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September 1938 - in München treffen sich Hitler, Chamberlain, Mussolini und Daladier zu einer kurzfristig einberufenen Konferenz. Der Weltfrieden hängt am seidenen Faden. Im Gefolge des britischen Premierministers Chamberlain befindet sich Hugh Legat aus dem Außenministerium, der ihm als Privatsekretär zugeordnet ist. Auf der deutschen Seite gehört Paul von Hartmann aus dem Auswärtigen Amt in Berlin zum Kreis der Anwesenden. Den Zugang zur Delegation hat er sich erschlichen. Insgeheim ist er Mitglied einer Widerstandszelle gegen Hitler. Legat und von Hartmann verbindet eine Freundschaft, seit…mehr

Produktbeschreibung
September 1938 - in München treffen sich Hitler, Chamberlain, Mussolini und Daladier zu einer kurzfristig einberufenen Konferenz. Der Weltfrieden hängt am seidenen Faden. Im Gefolge des britischen Premierministers Chamberlain befindet sich Hugh Legat aus dem Außenministerium, der ihm als Privatsekretär zugeordnet ist. Auf der deutschen Seite gehört Paul von Hartmann aus dem Auswärtigen Amt in Berlin zum Kreis der Anwesenden. Den Zugang zur Delegation hat er sich erschlichen. Insgeheim ist er Mitglied einer Widerstandszelle gegen Hitler. Legat und von Hartmann verbindet eine Freundschaft, seit sie in Oxford gemeinsam studiert haben. Nun kreuzen sich ihre Wege wieder. Wie weit müssen sie gehen, wenn sie den drohenden Krieg verhindern wollen?

Der neue Politthriller von Robert Harris - ein Roman über Hochverrat und Unbestechlichkeit, über Loyalität und Vertrauensbruch. Und wie immer bei Robert Harris lassen sich über die historischen Figuren und Ereignisse erhellende Bezüge zur aktuellen Weltpolitik herstellen.

Autorenporträt
Harris, Robert
Robert Harris wurde 1957 in Nottingham geboren und studierte in Cambridge. Seine Romane »Vaterland«, »Enigma«, »Aurora«, »Pompeji«, »Imperium«, »Ghost«, »Titan«, »Angst«, »Intrige«, »Dictator«, »Konklave« und zuletzt »München« wurden allesamt internationale Bestseller. Seine Zusammenarbeit mit Roman Polanski bei der Verfilmung von »Ghost« (»Der Ghostwriter«) brachte ihm den französischen »César« und den »Europäischen Filmpreis« für das beste Drehbuch ein. Robert Harris lebt mit seiner Familie in Berkshire.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.11.2017

Gott schütze Chamberlain!

Was wäre, wenn im September 1938 nur vier Tage anders verlaufen wären? Robert Harris' Roman über das Münchner Abkommen

Counterfactual History, kontrafaktische Geschichtsschreibung, das ist nicht nur etwas für Verschwörungstheoretiker, Schriftsteller oder für Regisseure wie Quentin Tarantino, der in "Inglourious Basterds" Hitler samt Faschismus mal eben in einem Kinosaal in die Luft fliegen ließ. Im angelsächsischen Raum ist das ein seriöser Forschungszweig, wogegen deutsche Historiker bislang mit dieser Form des spekulativen Denkens eher fremdelten. Doch jetzt ist ein Band erschienen, der sich auf das "Was wäre wenn" konzentriert und sich "Eine andere deutsche Geschichte 1517-2017" nennt, was unter anderem auch heißt: eine Neuzeit ohne Reformation, eine Reformation ohne Luther, Deutschland ohne Bismarck und ohne Hitler.

Im Vorwort der Herausgeber Christoph Nonn und Tobias Winnerling wird auch die notorische Unterschätzung jener Schriftsteller revidiert, die, wie Robert Harris in "Vaterland", alternative historische Szenarien entworfen haben. Harris' weitere historische Romane, ob über Cicero oder die Dreyfus-Affäre, waren nicht im engen Sinne "kontrafaktisch", weil sie keinen anderen Verlauf skizzierten, aber sie nutzten das Genre des historischen Romans sehr freizügig als Medium, um die Gegenwart und deren Versionen der Vergangenheit zu reflektieren.

