Thaddea, Anfang 30, sehr wohlhabend, hat ihr Leben unter Kontrolle. Sie besitzt zwei spektakuläre Häuser in Grünwald und Schwabing und setzt ihre ersten Schritte in ein Leben als freie Therapeutin. Doch als ihre beste Freundin Kata sie mit ihrem Freund Ben-Luca betrügt, stürzt sie in ein Gefühlschaos. Sie beschließt, sich von beiden zu trennen, und nähert sich stattdessen Pimpi an, Ben-Lucas bestem Freund. Sie besucht Empfänge und Events der Münchner Society: die Party eines Fernsehproduzenten, eine Ausstellungseröffnung auf Schloss Herrenchiemsee. Der Schmerz bleibt. Hochsensibel beginnt sie zu erkunden, wo das eigene Ich die Welt berührt.
»Meine Romane sind Experimente. Wenn ich schon vorher wüsste, wie sie ausgehen, würde ich sie nicht schreiben.«
Ernst-Wilhelm Händler
»Meine Romane sind Experimente. Wenn ich schon vorher wüsste, wie sie ausgehen, würde ich sie nicht schreiben.«
Ernst-Wilhelm Händler
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Friedmar Apel hat sich viel mehr versprochen von diesem Münchner Gesellschaftsroman von Ernst-Wilhelm Händler. Dass der Autor in seinem Buch Psychotherapie, Mode und Snobiety zusammenbringt, findet er erst mal gut, ist dann aber doch eher enttäuscht von der Ausführung. Das Beobachten der Schuhe und Accessoires, meint er, gerät dem Autor allzu gründlich bis ins Abstruse. Quälend die Beschreibungen der Schickeria, findet Apel. Denn am Ende bieten sie nur das Klischee des Altbekannten in einem viel zu weiten Mantel.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.09.2016Hinkender Spott
Auf der Longlist II: Ernst-Wilhelm Händler weckt in „München“ den Appetit auf einen Gesellschaftsroman. Und serviert Häppchen
Thaddea, Anfang 30, steht mit ihrer Privatpraxis für psychosomatische Medizin und Therapie ganz am Anfang. Kaum ein Patient wagt sich zu ihr, aber sie erkennt bald: Beruflicher Erfolg ist unwichtig. „Ein Kunde im Jahr. Warum nicht?“ Thaddeas Eltern sind bei einem Heliskiing-Unfall ums Leben gekommen, das hat ihre Existenz gesichert. Der Vater war ein erfolgreicher Münchner Steueranwalt. Sie könnte es sich auch leisten, gar nichts zu tun.
Aber jetzt hat sie nun mal diese Praxis, die von ihrer besten und einzigen Freundin Kata, einer international tätigen Architektin, eigens für sie konzipierte „Struktur“, zu der Thaddea mit ihrem alten Q 3 ab und zu von ihrer, ebenfalls von Kata entworfenen, Villa in Grünwald aus aufbricht. Ein bisschen einsam ist sie, aber ja, es geht gut. Bis herauskommt, dass Kata und Ben-Luca, Thaddeas langjährig-distanzierter Gefährte, nach dem Ball der Pinakothek der Moderne (PIN) in der Rotunde kurz zusammengefunden haben. Thaddeas Welt, die winzig ist, schwankt. Der einzige nahe Bekannte, der ihr bleibt, ist Pimpi, den sie aber nicht leiden kann, der Sohn eines großen Immobilienplayers.
Seit seinem Erstling „Stadt mit Häusern“ ist Ernst-Wilhelm Händler im deutschen Literaturbetrieb eine so exzentrische wie gern gesehene Erscheinung. Sein Erbe, einen mittelständischen Regensburger Betrieb mit zweihundert Angestellten, hat Händler bis 2002 geleitet und dann verkauft. So hat er, der studierte Philosoph,mitten in einer Wirklichkeit gestanden, vor der manchen Literaturkritikern bis zur Bewunderung graust. Mit vielschichtigen Wirtschafts-, Künstler- und Bildungsromanen wie „Sturm“, „Fall“ oder „Wenn wir sterben“ hat Händler dazu beigetragen, dass der ökonomische Teil der Wirklichkeit auch literarisch immer aufmerksamer durchleuchtet wird.
Warum aber will dies bei „München. Gesellschaftsroman“ nicht recht gelingen? Warum bleiben alle Hauptfiguren von Anfang an so seltsam steril? Es hat nicht zuletzt damit zu tun, dass „München“ kein Wirtschaftsroman ist. Die ökonomische Irrelevanz von Thaddeas Existenz hält sie von interessanten Wirklichkeiten Münchens fern, was umso schwerer wiegt, als die Figur zudem sehr eindimensional angelegt ist. Sie darf Schriftstellerin werden wollen, aber das trägt ihr ähnlich spöttische Blicke des Autors ein, wie sie auch den larmoyanten österreichischen Schriftsteller treffen, der für Thaddea ein abschreckendes Beispiel ist.
