"Beim Müll geht es ja immer um das Trennen. Darum sag ich, Müll beste Schule für das Denken. Weil du hast die Kategorien, sprich Wannen. Ohne die klare Trennung kannst du jedes Recycling vergessen. Und da bin ich noch nicht einmal bei den Problemstoffen."
Auf einem der Wiener Mistplätze (dt.: Altstoffsammelzentrum) herrscht strenge Ordnung, bis eines Tages in der Sperrmüllwanne ein menschliches Knie gefunden wird. Schnell tauchen in anderen Wannen weitere Leichenteile auf, die entgegen der Mistplatzordnung und zum großen Leidwesen der Müllmänner allesamt nicht korrekt eingeworfen wurden. Nur vom Herz des zerlegten Toten fehlt jede Spur. Die Kripo weiß nicht weiter. Zum Glück ist unter den Müllmännern ein Ex-Kollege, der nicht nur das fehlende Herz samt Begleitschreiben findet, sondern auch nie vergessen hat, was man bei Mord bedenken muss. Und damit steckt Simon Brenner nicht nur in einem neuen Fall, sondern auch bis zum Hals in Schwierigkeiten.
Auf einem der Wiener Mistplätze (dt.: Altstoffsammelzentrum) herrscht strenge Ordnung, bis eines Tages in der Sperrmüllwanne ein menschliches Knie gefunden wird. Schnell tauchen in anderen Wannen weitere Leichenteile auf, die entgegen der Mistplatzordnung und zum großen Leidwesen der Müllmänner allesamt nicht korrekt eingeworfen wurden. Nur vom Herz des zerlegten Toten fehlt jede Spur. Die Kripo weiß nicht weiter. Zum Glück ist unter den Müllmännern ein Ex-Kollege, der nicht nur das fehlende Herz samt Begleitschreiben findet, sondern auch nie vergessen hat, was man bei Mord bedenken muss. Und damit steckt Simon Brenner nicht nur in einem neuen Fall, sondern auch bis zum Hals in Schwierigkeiten.
„Ich möchte mir den Brenner
nicht als Impfgegner vorstellen“
Ausflug mit dem Schriftsteller Wolf Haas zum Wertstoffhof:
Dort spielt sein neunter Brenner-Krimi.
Wie lange kann es seinen widerborstigen Ermittler noch geben?
VON MORITZ BAUMSTIEGER
Es sei gut, sagt Wolf Haas, dass er den Satz entsorgt hat. Den Satz, mit dem die ersten sechs seiner Simon-Brenner-Krimis verlässlich angefangen haben. Den Satz, mit dem Lokalreporter bald ebenso verlässlich Stücke begannen, in denen es um Graffiti-Attacken auf Stromkästen ging oder um unheimliche Aufbruchsserien von Opferstöcken. Mit dem in den vergangenen Monaten dann gerne die österreichische Innenpolitik kommentiert wurde, wenn schon wieder was passiert war, was ja durchaus häufiger der Fall war. Der Satz, mit dem ohnehin verlässlich jeder zweite Text anfängt, wenn Wolf Haas wieder etwas geschrieben hat. Und das hat er. „Ich habe zwei Covid-Symptome“, sagt er bei einem Treffen Ende Februar in Wien: „Lange Haare und einen Roman.“
Wolf Haas ist eben über den Mistplatz in Wien-Heiligenstadt spaziert, Schiebermütze, Wollmantel, den Rucksack nur mit einem Träger über der rechten Schulter. Ein bisschen sieht er in diesem Look so aus wie Julian Assange auf den zuletzt öffentlich gewordenen Fotos, aber nur ein bisschen – der Lockdown für den Wikileaks-Chef ist deutlich härter und länger. Mistplatz, das ist österreichisch für den Begriff „Wertstoffhof“ und ist natürlich schon voll von jener Mischung aus Putzigkeit, Skurrilität und Direktheit, die Besucher aus Deutschland so gerne finden, wenn sie sich im Nachbarland umtun. Auf den Mistplatz ist Haas nicht etwa gekommen, um seinen Satz zu entsorgen: „Jetzt ist schon wieder was passiert“, um es nun endlich doch einmal hinzuschreiben. Den Satz verwendet er schon seit dem siebten Brenner-Roman nicht mehr, in diesen Tagen kommt der neunte. Er startet mit den Worten: „Vorigen Sommer bin ich einmal am See unten gesessen“ und heißt: „Müll“.
Auf dem Mistplatz, auf dem gute Teile des neuen Brenner-Romans spielen, will Wolf Haas lieber kein Method-Acting-Interview geben. Nicht erläuternd von Wanne zu Wanne spazieren, wie man in Wien die Container nennt, in denen die Wohlstandsgesellschaft entsorgt, was ihr zu viel wird. Es bleibt bei ein paar Bildern hier, Fotos machen ist „offiziell nicht“ gestattet, wie ein Angestellter im orangen Overall auf Nachfrage sagt, was Haas sehr gefällt. Den Mistplatz mag er grundsätzlich auch, aber reden lässt es sich dann auf einer Café-Terrasse doch angenehmer.
In der jetzigen Zeit, in der die meisten vor dem Rechner sitzen und auch ein Krimi-Ermittler realistischerweise in 90 Prozent der Zeit auf einen Bildschirm starren müsste, sei „es schwer, eine Welt zu beschreiben, die noch irgendwie interessant ist“, sagt Haas dann vor einem Café im Einkaufszentrum gegenüber. Spannung erzeugen ließe sich ja fast nur noch, wenn jemandem der Akku ausginge. Der Mistplatz sei da fast das letzte Reale, ein Ort, wo Dinge noch scheppern und stinken. Und trotzdem so etwas wie eine heile Welt, findet Haas. „Alles hat seinen Platz, alles ist überschaubar. Jeder Stoff hat seine Nummer. Und am Ende bleibt kein Rest.“
Bei Krimis aber bleibt hingegen schon meist ein Rest, und zwar meistens von einem Menschen, der nicht mehr lebt. In „Müll“ taucht erst ein menschliches Knie auf, in Wanne 4, Sperrmüll, obwohl doch eigentlich Wanne 19, Biomüll, korrekter gewesen wäre. Dann ein abgetrennter Kopf, später die Finger, Wanne 7, Folien. Und weil sich so ein Mistplatz nicht nur zum Entsorgen von überflüssig gewordenen Dingen und Leichenteilen eignet, sondern auch zum Recycling gebrauchter Biografien etwa beim Personal, ist natürlich auch Simon Brenner da. Ex-Polizist, Ex-Rettungsfahrer, Ex-Detektiv.