Jetzt hat Harris einen Stoff behandelt, über den er schon 1988, als er noch politischer Redakteur des "Observers" war, einen Film gedreht hat. Die Fernsehdokumentation über das Münchner Abkommen trug den Titel "God Bless You, Mr. Chamberlain", woraus eine klare Haltung zum Appeasement-Politiker sprach, die Harris nun in seinem Roman "München" noch einmal aufgreift. Er habe sich, schreibt er im Nachwort, "eine leichte Obsession für das Thema" bewahrt. Und so erzählt er von vier Tagen im September 1938, die für viele das Ende des alten Europas, das fatale Zugeständnis an Hitler waren. Ohne zum Apologeten zu werden, bemüht sich das Buch um Verständnis für Chamberlain, der den Frieden unbedingt erhalten wollte - um den Preis, die staatliche Existenz der Tschechoslowakei zu opfern.

In vielen Passagen wirkt der Roman fast dokumentarisch, weil er auf reichhaltiges Material, auf offizielle Schriftstücke, Notizen und Memoiren zurückgreifen kann. Harris liest sich dann wie ein Historiker - nur dass er ein besserer Erzähler und Stilist ist, als man das aus der Branche kennt, wenn er die strategischen Erörterungen darstellt, die Feinheiten des diplomatischen Geschäfts, die Konkurrenz um den Einfluss auf den Premierminister; wenn er mit feinem Blick für Details und Örtlichkeiten, in London wie in München, eine vergangene Welt anschaulich werden lässt.

Entscheidend aber ist die Erzählperspektive. Wir erleben die vier Tage aus der Sicht zweier fiktiver Charaktere, des jungen Briten Hugh Legat und des Deutschen Paul von Hartmann, die einander aus gemeinsamer Zeit in Oxford kennen und in eher subalterner Position am Rande der großen Staatsaktion agieren, zugleich aber einen Hebel liefern könnten, um das Geschehen zu beeinflussen. Hartmann, der im Außenministerium arbeitet, denkt zwar deutschnational, aber er hat den typischen Dünkel gegenüber dem österreichischen Gefreiten und verkehrt im Kreis der September-Verschwörer um den Offizier Hans Oster, zu denen auch Ludwig Beck und andere hochrangige Offiziere gehörten. Sie hatten in der Sudetenkrise geplant, Hitler am Tag der Mobilmachung festzunehmen; uneinig waren sie nur darüber, wie mit ihm zu verfahren sei. Hartmanns Rolle besteht darin, über Legat, den dritten Privatsekretär Chamberlains, Kontakt zum Premier herzustellen.

Obwohl die Fakten der Zeitgeschichte ja ein gnadenloser Spoiler sind, gelingt es Harris, Spannung zu erzeugen. Es steht auf der Kippe, ob die Freunde von früher nach München kommen werden. Hartmann wird zugleich misstrauisch beobachtet von einem Sturmbannführer aus dem Umfeld Ribbentrops. Harris setzt dabei typische Elemente des Spionageromans ein: die versteckte Pistole in der Zugtoilette, das belastende Dokument unterm Hemd, bei dem es sich um die sogenannte Hoßbach-Niederschrift vom November 1937 handelt, in der Hitlers Expansionswille und -wahn krass zutage treten.

Dass Spannung entsteht, hat vor allem damit zu tun, dass sich in dem Moment ein neuer Zukunftshorizont eröffnete, in dem es Hartmann mit Hilfe der Hoßbach-Niederschrift gelänge, Chamberlain von der Sinnlosigkeit eines Abkommens mit Hitler zu überzeugen: Was wäre gewesen, wenn Frankreich und England keine Konzessionen gemacht und Hitler daher den Krieg bekommen hätte, den er unbedingt wollte? Hätten seine Festnahme oder Erschießung diesen Krieg verhindert? Wären Oberkommandierende oder Wehrmachtsgeneräle mit Kommandogewalt für den Widerstand zu gewinnen gewesen?

Harris reizt diese Fragestellung zwar nicht aus, aber sein Roman ist so erzählt, dass nicht auf allem Geschehen schon der fatale Vorschein dessen liegt, was kommen wird. Es ist eher der Versuch, um einen Begriff des Historikers Reinhart Koselleck zu benutzen, eine vergangene Zukunft zu rekonstruieren, den Erwartungshorizont der Zeitgenossen, weil so auch klarer wird, welche Handlungsspielräume bestanden, welche Möglichkeiten versäumt wurden.