Händler bringt für seine zickig-durchschnittliche Hauptfigur allenfalls das mokant-apathische Interesse auf, das sie selber der Welt gegenüber verspürt, und verpasst damit eine große Chance. Denn Thaddea hat eine Besonderheit, die als irritierendes Charakteristikum taugen würde: weil sie sich schon als Kindergarten-Mädchen leblos vorkam, wollte sie ausprobieren, wie es ist, wenn das hintere Rad eines Lieferwagens über einen ihrer Füße fährt. Seitdem ist dieser Fuß nicht mehr im besten Zustand. Thaddea muss ein kleines Hinken verstecken, denn in ihrer Welt gibt es keine Fehler. Eine junge, schicke Psychosomatikerin, die hinkt? Als sie kurz nachlässig ist, dreht ihr erster Kunde ab.
Statt Thaddea über ihr Defizit zu einer abgründigen Figur zu machen, vermittelt Händler, vielleicht aus Angst vor dem Klischee des armen reichen Mädchens, kaum mehr als die etwas billige Schadenfreude, dass Thaddea eben nicht so perfekt ist, wie sie sein möchte, und unterläuft damit den eigenen Ansatz zu einer mehrdimensionalen Figur. Thaddea sinniert über ihr kleines Elend, vor allem aber äußert sie sich wenig überraschend und meist abfällig über andere Figuren. Natürlich ist es Figurenrede, wenn Thaddea beim Empfang zum achtzigsten Geburtstag von Prinz Franz von Bayern auf Herrenchiemsee „beeindruckt“ denkt: „Arroganz lag ihm nicht nur völlig fern, er brachte es auf geheimnisvolle Weise fertig, alle Arroganz um sich herum zu bannen. Natürlich konnte niemand in seiner Gegenwart auch nur daran denken, ihm gegenüber arrogant zu sein.“
Aber die Suggestion, dass Thaddea, die blasierte Spötterin, gegenüber Autoritäten plötzlich von schlichter Naivität ist, macht die Passage nicht tiefenschärfer. Und dass Ben-Luca, der Repräsentant des Kunstbetriebs, wegen einer Fehlexpertise seinen Job bei einem Auktionshaus verliert, wird durch seine geschwätzige Reaktion nicht interessanter. Er bleibt eine schlichte Karikatur.
Leider ist dieser Gesellschaftsroman auch kein aufregender Stadtroman geworden. Das hat mit Händlers Verständnis von „Gesellschaft“ in diesem Buch zu tun. Er hat sich, getreu der vielerorts herrschenden Vorstellung, München sei eine Schicki-micki-Stadt, nur mit dem Milieu beschäftigt, das sich gern für die bessere Gesellschaft hält. Das ist legitim, aber, wie sich zeigt, hier nicht abendfüllend. Helmut Dietl und Patrick Süskind haben, unter dem bescheideneren Titel „Rossini“, einen Ausschnitt Münchens ironisch-spöttisch wie unter dem Brennglas gezeigt. Händler hebt „München“ mit großer Geste in den Titel, weckt damit Erwartungen auf ein breiter angelegtes Panorama oder zumindest die exemplarische Analyse eines Ausschnitts, bleibt jedoch in seiner Fallstudie „Thaddea“ stecken, die den Roman nicht über dreihundertfünfzig Seiten trägt.
Wer einen „Gesellschaftsroman“ ankündigt, ruft historische und aktuelle Modelle auf wie Lion Feuchtwangers Roman „Erfolg“ (1930) oder „Unterleuten“ von Juli Zeh, die den Gesellschaftsroman in einem brandenburgischen Dorf angesiedelt hat. Ein Roman kann zeigen, wie die Atmosphäre eines Orts jeden langjährigen Bewohner affiziert. Er kann sich fragen, ob, und wenn ja, wie sich der Lebensstil der Türken in München von dem der Berliner oder Kölner Türken unterscheidet. Ähnlich reizvolle Fragen könnten sich aber auch bei der Beschränkung auf die Darstellung der „besseren“ Gesellschaft ergeben. Händler bleibt stattdessen bei nicht mehr neuen Stilmitteln wie der exzessiven Nennung von Markennamen, und auch das Namedropping zur Freude der feinen Leute, denen man bei Kunst-Events kurz begegnet, fällt eher vorhersehbar aus. Mit dem doppeldeutigen Untertitel „Gesellschaftsroman“, der ja sowohl ein bestimmtes Milieu, die „bessere“ Gesellschaft, meinen kann wie die Gesellschaft als ganze, lässt man sich auf ein Genre ein, das von diesem Changieren lebt.