„Weil du darfst eines nicht vergessen. Ohne die Wiederverwertung wäre die Welt schon längst untergegangen“, weiß der Erzähler in „Müll“. Und der Begriff „Wiederverwertung“ ist natürlich ein Stichwort bei einem Autor, der diesen Erzähler eigentlich schon drei Bände zuvor erschießen ließ, weil er die Brenner-Serie überhatte. Den Untergang der Brenner-Welt machte Haas dann aber doch wieder rückgängig. „Die Wiederholung wird beargwöhnt“, sagt Haas, „in der Literatur besteht der Anspruch, sich von Buch zu Buch neu zu erfinden.“ Gleichzeitig schauten alle aber Netflix, weil das Gesetz der Serie eben einen großen Reiz habe. „Man muss es für sich interessant machen“, meint Haas. „Für mich heißt das: einigermaßen lang warten“ – der bisher letzte Brenner erschien vor acht Jahren –, „und dann muss ich irgendein Fenster finden, aus dem ich mich herauslehnen kann.“
Das Fenster, aus dem sich Haas nun im neunten Brenner-Aufguss hinauslehnt, sei etwa „eine 40-seitige Passage, in der der Ermittler außer Gefecht ist, nicht mehr mitspielen darf“. Nicht genau das, wozu Dramaturgie-Doktoren in Verlagen raten würden, aber es funktioniert: Die Spannung steigt parallel zur Spannung in der Blase des gefesselten Ermittlers. Und interessant gemacht ist „Müll“ auch über solche Spielereien hinaus. Die Kombination aus Recycling und Körperteilen ist natürlich kein Zufall, bald variiert die Thematik und dreht sich um Organe, die manchmal gespendet werden und manchmal auch gehandelt werden. Wie groß der Schwarzmarkt ist, hängt etwa davon ab, ob in einem Land die Zustimmungslösung gilt (Mensch braucht Organspendeausweis, damit entnommen werden darf) oder die Widerspruchslösung (entnommen werden darf immer, es sei denn, es steht das Gegenteilige auf einem Zettel in der Geldbörse). Und da unterscheiden sich etwa Österreich, wo die Handlung beginnt, und Deutschland, wo sie endet, deutlich. Doch ganz egal, wie nun der rechtliche Rahmen ist: Eine Entnahme von Organen ist nur möglich, wenn sie der bisherige Eigentümer nicht weiter selbst benötigt. Willkommen im Genre Krimi.
Das alles klingt nach verlässlicher Haas-Suspense und ist es auch. Und weil der Autor, der Sprache gerne mit Musik vergleicht, zudem verlässlich seine Best-of-Akkorde anschlägt – „und du darfst eines nicht vergessen“, „sicher ist es ein bisschen Ding“, „frage nicht“ –, brandet in der Fankurve bestimmt der Jubel auf, so wie er bei Stadionkonzerten zu hören ist, wenn die ersten Töne eines alten Hits erklingen. Ein Neuerfindungsalbum, wie es Produzenten manchmal Bands einreden, das Fans dann aber meist schnell vergessen wollen, ist „Müll“ sicher nicht.
Trotzdem stellt sich die Frage, wie lang der Autor und sein Ermittler noch auf Revival-Tour gehen können. Als Wolf Haas 1996 zum ersten Mal behauptete, dass wieder etwas passiert sei, stellte er sich Brenner als „älteren Typen“ vor, 44 Jahre alt und somit zehn Jahre älter als er selbst. „Ein typischer Mann sollte das sein, aber trotzdem nicht unsympathisch“, sagt Haas.
Heute ist der Autor selbst 60 Jahre alt. Und wenn es einen typischen Vertreter der Kategorie „alter weißer Mann“ gibt, dann ist es sicher sein Ermittler aus Graz-Puntigam, der durch die Welt stolpert, ohne seine eigenen Gedanken und Gefühle je wirklich wahrzunehmen. „Manchmal ist es verhext, je richtiger man es ausdrücken will, desto komplizierter wird es“, ahnt etwa der Erzähler in „Müll“, das ein paar Jahre vor unserer Zeit spielt, die kommenden Gender- und Wokeness-Debatten voraus. Und wie Brenner in der moralisch noch deutlich entschiedeneren Gegenwart aussehen würde? „Ich möchte mir den Brenner zum Beispiel nicht als Impfgegner vorstellen“, sagt Haas. „Aber ich kann mir durchaus vorstellen, dass er nicht unter den Ersten gewesen wäre.“
Als alter weißer Mann, sagt Haas, der in seiner Jugend durchaus unter weißen alten Männern gelitten hat, könne man heute nur zwischen zwei unattraktiven Positionen wählen. „Stellt man sich komplett gegen die Veränderung, ist es lächerlich. Hüpft man brav dem Trend hinterher, ist es auch lächerlich.“ Dass Brenner dem Trend hinterherhüpft, ist eher unwahrscheinlich. Dass Haas ihn deshalb entsorgt, ebenfalls. Er wird wohl wieder ein bisschen warten, bis er selbst ein anderer ist und die Welt eine andere. Und dann recyceln. So geht das Gesetz der Serie. Und das des Mistplatzes.
„Dann muss ich irgendein
Fenster finden, aus dem ich
mich herauslehnen kann.“
Wenn es einen typischen „alten
weißen Mann“ gibt, dann sicher
den Ermittler aus Graz-Puntigam
Der Mistplatz sei fast das letzte Reale, ein Ort, wo Dinge noch scheppern und stinken, sagt Wolf Haas.
Foto: M. Baumstieger
Wolf Haas: Müll.
Hoffmann & Campe,
Hamburg 2022.
288 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
nicht als Impfgegner vorstellen“
Ausflug mit dem Schriftsteller Wolf Haas zum Wertstoffhof:
Dort spielt sein neunter Brenner-Krimi.
Wie lange kann es seinen widerborstigen Ermittler noch geben?
VON MORITZ BAUMSTIEGER
Es sei gut, sagt Wolf Haas, dass er den Satz entsorgt hat. Den Satz, mit dem die ersten sechs seiner Simon-Brenner-Krimis verlässlich angefangen haben. Den Satz, mit dem Lokalreporter bald ebenso verlässlich Stücke begannen, in denen es um Graffiti-Attacken auf Stromkästen ging oder um unheimliche Aufbruchsserien von Opferstöcken. Mit dem in den vergangenen Monaten dann gerne die österreichische Innenpolitik kommentiert wurde, wenn schon wieder was passiert war, was ja durchaus häufiger der Fall war. Der Satz, mit dem ohnehin verlässlich jeder zweite Text anfängt, wenn Wolf Haas wieder etwas geschrieben hat. Und das hat er. „Ich habe zwei Covid-Symptome“, sagt er bei einem Treffen Ende Februar in Wien: „Lange Haare und einen Roman.“
Wolf Haas ist eben über den Mistplatz in Wien-Heiligenstadt spaziert, Schiebermütze, Wollmantel, den Rucksack nur mit einem Träger über der rechten Schulter. Ein bisschen sieht er in diesem Look so aus wie Julian Assange auf den zuletzt öffentlich gewordenen Fotos, aber nur ein bisschen – der Lockdown für den Wikileaks-Chef ist deutlich härter und länger. Mistplatz, das ist österreichisch für den Begriff „Wertstoffhof“ und ist natürlich schon voll von jener Mischung aus Putzigkeit, Skurrilität und Direktheit, die Besucher aus Deutschland so gerne finden, wenn sie sich im Nachbarland umtun. Auf den Mistplatz ist Haas nicht etwa gekommen, um seinen Satz zu entsorgen: „Jetzt ist schon wieder was passiert“, um es nun endlich doch einmal hinzuschreiben. Den Satz verwendet er schon seit dem siebten Brenner-Roman nicht mehr, in diesen Tagen kommt der neunte. Er startet mit den Worten: „Vorigen Sommer bin ich einmal am See unten gesessen“ und heißt: „Müll“.