Das Interessante an Harris' erzählerischer Strategie ist, wie sehr sie jenen Verfahren kontrafaktischer Geschichtsschreibung ähnelt, die auch der genannte Sammelband skizziert. In seinem Aufsatz "Deutschland ohne Hitler" prüft Wolfgang Schieder das Potential der verschiedenen gescheiterten Attentate auf Hitler. Der "Elitenopposition" um Oster bescheinigt er kaum Erfolgsaussichten, auch mangels Interesse der Briten. Selbst bei einem erfolgreichen Staatsstreich, so Schieder, lasse sich "kaum eine Alternative zu einem Weiterbestand des NS-Regimes konstruieren".

Nichts anderes lotet Harris in der Fiktion aus - und zieht natürlich eine unsichtbare Linie in die Gegenwart, weil es auch bei Gestalten wie Kim Jong-un oder Putin darum geht, wann das Repertoire der Diplomatie erschöpft ist. Und weil Robert Harris bei aller hermeneutischen Zurückhaltung das Temperament eines politischen Kommentators hat, findet er auch für Chamberlains kurzfristigen Erfolg ein starkes Bild. Zurück in London, hält der Premier triumphierend ein Papier mit der gemeinsamen deutsch-britischen Erklärung hoch: "Die schwarz gezackte Gestalt, den Arm ausgestreckt, im Zentrum eines großen hellen Lichts, wie jemand, der sich in einen elektrischen Zaun gestürzt hatte."

PETER KÖRTE

Robert Harris: "München". Roman. Aus dem Englischen von Wolfgang Müller. Heyne, 592 Seiten, 22 Euro

Christoph Nonn / Tobias Winnerling (Hg.): "Eine andere deutsche Geschichte 1517-2017. Was wäre wenn . . .". Schöningh, 298 Seiten, 29,90 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.11.2017