Hier bleibt es bei einzelnen Bonmots („sie wäre lieber Nutte im Bahnhofsviertel als Beamtin geworden“) und Figuren aus früheren Händler-Romanen, die als Thaddeas Kunden wiederkehren. Am besten gelingt das bei Hahl, dem Buchhalter des Architekten aus Händlers Roman „Sturm“, der hier als Chef eine Privatsenders auftritt, mit neo-paternalistischer Attitüde, und bei Mitarbeitern für alles außer Selbstmord Verständnis hat. Diese Figur hat die Schärfe und Irritationsqualität der neuen Wirtschaftswelt, die der braven Thaddea fehlen. Gut, dass sie am Ende doch mit Pimpi schläft.
HANS-PETER KUNISCH
Ernst-Wilhelm Händler: München. Gesellschaftsroman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016. 350 Seiten, 23 Euro. E-Book 19,99 Euro.
Wegen einer Fehlexpertise
verliert der Repräsentant des
Kunstbetriebs seinen Job
Wer hat hier was mit wem? Der Blick in die Rotunde der Pinakothek der Moderne ist für die Heldin in „München“ eher unerfreulich.
Foto: picture alliance / dpa
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Auf der Longlist II: Ernst-Wilhelm Händler weckt in „München“ den Appetit auf einen Gesellschaftsroman. Und serviert Häppchen
Thaddea, Anfang 30, steht mit ihrer Privatpraxis für psychosomatische Medizin und Therapie ganz am Anfang. Kaum ein Patient wagt sich zu ihr, aber sie erkennt bald: Beruflicher Erfolg ist unwichtig. „Ein Kunde im Jahr. Warum nicht?“ Thaddeas Eltern sind bei einem Heliskiing-Unfall ums Leben gekommen, das hat ihre Existenz gesichert. Der Vater war ein erfolgreicher Münchner Steueranwalt. Sie könnte es sich auch leisten, gar nichts zu tun.
Aber jetzt hat sie nun mal diese Praxis, die von ihrer besten und einzigen Freundin Kata, einer international tätigen Architektin, eigens für sie konzipierte „Struktur“, zu der Thaddea mit ihrem alten Q 3 ab und zu von ihrer, ebenfalls von Kata entworfenen, Villa in Grünwald aus aufbricht. Ein bisschen einsam ist sie, aber ja, es geht gut. Bis herauskommt, dass Kata und Ben-Luca, Thaddeas langjährig-distanzierter Gefährte, nach dem Ball der Pinakothek der Moderne (PIN) in der Rotunde kurz zusammengefunden haben. Thaddeas Welt, die winzig ist, schwankt. Der einzige nahe Bekannte, der ihr bleibt, ist Pimpi, den sie aber nicht leiden kann, der Sohn eines großen Immobilienplayers.
Seit seinem Erstling „Stadt mit Häusern“ ist Ernst-Wilhelm Händler im deutschen Literaturbetrieb eine so exzentrische wie gern gesehene Erscheinung. Sein Erbe, einen mittelständischen Regensburger Betrieb mit zweihundert Angestellten, hat Händler bis 2002 geleitet und dann verkauft. So hat er, der studierte Philosoph,mitten in einer Wirklichkeit gestanden, vor der manchen Literaturkritikern bis zur Bewunderung graust. Mit vielschichtigen Wirtschafts-, Künstler- und Bildungsromanen wie „Sturm“, „Fall“ oder „Wenn wir sterben“ hat Händler dazu beigetragen, dass der ökonomische Teil der Wirklichkeit auch literarisch immer aufmerksamer durchleuchtet wird.
Warum aber will dies bei „München. Gesellschaftsroman“ nicht recht gelingen? Warum bleiben alle Hauptfiguren von Anfang an so seltsam steril? Es hat nicht zuletzt damit zu tun, dass „München“ kein Wirtschaftsroman ist. Die ökonomische Irrelevanz von Thaddeas Existenz hält sie von interessanten Wirklichkeiten Münchens fern, was umso schwerer wiegt, als die Figur zudem sehr eindimensional angelegt ist. Sie darf Schriftstellerin werden wollen, aber das trägt ihr ähnlich spöttische Blicke des Autors ein, wie sie auch den larmoyanten österreichischen Schriftsteller treffen, der für Thaddea ein abschreckendes Beispiel ist.