Auf dem Mistplatz, auf dem gute Teile des neuen Brenner-Romans spielen, will Wolf Haas lieber kein Method-Acting-Interview geben. Nicht erläuternd von Wanne zu Wanne spazieren, wie man in Wien die Container nennt, in denen die Wohlstandsgesellschaft entsorgt, was ihr zu viel wird. Es bleibt bei ein paar Bildern hier, Fotos machen ist „offiziell nicht“ gestattet, wie ein Angestellter im orangen Overall auf Nachfrage sagt, was Haas sehr gefällt. Den Mistplatz mag er grundsätzlich auch, aber reden lässt es sich dann auf einer Café-Terrasse doch angenehmer.
In der jetzigen Zeit, in der die meisten vor dem Rechner sitzen und auch ein Krimi-Ermittler realistischerweise in 90 Prozent der Zeit auf einen Bildschirm starren müsste, sei „es schwer, eine Welt zu beschreiben, die noch irgendwie interessant ist“, sagt Haas dann vor einem Café im Einkaufszentrum gegenüber. Spannung erzeugen ließe sich ja fast nur noch, wenn jemandem der Akku ausginge. Der Mistplatz sei da fast das letzte Reale, ein Ort, wo Dinge noch scheppern und stinken. Und trotzdem so etwas wie eine heile Welt, findet Haas. „Alles hat seinen Platz, alles ist überschaubar. Jeder Stoff hat seine Nummer. Und am Ende bleibt kein Rest.“
Bei Krimis aber bleibt hingegen schon meist ein Rest, und zwar meistens von einem Menschen, der nicht mehr lebt. In „Müll“ taucht erst ein menschliches Knie auf, in Wanne 4, Sperrmüll, obwohl doch eigentlich Wanne 19, Biomüll, korrekter gewesen wäre. Dann ein abgetrennter Kopf, später die Finger, Wanne 7, Folien. Und weil sich so ein Mistplatz nicht nur zum Entsorgen von überflüssig gewordenen Dingen und Leichenteilen eignet, sondern auch zum Recycling gebrauchter Biografien etwa beim Personal, ist natürlich auch Simon Brenner da. Ex-Polizist, Ex-Rettungsfahrer, Ex-Detektiv.
„Weil du darfst eines nicht vergessen. Ohne die Wiederverwertung wäre die Welt schon längst untergegangen“, weiß der Erzähler in „Müll“. Und der Begriff „Wiederverwertung“ ist natürlich ein Stichwort bei einem Autor, der diesen Erzähler eigentlich schon drei Bände zuvor erschießen ließ, weil er die Brenner-Serie überhatte. Den Untergang der Brenner-Welt machte Haas dann aber doch wieder rückgängig. „Die Wiederholung wird beargwöhnt“, sagt Haas, „in der Literatur besteht der Anspruch, sich von Buch zu Buch neu zu erfinden.“ Gleichzeitig schauten alle aber Netflix, weil das Gesetz der Serie eben einen großen Reiz habe. „Man muss es für sich interessant machen“, meint Haas. „Für mich heißt das: einigermaßen lang warten“ – der bisher letzte Brenner erschien vor acht Jahren –, „und dann muss ich irgendein Fenster finden, aus dem ich mich herauslehnen kann.“
Das Fenster, aus dem sich Haas nun im neunten Brenner-Aufguss hinauslehnt, sei etwa „eine 40-seitige Passage, in der der Ermittler außer Gefecht ist, nicht mehr mitspielen darf“. Nicht genau das, wozu Dramaturgie-Doktoren in Verlagen raten würden, aber es funktioniert: Die Spannung steigt parallel zur Spannung in der Blase des gefesselten Ermittlers. Und interessant gemacht ist „Müll“ auch über solche Spielereien hinaus. Die Kombination aus Recycling und Körperteilen ist natürlich kein Zufall, bald variiert die Thematik und dreht sich um Organe, die manchmal gespendet werden und manchmal auch gehandelt werden. Wie groß der Schwarzmarkt ist, hängt etwa davon ab, ob in einem Land die Zustimmungslösung gilt (Mensch braucht Organspendeausweis, damit entnommen werden darf) oder die Widerspruchslösung (entnommen werden darf immer, es sei denn, es steht das Gegenteilige auf einem Zettel in der Geldbörse). Und da unterscheiden sich etwa Österreich, wo die Handlung beginnt, und Deutschland, wo sie endet, deutlich. Doch ganz egal, wie nun der rechtliche Rahmen ist: Eine Entnahme von Organen ist nur möglich, wenn sie der bisherige Eigentümer nicht weiter selbst benötigt. Willkommen im Genre Krimi.
Das alles klingt nach verlässlicher Haas-Suspense und ist es auch. Und weil der Autor, der Sprache gerne mit Musik vergleicht, zudem verlässlich seine Best-of-Akkorde anschlägt – „und du darfst eines nicht vergessen“, „sicher ist es ein bisschen Ding“, „frage nicht“ –, brandet in der Fankurve bestimmt der Jubel auf, so wie er bei Stadionkonzerten zu hören ist, wenn die ersten Töne eines alten Hits erklingen. Ein Neuerfindungsalbum, wie es Produzenten manchmal Bands einreden, das Fans dann aber meist schnell vergessen wollen, ist „Müll“ sicher nicht.
Trotzdem stellt sich die Frage, wie lang der Autor und sein Ermittler noch auf Revival-Tour gehen können. Als Wolf Haas 1996 zum ersten Mal behauptete, dass wieder etwas passiert sei, stellte er sich Brenner als „älteren Typen“ vor, 44 Jahre alt und somit zehn Jahre älter als er selbst. „Ein typischer Mann sollte das sein, aber trotzdem nicht unsympathisch“, sagt Haas.
Heute ist der Autor selbst 60 Jahre alt. Und wenn es einen typischen Vertreter der Kategorie „alter weißer Mann“ gibt, dann ist es sicher sein Ermittler aus Graz-Puntigam, der durch die Welt stolpert, ohne seine eigenen Gedanken und Gefühle je wirklich wahrzunehmen. „Manchmal ist es verhext, je richtiger man es ausdrücken will, desto komplizierter wird es“, ahnt etwa der Erzähler in „Müll“, das ein paar Jahre vor unserer Zeit spielt, die kommenden Gender- und Wokeness-Debatten voraus. Und wie Brenner in der moralisch noch deutlich entschiedeneren Gegenwart aussehen würde? „Ich möchte mir den Brenner zum Beispiel nicht als Impfgegner vorstellen“, sagt Haas. „Aber ich kann mir durchaus vorstellen, dass er nicht unter den Ersten gewesen wäre.“
Als alter weißer Mann, sagt Haas, der in seiner Jugend durchaus unter weißen alten Männern gelitten hat, könne man heute nur zwischen zwei unattraktiven Positionen wählen. „Stellt man sich komplett gegen die Veränderung, ist es lächerlich. Hüpft man brav dem Trend hinterher, ist es auch lächerlich.“ Dass Brenner dem Trend hinterherhüpft, ist eher unwahrscheinlich. Dass Haas ihn deshalb entsorgt, ebenfalls. Er wird wohl wieder ein bisschen warten, bis er selbst ein anderer ist und die Welt eine andere. Und dann recyceln. So geht das Gesetz der Serie. Und das des Mistplatzes.
„Dann muss ich irgendein
Fenster finden, aus dem ich
mich herauslehnen kann.“
Wenn es einen typischen „alten
weißen Mann“ gibt, dann sicher
den Ermittler aus Graz-Puntigam
Der Mistplatz sei fast das letzte Reale, ein Ort, wo Dinge noch scheppern und stinken, sagt Wolf Haas.
Foto: M. Baumstieger
Wolf Haas: Müll.