Pokern ohne Karten
Ein Gespräch mit dem britischen Bestseller-Autor Robert Harris über seinen neuen Roman
„München“, die „Appeasement“-Politik Chamberlains und England nach der Brexit-Entscheidung
INTERVIEW: ALEXANDER MENDEN
Robert Harris empfängt den Besucher am Bahnhof des kleinen Örtchens in West Berkshire, in dem er lebt. Hier, in seinem Haus am Fluss, produziert der 60-Jährige seit Jahren verlässlich einen Bestseller nach dem anderen. In „München“, seinem jüngsten Werk, hat er sich – nach Ausflügen in die römische Antike, das französische Fin de Siècle und den Vatikan – wieder einmal dem Zweiten Weltkrieg zugewandt. Es geht um das Münchner Abkommen vom 29. September 1938, mit dem die Sudetenkrise beigelegt werden sollte, und von dem der damalige britische Premier Chamberlain mit dem Versprechen heimkehrte, den „Frieden für unsere Zeit“ gesichert zu haben.
SZ: Neville Chamberlain gilt als Politiker des „Appeasement“. Sie zeigen ihn in einem positiveren Licht, als man es gemeinhin aus der Geschichtsschreibung gewohnt ist.
Robert Harris: Ich habe vor 30 Jahren eine Dokumentation für die BBC über das Münchner Abkommen gedreht, und damals war die akzeptierte Meinung, dass die „feige Appeasement-Politik“ zum Ausbruch des Krieges beigetragen habe. Je älter ich wurde, desto mehr wurde mir klar, dass das alles sehr viel komplexer war. Unsere Sicht ist eine Churchill-Sicht, und Winston Churchill sagte über Chamberlain: „Die Geschichtsschreibung wird nicht besonders gnädig mit ihm umgehen. Ich weiß das, weil ich der Geschichtsschreiber sein werde.“ Es ging mir darum, zu zeigen, dass Chamberlain nicht der Schwächling war, den alle in ihm sehen. Er zog sich altertümlich an und war klein und dünn. Aber selbst Churchill gestand ein, dass sich dahinter ein ziemlich hartgesottener Pionier des britischen Imperiums verbarg.
„München“ kommt zu einem Zeitpunkt heraus, zu dem viele Briten sich noch mehr als sonst dem Zweiten Weltkrieg zuwenden, nicht zuletzt zur nationalen Selbstversicherung.
Großbritannien war so ziemlich das einzige westeuropäische Land, das nach dem Krieg ein größeres Selbstbewusstsein hatte als davor. Das Jahr 1940 ist da besonders im Fokus. Erst kam „Dunkirk“ von Christopher Nolan, demnächst „Darkest Hour“, wieder über Churchill. Man könnte denken, das Land sei komplett verrückt geworden. Das hat die Betrachtung des Münchner Abkommens zwei Jahre zuvor für mich noch interessanter gemacht. 1938 waren wir nicht bereit für den Krieg, weder was die Moral noch was die Ausrüstung anging. Als Chamberlain im Sommer 1940 im Sterben lag, fragte er: „Wenn ich für alles verantwortlich gemacht werde, was schiefgelaufen ist, warum wird es mir dann nicht als Verdienst angerechnet, dass wir inzwischen aufgerüstet haben und uns verteidigen können?“ Er hat die Spitfires bauen lassen – wenn es nach Churchill gegangen wäre, hätten wir eine Flotte von Doppeldeckern bestellt. München war ein letzter Versuch gewesen, den Frieden zu erhalten, und es hatte gezeigt, dass man Hitler nicht trauen konnte. „Dunkirk“ ist für mich „Brexit – Der Film“, mit dem Hauptthema: „Nichts wie weg aus Europa“. Insofern ist „München“ zwar keine Brexit-Allegorie, aber sicher eine Art Brexit-Buch. Ich begann es zu schreiben, als das EU-Referendum stattfand.
Die beiden Hauptfiguren, Chamberlains Privatsekretär und ein deutscher Adliger, die sich aus Oxford kennen, sind erfunden. Aber insgesamt ist die Geschichte nahe an den historischen Ereignissen. Waren sie je versucht, eine komplette Parallelgeschichte zu schreiben?
Ja, ich habe überlegt, eine alternative Realität zu erschaffen, in der es kein Münchner Abkommen gab. Aber davon habe ich dann Abstand genommen. Mein früher Roman „Fatherland“, in dem Deutschland den Zweiten Weltkrieg gewonnen hat, war eine komplett ausgedachte Welt, im Fall von „München“ hätte man dieselbe Welt mit ein paar geänderten Aspekten gehabt. Die beiden Hauptfiguren, Hartmann und Legat, gaben mir aber die Möglichkeit, beide Seiten zu zeigen, nicht nur die britische. Ich wollte auch Szenen zeigen wie die, in der die Münchner Bevölkerung Chamberlain zujubelte, nicht Hitler, der darüber natürlich nicht erfreut war. Viele dieser Menschen konnten sich noch an den letzten Krieg erinnern und wollten keinen neuen.
In England herrscht gerade eine extreme Kriegsnostalgie, die Idee der Nation, die allein gegen das Böse kämpft. Wollten Sie dem entgegenarbeiten?
Zunächst mal standen wir nicht allein, sondern waren Teil eines erdumspannenden Imperiums mit einer halben Milliarde Menschen. Es ist keine Frage, dass es großen Heldenmutes vieler Briten bedurfte, um gegen die Nazis zu kämpfen, und dass Churchill ein brillanter Kriegspremier war. Aber er hatte eine zu kleine, durch das Engagement im Empire völlig überdehnte Armee und eine Bevölkerung, der nicht der Sinn nach Krieg stand und deren Moral nach der Weltwirtschaftskrise nicht die beste war. Und man darf nicht vergessen, dass es in der britischen Politik lange als selbstverständlich galt, dass Hitler weniger verrückt war als Kaiser Wilhelm. Daher war das, was später als „Appeasement“ verunglimpft wurde, eine durchaus vernünftige Strategie. Sie funktionierte eben nicht, weil Hitler viel verrückter war.
