Gelehrte in den deutschsprachigen Ländern werden im 16. und 17. Jahrhundert von einem regelrechten Lullismus-Fieber erfasst: Die von Ramon Llull im 13. Jahrhundert entwickelte Ars, eine auf der Kombination bestimmter Grundbegriffe beruhende universale Erkenntnismethode, wird von zahlreichen interpretes für neue, rhetorische Zwecke adaptiert, doch zieht sich eine Sehnsucht wie ein roter Faden durch die Jahrhunderte: die Ermöglichung der Rede ex tempore über jedes erdenkliche Thema. Die Studie nimmt dieses Bemühen um eine Diskurstechnik mit Erfolgsgarantie ernst und fragt unter Einbeziehung vieler bisher unbeachteter Quellen nach seinen Kontexten. Damit liegt erstmals eine Funktionsgeschichte dieses Phänomens zwischen Enzyklopädie und Polyhistorismus, Topik und Kombinatorik, akademischer Disputationskunst und praxisorientierter Reformrhetorik vor.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.12.2001Wissensmaschine
Pisa, Potter und die Magie:
Die Ideen des Raimundus Lullus
Was hat der große mallorquinische Philosoph Raimundus Lullus (1232–1316) mit Harry Potter gemeinsam? Für beide ist Agrippa von Nettesheim (1486–1535) von weitreichender Bedeutung. Für Harry Potter ist er ein bedeutender Theoretiker der Magie und Alchemie. Für Raimundus Lullus war er der wohl wichtigste Popularisator, der „marktschreierisch” für sein Werk, kurz „Ars” genannt, geworben hat. Agrippa versprach, dass man sich die gesamte Wissenschaft mit Hilfe der „Ars” des Raimundus Lullus mühelos aneignen könne. Damit gingen „Kinder wie auch Greise aus einer nur wenige Monate dauernden Schulung in der ‚Ars’ als gelehrte Männer hervor.” Mit diesen Worten machte Agrippa von Nettesheim für die Philosophie des Lullus Propaganda. Kinder würden im Crashkurs Universalgelehrte, mit dem Fundus eines umfassenden Wissenskorpus. Agrippa von Nettesheim hatte Erfolg bei seinen Zeitgenossen, die eine zuverlässige Methode des Denkens mit enzyklopädischem Anspruch suchten. „Mühelose Wissenschaft” also. Nicht schlecht die Idee, nur hatte sie nicht den versprochenen Erfolg.
Anita Traninger untersucht diesen Strang des Überlebens der Ideen des Lullus über einen Zeitraum von 200 Jahren mit Genauigkeit und Präzision. Immer wieder wurde seine Philosophie von Propagandisten und Interpreten „nachjustiert”, d.h. dem Zeitgeist angepasst, so dass man sagen kann, sie war bis zur beginnenden Neuzeit in unseren Breiten die einflussreichste und populärste Philosophie. Das Verschwinden dieser Lesart Lullistischer Wissenschaftstheorie in der Neuzeit war nach Traningers Ansicht vor allem dem Paradigmenwechsel von topisch-deduktivem Denken zum empirisch-induktiven geschuldet. Der Unterschied zwischen alter und neuer Naturerkenntnis liegt darin, dass in ersterer nach dem Wesen einzelner Naturdinge gesucht wurde, in letzterer aber seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts nach den für alle Naturdinge gleichermaßen geltenden Gesetzen, die induktiv ermittelt werden, und welche eine Wenn-Dann-Beziehung festlegen: Immer, wenn A gemacht wird, geschieht B. Die neuzeitlichen Naturforscher zwingen die Natur durch Experimente zu Reaktionen.
Neben der beschriebenen Überlebensweise Lullistischer Gedanken, gibt es noch einen zweiten Strang des - diesmal bleibenden - Überlebens der „Ars”, nicht in der Profanliteratur oder „Schwulstrhetorik”, sondern in der Philosophie. Hier geht es um die Methode der Rationalisierung oder Kalkülisierung in vier Schritten. Problematische Sachverhalte werden auf einfache zugrundeliegende oder „letzte” Gesetze zurückgeführt, die dann kombiniert, transformiert und angewendet werden. Diese rationale Verfahrensweise führt Leibniz in seiner „Ars combinatoria” aus. Bei der Entfaltung dieses Verfahrens geht er auf Raimundus Lullus zurück. Aber bereits Descartes’ Methode aus dem Jahr 1637 empfahl die Zerlegung jedes Problems in einfache Sachverhalte, um sie zu lösen und später zusammenzufügen, obwohl Descartes die „Ars” als unbrauchbar ablehnte. Auch der nächste Schritt geht auf Raimundus zurück. Leibniz nennt ihn „Ars inveniendi”. Neues entsteht danach durch die andere Kombination von Altem. Die Kunst, aus Altem Neues zu erzeugen, nennt Max Weber, der bedeutende Analytiker des abendländischen Rationalisierungsprozesses, die „Abschätzung möglicher Zukunftskonstellationen”. Das ganze Verfahren heißt rational. Anita Traninger kommt mit ihrem Buch das Verdienst zu, in gründlicher und mühsamer Kleinarbeit erforscht zu haben, wie die „Basistheorie” unseres rationalen Denkens durch die Jahrhunderte hindurch überlebt und gewirkt hat.