Hoffmann & Campe,
Hamburg 2022.
288 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensent Rainer Moritz freut sich über den neunten Teil der Brenner-Krimireihe des Kriminalromanrevolutionärs Wolf Haas. In "Müll" arbeitet der mittlerweile gealterte ehemalige Polizist und Müllarbeiter an einem neuen Fall, als in einem Container seiner Arbeitsstelle Leichenteile gefunden werden. Was für die Tochter des ermordeten Franz Schall wie eine Tat der Organmafia wirkt, scheint sich im Laufe der Handlung anhand vieler genüsslich und glänzend erzählter Indizien doch als Beziehungstat zu erkennen zu geben, erklärt Moritz. Was am Ende passiert will uns der Rezensent nicht verraten, aber das sei in Haas' Büchern sowieso nicht so wichtig wie das kunstvoll-komische Spiel mit der Sprache und seiner Abneigung gegen das Realistische und Handlungsorientierte. Auch, wenn es so scheint, als würde sich der Protagonist immer mehr verflüchtigen, hofft Moritz auf einen zehnten Teil als würdigen Abschluss der Brenner-Reihe, den er etwa im Jahr 2029 erwartet.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.03.2022Kriminalroman: Hilfsausdruck
Nach acht Jahren Pause erscheint der neunte Brenner-Roman von Wolf Haas, mit dem schon niemand mehr gerechnet hatte.
Von Andrea Diener
Im Prinzip könnte man das hier auch in vier Worten ohne Verb erledigen: Neuer Brenner, immer gut. Aber damit kein Raum für Notizen auf der Seite frei bleibt und weil wir ja auch eine Informationspflicht hinsichtlich literarischer und weniger literarischer Neuerscheinungen haben, wird das jetzt doch ein bisschen länger. Schließlich hat man nach dem letzten Band "Brennerova", der im Jahr 2014 erschienen ist, fast nicht mehr damit gerechnet, dass Wolf Haas noch einmal zu seinem Helden zurückkehrt, aber es ist ihm was eingefallen. Oder, wie es im Brenner-Erzählkosmos heißt, jetzt ist schon wieder was passiert, auch wenn es diesmal eigentlich schon verjährt ist, obwohl Mord nicht verjährt, aber Dings.
Die Brenner-Krimis erzählen ihre Fälle auf eine sehr eigene Weise beziehungsweise lassen sie erzählen von einem, von dem man nur seine Stimme kennt und sonst nichts über ihn weiß. Aber die Stimme ist dafür sehr präsent. So ungefähr wie diese schon ziemlich angetrunkenen Typen an der Bar so gegen Mitternacht, die man nur schwer loswird, aber dann kippt man doch in diese Geschichte rein, auch wenn der Erzähler sich mitunter vergebens um Stringenz bemüht, und hört sich das halt doch bis zum Ende an. Manchmal fließt der Erzählstrom nicht so richtig und schweift irgendwohin ab, wie wenn man einen Hund spazieren führt, und dann ist da ein Eichhörnchen, und es gibt für den Hund in diesem Moment nichts Wichtigeres als eben dieses Eichhörnchen. Genau so beginnt der neue Brenner mit Müll, erst einmal geht es um nichts anderes, da wird die ganze Welt vom Müllplatz aus erzählt oder, wie der Wiener sagt, vom Mistplatz aus. Und dieser Mistplatz und seine Belegschaft werden vor uns ausgebreitet wie ein großes Schlachtengemälde.
"Müll beste Schule für das Denken", heißt es da. Denn Stilmerkmal Satz ohne Verb. Und: "Vor dem Mist sind alle Menschen gleich." Denn natürlich ist die Erzählung nicht einfach nur so dahergeredet, sondern höchst artifiziell geformt und voller Hammersätze, so kennt man Wolf Haas und seine Prosa.
Für alles, was auf der Welt anfällt, gibt es Wannen. Für Folien, für Sperrmüll, für Textil. Nur für menschliche Überreste gibt es keine Wannen, denn die sind kein Müll. Wenn trotzdem welche auf dem Müllplatz auftauchen, also Knie und Hände und ein Kopf, dann ist ein Fehler im System und irgendwas schiefgelaufen. Simon Brenner, Haas' vom Leben gebeutelter Ermittler, der seit einiger Zeit auf dem Müllplatz arbeitet, beginnt also der Genrekonvention entsprechend zu ermitteln. Auch wenn sonst wenig nach Konvention läuft, denn es gibt erst einmal Wichtigeres als Fall und Ermittler, nämlich den Müll und seine Philosophie, und da müssen wir jetzt durch. "Kriminalroman Hilfsausdruck", würde der Brenner-Erzähler sagen. Womöglich sogar bloß Hilfskonstrukt, muss man da ergänzen.
Bis der Brenner endlich auftaucht und in die Gänge kommt, dauert es. Zuerst einmal erscheint die reguläre Polizei in Gestalt der Kripobeamten Savic und Kopf, wobei Letzterer den Brenner noch als Ausbilder kennt. Also der Brenner war der Ausbilder, der Kopf ermittelt mehr so aus dem voluminösen Bauch heraus. Und natürlich ist er überrascht, seinen ehemaligen Vorgesetzten ausgerechnet auf dem Müllplatz anzutreffen, in Orange von Kopf bis Fuß und, auch das stellt sich heraus, ohne festen Wohnsitz. Dabei ist Brenner nicht komplett unzufrieden mit der Situation, aber viele Lebensträume sind ihm auch nicht gerade geblieben.
Die Sache mit den menschlichen Überresten in den Müllwannen ist nun nicht ganz unkompliziert. Der Tote, Franz Schall, ein furchtbarer Geizhals, hat eine Tochter, Iris. Außerdem hat er eine aktuell unauffindbare todkranke Ehefrau, von der er sich gerade getrennt hat, plus eine Zukünftige namens Roswitha, die nach dem Todesfall nur mehr eine ehemalige Zukünftige ist. Weil Vater Schall so ein Geizhals war, neigten Iris und ihre Mutter zu überbordenden Spontankaufaktionen, und nun fährt Iris regelmäßig mit dem Fahrer eines Transportunternehmens zum Mistplatz, um den ganzen teuren Schrott wieder loszuwerden, wobei sie sich dort in den jungen, etwas antriebslosen Praktikanten verguckt. Mit diesem Transportunternehmen und diesem Fahrer, so viel ist schnell klar, ist auch Franz Schall zum Mistplatz gekommen beziehungsweise seine Teile. Und sind in die ganzen falschen Wannen entsorgt worden.
Die vorläufige These lautet nun über viele Seiten hinweg "Entladung der langfristig aufgestauten Ehewut in einer Spontanhandlung", sprich, die Frau war's, Zorn, Messer, dann Beseitigung. Nach allem, was man über Franz Schall weiß, würde man es ihr auch nicht übel nehmen. Dafür spricht auch das fehlende Teil, in diesem Fall das Herz des Verstorbenen, denn aus dem am Müllplatz vorgefundenen Material lässt sich kein ganzer Mensch rekonstruieren. Das Herz taucht fein säuberlich verpackt und mit handgeschriebenem Begleitbrief - "Da hast du es. Sein Herz gehört dir" - in Roswithas Tiefkühltruhe auf. Das ist praktisch ein Geständnis, aber so einfach hat sich das mit der Ehewut dann wohl doch nicht abgespielt. Und Tochter Iris hat ohnehin ganz andere Ideen, weil ihr Vater besessen war von den Machenschaften einer kriminellen Organmafia, die Menschen ausweidet. Und für die Organe von so einem Menschen bekommt man einen Haufen Geld, das fängt bei achtzigtausend für eine Niere gerade erst an. In Österreich ist die Gesetzeslage außerdem anders als in Deutschland, dort nämlich muss man vor dem Ableben einer Organentnahme ausdrücklich widersprechen.