Händler bringt für seine zickig-durchschnittliche Hauptfigur allenfalls das mokant-apathische Interesse auf, das sie selber der Welt gegenüber verspürt, und verpasst damit eine große Chance. Denn Thaddea hat eine Besonderheit, die als irritierendes Charakteristikum taugen würde: weil sie sich schon als Kindergarten-Mädchen leblos vorkam, wollte sie ausprobieren, wie es ist, wenn das hintere Rad eines Lieferwagens über einen ihrer Füße fährt. Seitdem ist dieser Fuß nicht mehr im besten Zustand. Thaddea muss ein kleines Hinken verstecken, denn in ihrer Welt gibt es keine Fehler. Eine junge, schicke Psychosomatikerin, die hinkt? Als sie kurz nachlässig ist, dreht ihr erster Kunde ab.
Statt Thaddea über ihr Defizit zu einer abgründigen Figur zu machen, vermittelt Händler, vielleicht aus Angst vor dem Klischee des armen reichen Mädchens, kaum mehr als die etwas billige Schadenfreude, dass Thaddea eben nicht so perfekt ist, wie sie sein möchte, und unterläuft damit den eigenen Ansatz zu einer mehrdimensionalen Figur. Thaddea sinniert über ihr kleines Elend, vor allem aber äußert sie sich wenig überraschend und meist abfällig über andere Figuren. Natürlich ist es Figurenrede, wenn Thaddea beim Empfang zum achtzigsten Geburtstag von Prinz Franz von Bayern auf Herrenchiemsee „beeindruckt“ denkt: „Arroganz lag ihm nicht nur völlig fern, er brachte es auf geheimnisvolle Weise fertig, alle Arroganz um sich herum zu bannen. Natürlich konnte niemand in seiner Gegenwart auch nur daran denken, ihm gegenüber arrogant zu sein.“
Aber die Suggestion, dass Thaddea, die blasierte Spötterin, gegenüber Autoritäten plötzlich von schlichter Naivität ist, macht die Passage nicht tiefenschärfer. Und dass Ben-Luca, der Repräsentant des Kunstbetriebs, wegen einer Fehlexpertise seinen Job bei einem Auktionshaus verliert, wird durch seine geschwätzige Reaktion nicht interessanter. Er bleibt eine schlichte Karikatur.
Leider ist dieser Gesellschaftsroman auch kein aufregender Stadtroman geworden. Das hat mit Händlers Verständnis von „Gesellschaft“ in diesem Buch zu tun. Er hat sich, getreu der vielerorts herrschenden Vorstellung, München sei eine Schicki-micki-Stadt, nur mit dem Milieu beschäftigt, das sich gern für die bessere Gesellschaft hält. Das ist legitim, aber, wie sich zeigt, hier nicht abendfüllend. Helmut Dietl und Patrick Süskind haben, unter dem bescheideneren Titel „Rossini“, einen Ausschnitt Münchens ironisch-spöttisch wie unter dem Brennglas gezeigt. Händler hebt „München“ mit großer Geste in den Titel, weckt damit Erwartungen auf ein breiter angelegtes Panorama oder zumindest die exemplarische Analyse eines Ausschnitts, bleibt jedoch in seiner Fallstudie „Thaddea“ stecken, die den Roman nicht über dreihundertfünfzig Seiten trägt.
Wer einen „Gesellschaftsroman“ ankündigt, ruft historische und aktuelle Modelle auf wie Lion Feuchtwangers Roman „Erfolg“ (1930) oder „Unterleuten“ von Juli Zeh, die den Gesellschaftsroman in einem brandenburgischen Dorf angesiedelt hat. Ein Roman kann zeigen, wie die Atmosphäre eines Orts jeden langjährigen Bewohner affiziert. Er kann sich fragen, ob, und wenn ja, wie sich der Lebensstil der Türken in München von dem der Berliner oder Kölner Türken unterscheidet. Ähnlich reizvolle Fragen könnten sich aber auch bei der Beschränkung auf die Darstellung der „besseren“ Gesellschaft ergeben. Händler bleibt stattdessen bei nicht mehr neuen Stilmitteln wie der exzessiven Nennung von Markennamen, und auch das Namedropping zur Freude der feinen Leute, denen man bei Kunst-Events kurz begegnet, fällt eher vorhersehbar aus. Mit dem doppeldeutigen Untertitel „Gesellschaftsroman“, der ja sowohl ein bestimmtes Milieu, die „bessere“ Gesellschaft, meinen kann wie die Gesellschaft als ganze, lässt man sich auf ein Genre ein, das von diesem Changieren lebt.