DETLEF HORSTER
ANITA TRANINGER: Mühelose Wissenschaft und Rhetorik in den deutschsprachigen Ländern der Frühen Neuzeit. Wilhelm Fink Verlag, München 2001. 296 Seiten, 68 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Pisa, Potter und die Magie:
Die Ideen des Raimundus Lullus
Was hat der große mallorquinische Philosoph Raimundus Lullus (1232–1316) mit Harry Potter gemeinsam? Für beide ist Agrippa von Nettesheim (1486–1535) von weitreichender Bedeutung. Für Harry Potter ist er ein bedeutender Theoretiker der Magie und Alchemie. Für Raimundus Lullus war er der wohl wichtigste Popularisator, der „marktschreierisch” für sein Werk, kurz „Ars” genannt, geworben hat. Agrippa versprach, dass man sich die gesamte Wissenschaft mit Hilfe der „Ars” des Raimundus Lullus mühelos aneignen könne. Damit gingen „Kinder wie auch Greise aus einer nur wenige Monate dauernden Schulung in der ‚Ars’ als gelehrte Männer hervor.” Mit diesen Worten machte Agrippa von Nettesheim für die Philosophie des Lullus Propaganda. Kinder würden im Crashkurs Universalgelehrte, mit dem Fundus eines umfassenden Wissenskorpus. Agrippa von Nettesheim hatte Erfolg bei seinen Zeitgenossen, die eine zuverlässige Methode des Denkens mit enzyklopädischem Anspruch suchten. „Mühelose Wissenschaft” also. Nicht schlecht die Idee, nur hatte sie nicht den versprochenen Erfolg.
Anita Traninger untersucht diesen Strang des Überlebens der Ideen des Lullus über einen Zeitraum von 200 Jahren mit Genauigkeit und Präzision. Immer wieder wurde seine Philosophie von Propagandisten und Interpreten „nachjustiert”, d.h. dem Zeitgeist angepasst, so dass man sagen kann, sie war bis zur beginnenden Neuzeit in unseren Breiten die einflussreichste und populärste Philosophie. Das Verschwinden dieser Lesart Lullistischer Wissenschaftstheorie in der Neuzeit war nach Traningers Ansicht vor allem dem Paradigmenwechsel von topisch-deduktivem Denken zum empirisch-induktiven geschuldet. Der Unterschied zwischen alter und neuer Naturerkenntnis liegt darin, dass in ersterer nach dem Wesen einzelner Naturdinge gesucht wurde, in letzterer aber seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts nach den für alle Naturdinge gleichermaßen geltenden Gesetzen, die induktiv ermittelt werden, und welche eine Wenn-Dann-Beziehung festlegen: Immer, wenn A gemacht wird, geschieht B. Die neuzeitlichen Naturforscher zwingen die Natur durch Experimente zu Reaktionen.
Neben der beschriebenen Überlebensweise Lullistischer Gedanken, gibt es noch einen zweiten Strang des - diesmal bleibenden - Überlebens der „Ars”, nicht in der Profanliteratur oder „Schwulstrhetorik”, sondern in der Philosophie. Hier geht es um die Methode der Rationalisierung oder Kalkülisierung in vier Schritten. Problematische Sachverhalte werden auf einfache zugrundeliegende oder „letzte” Gesetze zurückgeführt, die dann kombiniert, transformiert und angewendet werden. Diese rationale Verfahrensweise führt Leibniz in seiner „Ars combinatoria” aus. Bei der Entfaltung dieses Verfahrens geht er auf Raimundus Lullus zurück. Aber bereits Descartes’ Methode aus dem Jahr 1637 empfahl die Zerlegung jedes Problems in einfache Sachverhalte, um sie zu lösen und später zusammenzufügen, obwohl Descartes die „Ars” als unbrauchbar ablehnte. Auch der nächste Schritt geht auf Raimundus zurück. Leibniz nennt ihn „Ars inveniendi”. Neues entsteht danach durch die andere Kombination von Altem. Die Kunst, aus Altem Neues zu erzeugen, nennt Max Weber, der bedeutende Analytiker des abendländischen Rationalisierungsprozesses, die „Abschätzung möglicher Zukunftskonstellationen”. Das ganze Verfahren heißt rational. Anita Traninger kommt mit ihrem Buch das Verdienst zu, in gründlicher und mühsamer Kleinarbeit erforscht zu haben, wie die „Basistheorie” unseres rationalen Denkens durch die Jahrhunderte hindurch überlebt und gewirkt hat.
DETLEF HORSTER
ANITA TRANINGER: Mühelose Wissenschaft und Rhetorik in den deutschsprachigen Ländern der Frühen Neuzeit. Wilhelm Fink Verlag, München 2001. 296 Seiten, 68 Mark.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Delef Horster lobt, Anita Traninger habe in "gründlicher und mühsamer Kleinarbeit erforscht ..., wie die 'Basistheorie' unseres rationalen Denkens durch die Jahrhunderte hindurch überlebt und gewirkt" hat. Schlüsselpersonen für die sogenannte mühelose Wissenschaft ("Ars") seien in erster Linie der mallorquinische Philosoph Raimundus Lullus (1232-1316) und sein Nachfolger Agrippa von Nettesheim (1486-1535), der die Lehrmethode des garantiert allumfassenden Wissens des Raimundus Lullus propagierte. Wie die Autorin zeige, sei dieses Wissensversprechen auf anhaltendes Interesse gestoßen, wobei man die Lullische Philosophie stets auf den gerade aktuellen Zeitgeist hin aufbereitet habe. Der Paradigmenwechsel (von topisch-deduktivem Denken zu empirisch-induktivem) seit Beginn des 17. Jahrhunderts sei die Ursache für das Verschwinden Lullischer Gedanken. Jedoch fänden sich Reste in der "Ars Combinatoria" und der "Ars inveniendi" bei Leibniz. Ob der Rezensent dies alles jetzt aus dem Buch erfahren hat oder schon vorher wusste, erfahren wir leider nicht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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