Jetzt braucht es etwas, bis Brenner und Roman in Bewegung kommen. Aber die Iris hat Überzeugungskraft für zwei, und der Brenner so eine gewisse Trägheitsenergie, die, je nach Masse und äußeren Dynamiken, eine enorme Kraft entfalten kann, so ist das auch in der Physik. Es dauert halt, so etwa hundertfünfzig Seiten, dann ist man durchs Gröbste durch, und die Dinge kommen endlich in Bewegung.
Der Brenner hat sein eigenes Tempo, auch der Erzähler hat seines, und man ist ihnen beiden auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, wenn man nun wissen will, was das für ein Mord oder doch nicht war. Aber wer den neunten Fall liest, der hat womöglich auch die acht vorherigen gelesen und weiß ohnehin, worauf er sich einlässt, setzt sich an die Bar, gibt dem angetrunkenen Typen noch einen aus und lässt ihn schwadronieren.
Wolf Haas:
"Müll". Roman.
Verlag Hoffmann &
Campe, Hamburg 2022.
288 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nach acht Jahren Pause erscheint der neunte Brenner-Roman von Wolf Haas, mit dem schon niemand mehr gerechnet hatte.
Von Andrea Diener
Im Prinzip könnte man das hier auch in vier Worten ohne Verb erledigen: Neuer Brenner, immer gut. Aber damit kein Raum für Notizen auf der Seite frei bleibt und weil wir ja auch eine Informationspflicht hinsichtlich literarischer und weniger literarischer Neuerscheinungen haben, wird das jetzt doch ein bisschen länger. Schließlich hat man nach dem letzten Band "Brennerova", der im Jahr 2014 erschienen ist, fast nicht mehr damit gerechnet, dass Wolf Haas noch einmal zu seinem Helden zurückkehrt, aber es ist ihm was eingefallen. Oder, wie es im Brenner-Erzählkosmos heißt, jetzt ist schon wieder was passiert, auch wenn es diesmal eigentlich schon verjährt ist, obwohl Mord nicht verjährt, aber Dings.
Die Brenner-Krimis erzählen ihre Fälle auf eine sehr eigene Weise beziehungsweise lassen sie erzählen von einem, von dem man nur seine Stimme kennt und sonst nichts über ihn weiß. Aber die Stimme ist dafür sehr präsent. So ungefähr wie diese schon ziemlich angetrunkenen Typen an der Bar so gegen Mitternacht, die man nur schwer loswird, aber dann kippt man doch in diese Geschichte rein, auch wenn der Erzähler sich mitunter vergebens um Stringenz bemüht, und hört sich das halt doch bis zum Ende an. Manchmal fließt der Erzählstrom nicht so richtig und schweift irgendwohin ab, wie wenn man einen Hund spazieren führt, und dann ist da ein Eichhörnchen, und es gibt für den Hund in diesem Moment nichts Wichtigeres als eben dieses Eichhörnchen. Genau so beginnt der neue Brenner mit Müll, erst einmal geht es um nichts anderes, da wird die ganze Welt vom Müllplatz aus erzählt oder, wie der Wiener sagt, vom Mistplatz aus. Und dieser Mistplatz und seine Belegschaft werden vor uns ausgebreitet wie ein großes Schlachtengemälde.
"Müll beste Schule für das Denken", heißt es da. Denn Stilmerkmal Satz ohne Verb. Und: "Vor dem Mist sind alle Menschen gleich." Denn natürlich ist die Erzählung nicht einfach nur so dahergeredet, sondern höchst artifiziell geformt und voller Hammersätze, so kennt man Wolf Haas und seine Prosa.
Für alles, was auf der Welt anfällt, gibt es Wannen. Für Folien, für Sperrmüll, für Textil. Nur für menschliche Überreste gibt es keine Wannen, denn die sind kein Müll. Wenn trotzdem welche auf dem Müllplatz auftauchen, also Knie und Hände und ein Kopf, dann ist ein Fehler im System und irgendwas schiefgelaufen. Simon Brenner, Haas' vom Leben gebeutelter Ermittler, der seit einiger Zeit auf dem Müllplatz arbeitet, beginnt also der Genrekonvention entsprechend zu ermitteln. Auch wenn sonst wenig nach Konvention läuft, denn es gibt erst einmal Wichtigeres als Fall und Ermittler, nämlich den Müll und seine Philosophie, und da müssen wir jetzt durch. "Kriminalroman Hilfsausdruck", würde der Brenner-Erzähler sagen. Womöglich sogar bloß Hilfskonstrukt, muss man da ergänzen.
Bis der Brenner endlich auftaucht und in die Gänge kommt, dauert es. Zuerst einmal erscheint die reguläre Polizei in Gestalt der Kripobeamten Savic und Kopf, wobei Letzterer den Brenner noch als Ausbilder kennt. Also der Brenner war der Ausbilder, der Kopf ermittelt mehr so aus dem voluminösen Bauch heraus. Und natürlich ist er überrascht, seinen ehemaligen Vorgesetzten ausgerechnet auf dem Müllplatz anzutreffen, in Orange von Kopf bis Fuß und, auch das stellt sich heraus, ohne festen Wohnsitz. Dabei ist Brenner nicht komplett unzufrieden mit der Situation, aber viele Lebensträume sind ihm auch nicht gerade geblieben.
Die Sache mit den menschlichen Überresten in den Müllwannen ist nun nicht ganz unkompliziert. Der Tote, Franz Schall, ein furchtbarer Geizhals, hat eine Tochter, Iris. Außerdem hat er eine aktuell unauffindbare todkranke Ehefrau, von der er sich gerade getrennt hat, plus eine Zukünftige namens Roswitha, die nach dem Todesfall nur mehr eine ehemalige Zukünftige ist. Weil Vater Schall so ein Geizhals war, neigten Iris und ihre Mutter zu überbordenden Spontankaufaktionen, und nun fährt Iris regelmäßig mit dem Fahrer eines Transportunternehmens zum Mistplatz, um den ganzen teuren Schrott wieder loszuwerden, wobei sie sich dort in den jungen, etwas antriebslosen Praktikanten verguckt. Mit diesem Transportunternehmen und diesem Fahrer, so viel ist schnell klar, ist auch Franz Schall zum Mistplatz gekommen beziehungsweise seine Teile. Und sind in die ganzen falschen Wannen entsorgt worden.