Hier bleibt es bei einzelnen Bonmots („sie wäre lieber Nutte im Bahnhofsviertel als Beamtin geworden“) und Figuren aus früheren Händler-Romanen, die als Thaddeas Kunden wiederkehren. Am besten gelingt das bei Hahl, dem Buchhalter des Architekten aus Händlers Roman „Sturm“, der hier als Chef eine Privatsenders auftritt, mit neo-paternalistischer Attitüde, und bei Mitarbeitern für alles außer Selbstmord Verständnis hat. Diese Figur hat die Schärfe und Irritationsqualität der neuen Wirtschaftswelt, die der braven Thaddea fehlen. Gut, dass sie am Ende doch mit Pimpi schläft.
HANS-PETER KUNISCH
Ernst-Wilhelm Händler: München. Gesellschaftsroman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016. 350 Seiten, 23 Euro. E-Book 19,99 Euro.
Wegen einer Fehlexpertise
verliert der Repräsentant des
Kunstbetriebs seinen Job
Wer hat hier was mit wem? Der Blick in die Rotunde der Pinakothek der Moderne ist für die Heldin in „München“ eher unerfreulich.
Foto: picture alliance / dpa
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2016Die Sandale ist eine alte Verräterin
Party und Struktur: Ernst-Wilhelm Händler beobachtet die Münchner Gesellschaft
Seit Charles Baudelaire ist die Literatur mit der Mode verschwistert, weil an ihr das Transitorische der Moderne, der sich stetig beschleunigende Übergang vom Alten ins Neue sichtbar wird. In der Mode zeigt sich auch besonders intensiv, was für soziale Systeme überhaupt gilt: dass jeder zugleich Beobachter und Beobachteter ist. Diese Dialektik des Beobachtens durchzieht Ernst-Wilhelm Händlers Gesellschaftsroman wie ein Leitmotiv, gleich am Anfang wird sie animistisch sogar in die umgebende Natur projiziert. "Der Wald dagegen ein Zauberwald, die Wünsche der Beobachterin erratend und schürend. Niemals würde sich der Wald damit zufrieden geben, betrachtet zu werden. Er wollte aufstacheln, doppelt auf Gedanken bringen. Wer beobachtete wen?"
Die Beobachterin ist Thaddea, eine reiche Erbin und Psychotherapeutin. Von ihrer einzigen Freundin Kata, einer international tätigen Architektin, hat sie sich eine Villa in Grünwald und ein Stadthaus in Schwabing bauen lassen, das sie als Praxis nutzen will, auch "die Struktur" genannt. Beide Bauten sind mit viel Glas auf die Spannung zwischen Einblick und Ausblick hin komponiert. Derart stehen sie für den ganzen Roman, Händler setzt seine Figuren gleichsam in eine gläserne Struktur, in der sie studiert werden.
Ins Geschehen eingeführt werden sie über die Beschreibung ihres Outfits und des Aussehens bis hinein in die Wahl des Lippenstifts. Dabei zeigt Händler gründliche Kenntnisse der Mode. Auch den Jargon der Branche scheut er nicht.
Gegenseitiges Beachten der Garderobe als eines Kommunikationsmediums erscheint als Hauptmerkmal der beschriebenen Gesellschaftsschicht. Gelegentlich wird das ins Abstruse getrieben, so bei der Beschreibung einer Aktion des Hauses der Kunst, bei der die Flucht aus der DDR lebensecht mit Hundegebell und Selbstschussanlage simuliert wird. "Die anderen potentiellen Republikflüchtigen fixierten neidvoll ihre sich in so zielgerichteter Bewegung befindlichen weißen Sneakers mit den roten Kappen, den roten Schnürsenkeln und dem Schriftzug von Prada." Entsprechend sind in "München" Kunstausstellungen vor allem Bühne für exquisite Kreationen. Die Beschreibungen der Partys und Empfänge, sei es im P1, am Pool eines RTL-Produzenten oder auf Herrenchiemsee, sind einschließlich der wiedergegebenen Gespräche trotz erhöhten Champagnerkonsums allerdings nicht immer dazu angetan, den Leser besonders neidisch zu machen. Nur gelegentlich geht es lustig zu: "Wir haben gestern einen Ultraschall bei Lumpi machen lassen. Gott sei Dank hat er nur Gallensteine."
