Rohkostschlemmerei, gemeinsame Hausarbeit, nächtliche Ausflüge an die Küste, Baden, Reden, Lieben und Spazierengehen am Strand: nach Jahren suburbaner Hausfrauenexistenz, gelindert nur gelegentlich durch Zwiesprache mit ihrem Radio, aus dem sie Botschaften empfängt, genießt Dorothy das neu erfüllte Leben. Sie beginnt sogar, mit Larry über Nachwuchs nachzudenken (Kann das klappen? Sind sie artfremd? Oder bei so viel Seelengleichklang nicht doch fruchtbar?) und auf diese Art das Trauma ihrer zwei verlorenen Kinder zu bewältigen. Dann eskaliert die Lage. Wie sich herausstellt, ist die beste Freundin nicht nur dem Alkohol seit Jahren heimlich hingegeben. Alles endet in einem Inferno. Und Dorothy bleibt nur die Grabpflege.

Was Wirklichkeit, was Phantasie und welche von den beiden stärker ist, bleibt hier den Lesern überlassen. Ingalls' Wunschfroschmanngeschichte ist ein Musterbeispiel jener hohen Kunst, das Wesentliche durch Verschweigen zu vermitteln. Lediglich der Titel gibt uns einen Fingerzeig: Caliban heißt die monströse Kreatur aus Shakespeares "Der Sturm", halb Fisch, halb Knecht, für manche roher Wüstling, für andere Naturgenie; den Romantikern galt er als Inbegriff der dichterischen Imagination. Von ihm mag Larry ebenso abstammen wie von dem Monster, das Frankensteins Labor entsprungen ist und seither nach Liebe sucht.

Erzählt wird das lakonisch, mit nüchterner Distanz und feinen Boshaftigkeiten gespickt, dazu von abgründiger Melancholie durchzogen. Man liest diese surreal schwebende Sehnsuchtsfabel wie im Rausch. Einen Stangensellerie wird man danach nie mehr unschuldig berühren.

TOBIAS DÖRING

Rachel Ingalls: "Mrs. Calibans Geheimnis". Roman.

Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence.

Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2018. 142 S., geb., 18,- [Euro].

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