Die vorläufige These lautet nun über viele Seiten hinweg "Entladung der langfristig aufgestauten Ehewut in einer Spontanhandlung", sprich, die Frau war's, Zorn, Messer, dann Beseitigung. Nach allem, was man über Franz Schall weiß, würde man es ihr auch nicht übel nehmen. Dafür spricht auch das fehlende Teil, in diesem Fall das Herz des Verstorbenen, denn aus dem am Müllplatz vorgefundenen Material lässt sich kein ganzer Mensch rekonstruieren. Das Herz taucht fein säuberlich verpackt und mit handgeschriebenem Begleitbrief - "Da hast du es. Sein Herz gehört dir" - in Roswithas Tiefkühltruhe auf. Das ist praktisch ein Geständnis, aber so einfach hat sich das mit der Ehewut dann wohl doch nicht abgespielt. Und Tochter Iris hat ohnehin ganz andere Ideen, weil ihr Vater besessen war von den Machenschaften einer kriminellen Organmafia, die Menschen ausweidet. Und für die Organe von so einem Menschen bekommt man einen Haufen Geld, das fängt bei achtzigtausend für eine Niere gerade erst an. In Österreich ist die Gesetzeslage außerdem anders als in Deutschland, dort nämlich muss man vor dem Ableben einer Organentnahme ausdrücklich widersprechen.
Jetzt braucht es etwas, bis Brenner und Roman in Bewegung kommen. Aber die Iris hat Überzeugungskraft für zwei, und der Brenner so eine gewisse Trägheitsenergie, die, je nach Masse und äußeren Dynamiken, eine enorme Kraft entfalten kann, so ist das auch in der Physik. Es dauert halt, so etwa hundertfünfzig Seiten, dann ist man durchs Gröbste durch, und die Dinge kommen endlich in Bewegung.
Der Brenner hat sein eigenes Tempo, auch der Erzähler hat seines, und man ist ihnen beiden auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, wenn man nun wissen will, was das für ein Mord oder doch nicht war. Aber wer den neunten Fall liest, der hat womöglich auch die acht vorherigen gelesen und weiß ohnehin, worauf er sich einlässt, setzt sich an die Bar, gibt dem angetrunkenen Typen noch einen aus und lässt ihn schwadronieren.
Wolf Haas:
"Müll". Roman.
Verlag Hoffmann &
Campe, Hamburg 2022.
288 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.03.2022„Ich möchte mir den Brenner
nicht als Impfgegner vorstellen“
Ausflug mit dem Schriftsteller Wolf Haas zum Wertstoffhof:
Dort spielt sein neunter Brenner-Krimi.
Wie lange kann es seinen widerborstigen Ermittler noch geben?
VON MORITZ BAUMSTIEGER
Es sei gut, sagt Wolf Haas, dass er den Satz entsorgt hat. Den Satz, mit dem die ersten sechs seiner Simon-Brenner-Krimis verlässlich angefangen haben. Den Satz, mit dem Lokalreporter bald ebenso verlässlich Stücke begannen, in denen es um Graffiti-Attacken auf Stromkästen ging oder um unheimliche Aufbruchsserien von Opferstöcken. Mit dem in den vergangenen Monaten dann gerne die österreichische Innenpolitik kommentiert wurde, wenn schon wieder was passiert war, was ja durchaus häufiger der Fall war. Der Satz, mit dem ohnehin verlässlich jeder zweite Text anfängt, wenn Wolf Haas wieder etwas geschrieben hat. Und das hat er. „Ich habe zwei Covid-Symptome“, sagt er bei einem Treffen Ende Februar in Wien: „Lange Haare und einen Roman.“
Wolf Haas ist eben über den Mistplatz in Wien-Heiligenstadt spaziert, Schiebermütze, Wollmantel, den Rucksack nur mit einem Träger über der rechten Schulter. Ein bisschen sieht er in diesem Look so aus wie Julian Assange auf den zuletzt öffentlich gewordenen Fotos, aber nur ein bisschen – der Lockdown für den Wikileaks-Chef ist deutlich härter und länger. Mistplatz, das ist österreichisch für den Begriff „Wertstoffhof“ und ist natürlich schon voll von jener Mischung aus Putzigkeit, Skurrilität und Direktheit, die Besucher aus Deutschland so gerne finden, wenn sie sich im Nachbarland umtun. Auf den Mistplatz ist Haas nicht etwa gekommen, um seinen Satz zu entsorgen: „Jetzt ist schon wieder was passiert“, um es nun endlich doch einmal hinzuschreiben. Den Satz verwendet er schon seit dem siebten Brenner-Roman nicht mehr, in diesen Tagen kommt der neunte. Er startet mit den Worten: „Vorigen Sommer bin ich einmal am See unten gesessen“ und heißt: „Müll“.
Auf dem Mistplatz, auf dem gute Teile des neuen Brenner-Romans spielen, will Wolf Haas lieber kein Method-Acting-Interview geben. Nicht erläuternd von Wanne zu Wanne spazieren, wie man in Wien die Container nennt, in denen die Wohlstandsgesellschaft entsorgt, was ihr zu viel wird. Es bleibt bei ein paar Bildern hier, Fotos machen ist „offiziell nicht“ gestattet, wie ein Angestellter im orangen Overall auf Nachfrage sagt, was Haas sehr gefällt. Den Mistplatz mag er grundsätzlich auch, aber reden lässt es sich dann auf einer Café-Terrasse doch angenehmer.
In der jetzigen Zeit, in der die meisten vor dem Rechner sitzen und auch ein Krimi-Ermittler realistischerweise in 90 Prozent der Zeit auf einen Bildschirm starren müsste, sei „es schwer, eine Welt zu beschreiben, die noch irgendwie interessant ist“, sagt Haas dann vor einem Café im Einkaufszentrum gegenüber. Spannung erzeugen ließe sich ja fast nur noch, wenn jemandem der Akku ausginge. Der Mistplatz sei da fast das letzte Reale, ein Ort, wo Dinge noch scheppern und stinken. Und trotzdem so etwas wie eine heile Welt, findet Haas. „Alles hat seinen Platz, alles ist überschaubar. Jeder Stoff hat seine Nummer. Und am Ende bleibt kein Rest.“
Bei Krimis aber bleibt hingegen schon meist ein Rest, und zwar meistens von einem Menschen, der nicht mehr lebt. In „Müll“ taucht erst ein menschliches Knie auf, in Wanne 4, Sperrmüll, obwohl doch eigentlich Wanne 19, Biomüll, korrekter gewesen wäre. Dann ein abgetrennter Kopf, später die Finger, Wanne 7, Folien. Und weil sich so ein Mistplatz nicht nur zum Entsorgen von überflüssig gewordenen Dingen und Leichenteilen eignet, sondern auch zum Recycling gebrauchter Biografien etwa beim Personal, ist natürlich auch Simon Brenner da. Ex-Polizist, Ex-Rettungsfahrer, Ex-Detektiv.