Mit Kata wie mit ihrem Freund Ben-Luca, der für ein Auktionshaus arbeitet, hat Thaddea gebrochen, weil die beiden miteinander geschlafen haben, und zwar nachdem sie nach einer Party in der Neuen Pinakothek versehentlich über Nacht dort eingeschlossen wurden. So ist Thaddea noch isolierter als ohnehin schon. Ihre Praxis verschafft ihr zunächst wenig Ablenkung. Patienten bleiben aus oder kommen nach der ersten Sitzung nicht wieder. Allerdings hat sie ziemlich eigenartige Vorstellungen von ihrer Profession: "Irgendwo fand man immer bei jedem und jeder eine Mischung aus unguten Erinnerungen und einem nicht besonders gut funktionierenden Erinnerungsvermögen. Das nannte man dann Trauma, und anschließend bastelte man daran, die Erinnerungen in einen einigermaßen logischen Ablauf zu bringen und sie in einem freundlicheren Licht erscheinen zu lassen. Thaddea hatte niemals an Ursachen geglaubt und glaubte auch jetzt nicht daran." Auch lehnt sie es ab, Ziele zu haben.
Im Besonderen kann sie die angeblichen seelischen Probleme von Managern nicht ernst nehmen. Das wird bei der Behandlung einer Managerin deutlich, die sie "die Planerin" nennt. Die hat nur eine Angst, nämlich hereingelegt zu werden. "Diese Angst hatte nach Thaddeas Erfahrung praktisch jeder Manager. Nur Unternehmer leisteten es sich, Vertrauen zu haben." Da spricht wohl auch der Unternehmer Ernst-Wilhelm Händler aus ihr. Gegen CEOs hat er offensichtlich etwas. Im Münchner Kunstgetriebe tummeln sich dem Roman zufolge nur die Zweitklassigen oder Abgehalfterten. Händler hat mit offensichtlichem Spaß daran, sich unbeliebt zu machen, keine Scheu, sie von Berger über Breuer zu Reitzle mit Klarnamen zu benennen. Thaddeas therapeutischer Rat für die Planerin lautet schließlich, dass sie in den quälenden Meetings ihrer Firma, von denen sie in den Sitzungen berichtet hatte, etwas "maximal Peinliches" tun soll.
Dem Leser gibt zu denken, ob nicht Thaddeas überspannte Selbstbeobachtung und ihre Distanz auf ein Experiment zurückzuführen sind, das sie als Kind mit sich selbst veranstaltet hatte. Sie wollte nämlich wissen, wie es sich anfühlt, wenn einem der Reifen eines Lieferwagens über den Fuß rollt. In der Folge wurden ihr die Zehen amputiert. Diesen Makel versucht sie mit eiserner Selbstbeherrschung wie mit angemessen teurem Schuhwerk zu verbergen.
Obwohl sie sich als "menschenscheu und menschendämlich" sieht, besucht sie die Münchner Partys, vorzugsweise solche mit Menschen, die sie garantiert nicht ernst nehmen kann. Immerhin interessiert sie sich eine Weile für einen Schriftsteller, obwohl der ziemlich gespreiztes Zeug über Beobachten und Beschreiben von sich gibt. Allerdings gelegentlich auch amüsante Bonmots: "Die Familie ist ein Kollateralschaden des Lebens." Sie beschließt gleichwohl, selbst einen Roman zu schreiben, der mit ihrer Familie zu tun hat. Wovon der handelt, verrät sie dem Schriftsteller nicht.
Ein Video der Tochter der Planerin, der ausnahmsweise fiktiven Künstlerin Fleur Blankovic, auf dem die Managerin, vor dem Gebäude ihrer Firma weinend neben den teuren Schuhen eines vermutlichen Chefs auf die Knie fallend, "in den Kreis der Peinlichkeit" eintritt und "aus der Wüste der Empfindungslosigkeit" herausfindet, trifft sie wie ein Blitzstrahl. Sie betrachtet das als "triumphalen Erfolg" ihrer Therapie. Sie weiß nun, was sie in ihrem Roman beabsichtigte. "Sie wollte nicht beobachten und nicht beschreiben. Sie wollte einen perfekten, lückenlosen Metaphernbau konstruieren."
Die Hochstimmung hält aber nicht lange, und sie fällt aufs Beobachten zurück: "Während Thaddea beobachtete, wurde sie ihrerseits von ihrer Misslaune beobachtet." Wer leidet, muss beobachten. Endlich gesteht sie sich ein, dass sie unglücklich ist, und gerade das bringt sie zur Wirklichkeit. Im Prada Showroom erwägt sie sogar den Kauf von Open-toe-Schuhen. Das wäre dann die Offenbarung eines Defekts, den jeder interessante Geist irgendwo verbirgt. Sie beschließt dann aber plötzlich, den Roman nicht zu schreiben, stattdessen setzt sie sich ein Ziel im Leben, wenngleich ein recht banales.