„Weil du darfst eines nicht vergessen. Ohne die Wiederverwertung wäre die Welt schon längst untergegangen“, weiß der Erzähler in „Müll“. Und der Begriff „Wiederverwertung“ ist natürlich ein Stichwort bei einem Autor, der diesen Erzähler eigentlich schon drei Bände zuvor erschießen ließ, weil er die Brenner-Serie überhatte. Den Untergang der Brenner-Welt machte Haas dann aber doch wieder rückgängig. „Die Wiederholung wird beargwöhnt“, sagt Haas, „in der Literatur besteht der Anspruch, sich von Buch zu Buch neu zu erfinden.“ Gleichzeitig schauten alle aber Netflix, weil das Gesetz der Serie eben einen großen Reiz habe. „Man muss es für sich interessant machen“, meint Haas. „Für mich heißt das: einigermaßen lang warten“ – der bisher letzte Brenner erschien vor acht Jahren –, „und dann muss ich irgendein Fenster finden, aus dem ich mich herauslehnen kann.“
Das Fenster, aus dem sich Haas nun im neunten Brenner-Aufguss hinauslehnt, sei etwa „eine 40-seitige Passage, in der der Ermittler außer Gefecht ist, nicht mehr mitspielen darf“. Nicht genau das, wozu Dramaturgie-Doktoren in Verlagen raten würden, aber es funktioniert: Die Spannung steigt parallel zur Spannung in der Blase des gefesselten Ermittlers. Und interessant gemacht ist „Müll“ auch über solche Spielereien hinaus. Die Kombination aus Recycling und Körperteilen ist natürlich kein Zufall, bald variiert die Thematik und dreht sich um Organe, die manchmal gespendet werden und manchmal auch gehandelt werden. Wie groß der Schwarzmarkt ist, hängt etwa davon ab, ob in einem Land die Zustimmungslösung gilt (Mensch braucht Organspendeausweis, damit entnommen werden darf) oder die Widerspruchslösung (entnommen werden darf immer, es sei denn, es steht das Gegenteilige auf einem Zettel in der Geldbörse). Und da unterscheiden sich etwa Österreich, wo die Handlung beginnt, und Deutschland, wo sie endet, deutlich. Doch ganz egal, wie nun der rechtliche Rahmen ist: Eine Entnahme von Organen ist nur möglich, wenn sie der bisherige Eigentümer nicht weiter selbst benötigt. Willkommen im Genre Krimi.
Das alles klingt nach verlässlicher Haas-Suspense und ist es auch. Und weil der Autor, der Sprache gerne mit Musik vergleicht, zudem verlässlich seine Best-of-Akkorde anschlägt – „und du darfst eines nicht vergessen“, „sicher ist es ein bisschen Ding“, „frage nicht“ –, brandet in der Fankurve bestimmt der Jubel auf, so wie er bei Stadionkonzerten zu hören ist, wenn die ersten Töne eines alten Hits erklingen. Ein Neuerfindungsalbum, wie es Produzenten manchmal Bands einreden, das Fans dann aber meist schnell vergessen wollen, ist „Müll“ sicher nicht.
Trotzdem stellt sich die Frage, wie lang der Autor und sein Ermittler noch auf Revival-Tour gehen können. Als Wolf Haas 1996 zum ersten Mal behauptete, dass wieder etwas passiert sei, stellte er sich Brenner als „älteren Typen“ vor, 44 Jahre alt und somit zehn Jahre älter als er selbst. „Ein typischer Mann sollte das sein, aber trotzdem nicht unsympathisch“, sagt Haas.
Heute ist der Autor selbst 60 Jahre alt. Und wenn es einen typischen Vertreter der Kategorie „alter weißer Mann“ gibt, dann ist es sicher sein Ermittler aus Graz-Puntigam, der durch die Welt stolpert, ohne seine eigenen Gedanken und Gefühle je wirklich wahrzunehmen. „Manchmal ist es verhext, je richtiger man es ausdrücken will, desto komplizierter wird es“, ahnt etwa der Erzähler in „Müll“, das ein paar Jahre vor unserer Zeit spielt, die kommenden Gender- und Wokeness-Debatten voraus. Und wie Brenner in der moralisch noch deutlich entschiedeneren Gegenwart aussehen würde? „Ich möchte mir den Brenner zum Beispiel nicht als Impfgegner vorstellen“, sagt Haas. „Aber ich kann mir durchaus vorstellen, dass er nicht unter den Ersten gewesen wäre.“
Als alter weißer Mann, sagt Haas, der in seiner Jugend durchaus unter weißen alten Männern gelitten hat, könne man heute nur zwischen zwei unattraktiven Positionen wählen. „Stellt man sich komplett gegen die Veränderung, ist es lächerlich. Hüpft man brav dem Trend hinterher, ist es auch lächerlich.“ Dass Brenner dem Trend hinterherhüpft, ist eher unwahrscheinlich. Dass Haas ihn deshalb entsorgt, ebenfalls. Er wird wohl wieder ein bisschen warten, bis er selbst ein anderer ist und die Welt eine andere. Und dann recyceln. So geht das Gesetz der Serie. Und das des Mistplatzes.
„Dann muss ich irgendein
Fenster finden, aus dem ich
mich herauslehnen kann.“
Wenn es einen typischen „alten
weißen Mann“ gibt, dann sicher
den Ermittler aus Graz-Puntigam
Der Mistplatz sei fast das letzte Reale, ein Ort, wo Dinge noch scheppern und stinken, sagt Wolf Haas.
Foto: M. Baumstieger
Wolf Haas: Müll.
Hoffmann & Campe,
Hamburg 2022.
288 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
nicht als Impfgegner vorstellen“
Ausflug mit dem Schriftsteller Wolf Haas zum Wertstoffhof:
Dort spielt sein neunter Brenner-Krimi.
Wie lange kann es seinen widerborstigen Ermittler noch geben?
VON MORITZ BAUMSTIEGER
Es sei gut, sagt Wolf Haas, dass er den Satz entsorgt hat. Den Satz, mit dem die ersten sechs seiner Simon-Brenner-Krimis verlässlich angefangen haben. Den Satz, mit dem Lokalreporter bald ebenso verlässlich Stücke begannen, in denen es um Graffiti-Attacken auf Stromkästen ging oder um unheimliche Aufbruchsserien von Opferstöcken. Mit dem in den vergangenen Monaten dann gerne die österreichische Innenpolitik kommentiert wurde, wenn schon wieder was passiert war, was ja durchaus häufiger der Fall war. Der Satz, mit dem ohnehin verlässlich jeder zweite Text anfängt, wenn Wolf Haas wieder etwas geschrieben hat. Und das hat er. „Ich habe zwei Covid-Symptome“, sagt er bei einem Treffen Ende Februar in Wien: „Lange Haare und einen Roman.“
Wolf Haas ist eben über den Mistplatz in Wien-Heiligenstadt spaziert, Schiebermütze, Wollmantel, den Rucksack nur mit einem Träger über der rechten Schulter. Ein bisschen sieht er in diesem Look so aus wie Julian Assange auf den zuletzt öffentlich gewordenen Fotos, aber nur ein bisschen – der Lockdown für den Wikileaks-Chef ist deutlich härter und länger. Mistplatz, das ist österreichisch für den Begriff „Wertstoffhof“ und ist natürlich schon voll von jener Mischung aus Putzigkeit, Skurrilität und Direktheit, die Besucher aus Deutschland so gerne finden, wenn sie sich im Nachbarland umtun. Auf den Mistplatz ist Haas nicht etwa gekommen, um seinen Satz zu entsorgen: „Jetzt ist schon wieder was passiert“, um es nun endlich doch einmal hinzuschreiben. Den Satz verwendet er schon seit dem siebten Brenner-Roman nicht mehr, in diesen Tagen kommt der neunte. Er startet mit den Worten: „Vorigen Sommer bin ich einmal am See unten gesessen“ und heißt: „Müll“.
Auf dem Mistplatz, auf dem gute Teile des neuen Brenner-Romans spielen, will Wolf Haas lieber kein Method-Acting-Interview geben. Nicht erläuternd von Wanne zu Wanne spazieren, wie man in Wien die Container nennt, in denen die Wohlstandsgesellschaft entsorgt, was ihr zu viel wird. Es bleibt bei ein paar Bildern hier, Fotos machen ist „offiziell nicht“ gestattet, wie ein Angestellter im orangen Overall auf Nachfrage sagt, was Haas sehr gefällt. Den Mistplatz mag er grundsätzlich auch, aber reden lässt es sich dann auf einer Café-Terrasse doch angenehmer.