Das freut den Leser für Thaddea, entschädigt aber nicht ganz für einige Qual bei der Lektüre. Neben den oft herrlichen Modepassagen gibt es zu viele und zu lange freudlos-abschätzige Beschreibungen der Münchner Society, in denen sich ein philisterhafter Snobismus des Uneitlen zeigt. Auch verfällt der Gesellschaftsroman trotz stilistischer Überanstrengung erstaunlich oft dem Klischee dessen, was der Leser von der Münchner Schickeria schon wusste. So steht der Erkenntnisgewinn der Gesellschaftsbeobachtung in einem Missverhältnis zum erzählerischen Aufwand.
FRIEDMAR APEL
Ernst-Wilhelm Händler: "München". Gesellschaftsroman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2016. 352 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Party und Struktur: Ernst-Wilhelm Händler beobachtet die Münchner Gesellschaft
Seit Charles Baudelaire ist die Literatur mit der Mode verschwistert, weil an ihr das Transitorische der Moderne, der sich stetig beschleunigende Übergang vom Alten ins Neue sichtbar wird. In der Mode zeigt sich auch besonders intensiv, was für soziale Systeme überhaupt gilt: dass jeder zugleich Beobachter und Beobachteter ist. Diese Dialektik des Beobachtens durchzieht Ernst-Wilhelm Händlers Gesellschaftsroman wie ein Leitmotiv, gleich am Anfang wird sie animistisch sogar in die umgebende Natur projiziert. "Der Wald dagegen ein Zauberwald, die Wünsche der Beobachterin erratend und schürend. Niemals würde sich der Wald damit zufrieden geben, betrachtet zu werden. Er wollte aufstacheln, doppelt auf Gedanken bringen. Wer beobachtete wen?"
Die Beobachterin ist Thaddea, eine reiche Erbin und Psychotherapeutin. Von ihrer einzigen Freundin Kata, einer international tätigen Architektin, hat sie sich eine Villa in Grünwald und ein Stadthaus in Schwabing bauen lassen, das sie als Praxis nutzen will, auch "die Struktur" genannt. Beide Bauten sind mit viel Glas auf die Spannung zwischen Einblick und Ausblick hin komponiert. Derart stehen sie für den ganzen Roman, Händler setzt seine Figuren gleichsam in eine gläserne Struktur, in der sie studiert werden.
Ins Geschehen eingeführt werden sie über die Beschreibung ihres Outfits und des Aussehens bis hinein in die Wahl des Lippenstifts. Dabei zeigt Händler gründliche Kenntnisse der Mode. Auch den Jargon der Branche scheut er nicht.
Gegenseitiges Beachten der Garderobe als eines Kommunikationsmediums erscheint als Hauptmerkmal der beschriebenen Gesellschaftsschicht. Gelegentlich wird das ins Abstruse getrieben, so bei der Beschreibung einer Aktion des Hauses der Kunst, bei der die Flucht aus der DDR lebensecht mit Hundegebell und Selbstschussanlage simuliert wird. "Die anderen potentiellen Republikflüchtigen fixierten neidvoll ihre sich in so zielgerichteter Bewegung befindlichen weißen Sneakers mit den roten Kappen, den roten Schnürsenkeln und dem Schriftzug von Prada." Entsprechend sind in "München" Kunstausstellungen vor allem Bühne für exquisite Kreationen. Die Beschreibungen der Partys und Empfänge, sei es im P1, am Pool eines RTL-Produzenten oder auf Herrenchiemsee, sind einschließlich der wiedergegebenen Gespräche trotz erhöhten Champagnerkonsums allerdings nicht immer dazu angetan, den Leser besonders neidisch zu machen. Nur gelegentlich geht es lustig zu: "Wir haben gestern einen Ultraschall bei Lumpi machen lassen. Gott sei Dank hat er nur Gallensteine."
Mit Kata wie mit ihrem Freund Ben-Luca, der für ein Auktionshaus arbeitet, hat Thaddea gebrochen, weil die beiden miteinander geschlafen haben, und zwar nachdem sie nach einer Party in der Neuen Pinakothek versehentlich über Nacht dort eingeschlossen wurden. So ist Thaddea noch isolierter als ohnehin schon. Ihre Praxis verschafft ihr zunächst wenig Ablenkung. Patienten bleiben aus oder kommen nach der ersten Sitzung nicht wieder. Allerdings hat sie ziemlich eigenartige Vorstellungen von ihrer Profession: "Irgendwo fand man immer bei jedem und jeder eine Mischung aus unguten Erinnerungen und einem nicht besonders gut funktionierenden Erinnerungsvermögen. Das nannte man dann Trauma, und anschließend bastelte man daran, die Erinnerungen in einen einigermaßen logischen Ablauf zu bringen und sie in einem freundlicheren Licht erscheinen zu lassen. Thaddea hatte niemals an Ursachen geglaubt und glaubte auch jetzt nicht daran." Auch lehnt sie es ab, Ziele zu haben.
Im Besonderen kann sie die angeblichen seelischen Probleme von Managern nicht ernst nehmen. Das wird bei der Behandlung einer Managerin deutlich, die sie "die Planerin" nennt. Die hat nur eine Angst, nämlich hereingelegt zu werden. "Diese Angst hatte nach Thaddeas Erfahrung praktisch jeder Manager. Nur Unternehmer leisteten es sich, Vertrauen zu haben." Da spricht wohl auch der Unternehmer Ernst-Wilhelm Händler aus ihr. Gegen CEOs hat er offensichtlich etwas. Im Münchner Kunstgetriebe tummeln sich dem Roman zufolge nur die Zweitklassigen oder Abgehalfterten. Händler hat mit offensichtlichem Spaß daran, sich unbeliebt zu machen, keine Scheu, sie von Berger über Breuer zu Reitzle mit Klarnamen zu benennen. Thaddeas therapeutischer Rat für die Planerin lautet schließlich, dass sie in den quälenden Meetings ihrer Firma, von denen sie in den Sitzungen berichtet hatte, etwas "maximal Peinliches" tun soll.
Dem Leser gibt zu denken, ob nicht Thaddeas überspannte Selbstbeobachtung und ihre Distanz auf ein Experiment zurückzuführen sind, das sie als Kind mit sich selbst veranstaltet hatte. Sie wollte nämlich wissen, wie es sich anfühlt, wenn einem der Reifen eines Lieferwagens über den Fuß rollt. In der Folge wurden ihr die Zehen amputiert. Diesen Makel versucht sie mit eiserner Selbstbeherrschung wie mit angemessen teurem Schuhwerk zu verbergen.
Obwohl sie sich als "menschenscheu und menschendämlich" sieht, besucht sie die Münchner Partys, vorzugsweise solche mit Menschen, die sie garantiert nicht ernst nehmen kann. Immerhin interessiert sie sich eine Weile für einen Schriftsteller, obwohl der ziemlich gespreiztes Zeug über Beobachten und Beschreiben von sich gibt. Allerdings gelegentlich auch amüsante Bonmots: "Die Familie ist ein Kollateralschaden des Lebens." Sie beschließt gleichwohl, selbst einen Roman zu schreiben, der mit ihrer Familie zu tun hat. Wovon der handelt, verrät sie dem Schriftsteller nicht.
Ein Video der Tochter der Planerin, der ausnahmsweise fiktiven Künstlerin Fleur Blankovic, auf dem die Managerin, vor dem Gebäude ihrer Firma weinend neben den teuren Schuhen eines vermutlichen Chefs auf die Knie fallend, "in den Kreis der Peinlichkeit" eintritt und "aus der Wüste der Empfindungslosigkeit" herausfindet, trifft sie wie ein Blitzstrahl. Sie betrachtet das als "triumphalen Erfolg" ihrer Therapie. Sie weiß nun, was sie in ihrem Roman beabsichtigte. "Sie wollte nicht beobachten und nicht beschreiben. Sie wollte einen perfekten, lückenlosen Metaphernbau konstruieren."
Die Hochstimmung hält aber nicht lange, und sie fällt aufs Beobachten zurück: "Während Thaddea beobachtete, wurde sie ihrerseits von ihrer Misslaune beobachtet." Wer leidet, muss beobachten. Endlich gesteht sie sich ein, dass sie unglücklich ist, und gerade das bringt sie zur Wirklichkeit. Im Prada Showroom erwägt sie sogar den Kauf von Open-toe-Schuhen. Das wäre dann die Offenbarung eines Defekts, den jeder interessante Geist irgendwo verbirgt. Sie beschließt dann aber plötzlich, den Roman nicht zu schreiben, stattdessen setzt sie sich ein Ziel im Leben, wenngleich ein recht banales.
Das freut den Leser für Thaddea, entschädigt aber nicht ganz für einige Qual bei der Lektüre. Neben den oft herrlichen Modepassagen gibt es zu viele und zu lange freudlos-abschätzige Beschreibungen der Münchner Society, in denen sich ein philisterhafter Snobismus des Uneitlen zeigt. Auch verfällt der Gesellschaftsroman trotz stilistischer Überanstrengung erstaunlich oft dem Klischee dessen, was der Leser von der Münchner Schickeria schon wusste. So steht der Erkenntnisgewinn der Gesellschaftsbeobachtung in einem Missverhältnis zum erzählerischen Aufwand.
FRIEDMAR APEL
Ernst-Wilhelm Händler: "München". Gesellschaftsroman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2016. 352 S., geb., 23,- [Euro].
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Ein großer Roman. Christoph Schröder Journal Frankfurt 20160909