In der jetzigen Zeit, in der die meisten vor dem Rechner sitzen und auch ein Krimi-Ermittler realistischerweise in 90 Prozent der Zeit auf einen Bildschirm starren müsste, sei „es schwer, eine Welt zu beschreiben, die noch irgendwie interessant ist“, sagt Haas dann vor einem Café im Einkaufszentrum gegenüber. Spannung erzeugen ließe sich ja fast nur noch, wenn jemandem der Akku ausginge. Der Mistplatz sei da fast das letzte Reale, ein Ort, wo Dinge noch scheppern und stinken. Und trotzdem so etwas wie eine heile Welt, findet Haas. „Alles hat seinen Platz, alles ist überschaubar. Jeder Stoff hat seine Nummer. Und am Ende bleibt kein Rest.“
Bei Krimis aber bleibt hingegen schon meist ein Rest, und zwar meistens von einem Menschen, der nicht mehr lebt. In „Müll“ taucht erst ein menschliches Knie auf, in Wanne 4, Sperrmüll, obwohl doch eigentlich Wanne 19, Biomüll, korrekter gewesen wäre. Dann ein abgetrennter Kopf, später die Finger, Wanne 7, Folien. Und weil sich so ein Mistplatz nicht nur zum Entsorgen von überflüssig gewordenen Dingen und Leichenteilen eignet, sondern auch zum Recycling gebrauchter Biografien etwa beim Personal, ist natürlich auch Simon Brenner da. Ex-Polizist, Ex-Rettungsfahrer, Ex-Detektiv.
„Weil du darfst eines nicht vergessen. Ohne die Wiederverwertung wäre die Welt schon längst untergegangen“, weiß der Erzähler in „Müll“. Und der Begriff „Wiederverwertung“ ist natürlich ein Stichwort bei einem Autor, der diesen Erzähler eigentlich schon drei Bände zuvor erschießen ließ, weil er die Brenner-Serie überhatte. Den Untergang der Brenner-Welt machte Haas dann aber doch wieder rückgängig. „Die Wiederholung wird beargwöhnt“, sagt Haas, „in der Literatur besteht der Anspruch, sich von Buch zu Buch neu zu erfinden.“ Gleichzeitig schauten alle aber Netflix, weil das Gesetz der Serie eben einen großen Reiz habe. „Man muss es für sich interessant machen“, meint Haas. „Für mich heißt das: einigermaßen lang warten“ – der bisher letzte Brenner erschien vor acht Jahren –, „und dann muss ich irgendein Fenster finden, aus dem ich mich herauslehnen kann.“
Das Fenster, aus dem sich Haas nun im neunten Brenner-Aufguss hinauslehnt, sei etwa „eine 40-seitige Passage, in der der Ermittler außer Gefecht ist, nicht mehr mitspielen darf“. Nicht genau das, wozu Dramaturgie-Doktoren in Verlagen raten würden, aber es funktioniert: Die Spannung steigt parallel zur Spannung in der Blase des gefesselten Ermittlers. Und interessant gemacht ist „Müll“ auch über solche Spielereien hinaus. Die Kombination aus Recycling und Körperteilen ist natürlich kein Zufall, bald variiert die Thematik und dreht sich um Organe, die manchmal gespendet werden und manchmal auch gehandelt werden. Wie groß der Schwarzmarkt ist, hängt etwa davon ab, ob in einem Land die Zustimmungslösung gilt (Mensch braucht Organspendeausweis, damit entnommen werden darf) oder die Widerspruchslösung (entnommen werden darf immer, es sei denn, es steht das Gegenteilige auf einem Zettel in der Geldbörse). Und da unterscheiden sich etwa Österreich, wo die Handlung beginnt, und Deutschland, wo sie endet, deutlich. Doch ganz egal, wie nun der rechtliche Rahmen ist: Eine Entnahme von Organen ist nur möglich, wenn sie der bisherige Eigentümer nicht weiter selbst benötigt. Willkommen im Genre Krimi.
Das alles klingt nach verlässlicher Haas-Suspense und ist es auch. Und weil der Autor, der Sprache gerne mit Musik vergleicht, zudem verlässlich seine Best-of-Akkorde anschlägt – „und du darfst eines nicht vergessen“, „sicher ist es ein bisschen Ding“, „frage nicht“ –, brandet in der Fankurve bestimmt der Jubel auf, so wie er bei Stadionkonzerten zu hören ist, wenn die ersten Töne eines alten Hits erklingen. Ein Neuerfindungsalbum, wie es Produzenten manchmal Bands einreden, das Fans dann aber meist schnell vergessen wollen, ist „Müll“ sicher nicht.
Trotzdem stellt sich die Frage, wie lang der Autor und sein Ermittler noch auf Revival-Tour gehen können. Als Wolf Haas 1996 zum ersten Mal behauptete, dass wieder etwas passiert sei, stellte er sich Brenner als „älteren Typen“ vor, 44 Jahre alt und somit zehn Jahre älter als er selbst. „Ein typischer Mann sollte das sein, aber trotzdem nicht unsympathisch“, sagt Haas.
Heute ist der Autor selbst 60 Jahre alt. Und wenn es einen typischen Vertreter der Kategorie „alter weißer Mann“ gibt, dann ist es sicher sein Ermittler aus Graz-Puntigam, der durch die Welt stolpert, ohne seine eigenen Gedanken und Gefühle je wirklich wahrzunehmen. „Manchmal ist es verhext, je richtiger man es ausdrücken will, desto komplizierter wird es“, ahnt etwa der Erzähler in „Müll“, das ein paar Jahre vor unserer Zeit spielt, die kommenden Gender- und Wokeness-Debatten voraus. Und wie Brenner in der moralisch noch deutlich entschiedeneren Gegenwart aussehen würde? „Ich möchte mir den Brenner zum Beispiel nicht als Impfgegner vorstellen“, sagt Haas. „Aber ich kann mir durchaus vorstellen, dass er nicht unter den Ersten gewesen wäre.“
Als alter weißer Mann, sagt Haas, der in seiner Jugend durchaus unter weißen alten Männern gelitten hat, könne man heute nur zwischen zwei unattraktiven Positionen wählen. „Stellt man sich komplett gegen die Veränderung, ist es lächerlich. Hüpft man brav dem Trend hinterher, ist es auch lächerlich.“ Dass Brenner dem Trend hinterherhüpft, ist eher unwahrscheinlich. Dass Haas ihn deshalb entsorgt, ebenfalls. Er wird wohl wieder ein bisschen warten, bis er selbst ein anderer ist und die Welt eine andere. Und dann recyceln. So geht das Gesetz der Serie. Und das des Mistplatzes.
„Dann muss ich irgendein
Fenster finden, aus dem ich
mich herauslehnen kann.“
Wenn es einen typischen „alten
weißen Mann“ gibt, dann sicher
den Ermittler aus Graz-Puntigam
Der Mistplatz sei fast das letzte Reale, ein Ort, wo Dinge noch scheppern und stinken, sagt Wolf Haas.
Foto: M. Baumstieger
Wolf Haas: Müll.
Hoffmann & Campe,
Hamburg 2022.
288 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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»I love Wolf Haas and whenever I feel homesick I read one of his books and this one is as amazing and so very typical Austrian as every other one of his. (4.5/5)« @thewaveshavecome Instagram 20220301