Viele Brexit-Befürworter bezeichnen derzeit jede Art von Kompromiss seitens der Briten in den EU-Ausstiegsverhandlungen als „Appeasement“.
Es ist fürchterlich, dass der Brexit jetzt in die Begrifflichkeiten des Jahres 1940 gefasst wird. Ich liebe dieses Land, aber es hat seit dem Krieg einen völlig übertriebenen Sinn für die eigene moralische Überlegenheit. Das prägt auch das Verhältnis zum gesamteuropäischen Projekt: Wir fanden es im Prinzip gut, aber wir selber gingen die Dinge ein bisschen anders an, und – natürlich – immer auch ein bisschen besser. Daher haben sich viele nicht die Mühe gemacht, wirklich zu verstehen, wie die EU eigentlich funktioniert.
Unterscheidet das die gegenwärtig in Brüssel agierenden britischen Unterhändler nicht grundsätzlich von Chamberlain und seinen Beratern?
Absolut. Trotz aller nachträglichen Verunglimpfung verhandelte Chamberlain auf Höhe des damaligen britischen Wissensstandes. Er war ein viel realistischerer Politiker als Churchill, und wusste, dass das Empire einen Krieg nicht überleben würde. „Man kann nicht gegen einen Gangster pokern, wenn man nicht einmal Karten in der Hand hat“, sagte er. Heute pokern wir wieder ohne Karten, mit dem Unterschied, dass unsere Verhandlungspartner keine Gangster sind, sondern Abgesandte einer Vereinigung, der wir selbst angehören. Dass wir in dieser Situation sind, können wir niemand anderem vorwerfen als uns selbst. Das ist der kosmische Witz, wenn Sie so wollen. Chamberlain wusste, dass er mit seiner Strategie seinen Ruf aufs Spiel setzte, und er sagte: „Ich glaubte, dieses Risiko eingehen zu müssen.“ Sie werden in unseren Tagen, in denen der Populismus eine so große Rolle spielt, diese Art von politischem Mut kaum noch finden.
Trotz ihres vielgerühmten Realismus und Pragmatismus haben die Briten, vor allem die EU-Skeptiker, die Brexit-Debatte hochemotional geführt.
Das Verrückte ist, dass die Brexiteers zu denken scheinen, sie hätten alle Leidenschaft für sich gepachtet. Sie können sich einfach nicht vorstellen, dass auf EU-Seite ähnlich starke Gefühle im Spiel sind, dass andere Europäer bereit sind, für die EU Opfer zu bringen. Innenpolitisch betrachtet ist das Fürchterliche an der gegenwärtigen Lage, dass das Land in der Europafrage genau in der Mitte gespalten ist, nicht zuletzt entlang der Generationengrenze.
Könnten Sie sich vorstellen, einen Roman zu schreiben, der sich direkt mit dem Brexit auseinandersetzt?
Wenn ich einen Zugang fände, würde ich das tun, ja. Der Vorteil historischer Romane liegt aber darin, dass die Vorgänge, über die man schreibt, abgeschlossen sind. Sie können einen nicht überrumpeln, wie es die Gegenwart nun einmal zu tun pflegt. Ein Roman, der sich mit aktuellen Ereignissen befasst, kann in den Monaten, die zwischen Abfassung und Publikation liegen, schon wieder völlig überholt und veraltet sein. Man müsste so viele Aspekte berücksichtigen, und nicht einfach das „Die Menschen waren naiv und wurden belogen“-Argument zugrunde legen. Die Gründe für die Brexit-Entscheidung und die Wahl Donald Trumps zum amerikanischen Präsidenten sind verschiedene Ausprägungen desselben Phänomens. Die Bankenkrise vor zehn Jahren wirkt da nach, wie ein Feuer, das unterirdisch weitergebrannt hat. Hitlers Aufstieg war ja auch zum Teil die Folge einer schweren Wirtschaftskrise.
Erkennen Sie da eine Wiederholung der Geschichte?
Nicht direkt. Schon allein die Rolle, die das Internet und speziell die sozialen Medien in den politischen Ereignissen der vergangenen zwei Jahre gespielt haben, verleihen ihnen eine andere Qualität. Aber der Effekt der Entfremdung, das Gefühl, keine Kontrolle über das eigene Leben zu haben – da sehe ich schon deutliche Parallelen zu den Dreißigerjahren. Die Million Flüchtlinge, die 2015 von der deutschen Regierung ins Land gelassen wurden, haben viele Briten als Bedrohung empfunden – was, wenn die hierherkommen? Das war nicht das, worauf sie sich eingelassen hatten, als sie der Europäischen Gemeinschaft beitraten. Ich sage nicht, dass es falsch war, das zu tun, aber das war der Effekt.
Wie sehen Sie die unmittelbare Zukunft des Vereinigten Königreichs?
Oh, die habe ich kürzlich in einer Twitternachricht zusammengefasst: „Theresa May tritt zurück. Boris Johnson wird Premier. Sex-Skandal. David Davis wird Premier. No-Deal-Brexit. Jeremy Corbyn wird der fünfte Permier innerhalb von drei Jahren. Die Queen stirbt. Venezuela.“ Ein paar kleine Schritte trennen eine wirtschaftlich erfolgreiche Nation vom absoluten Chaos. Es reicht ein Moment des Wahns – und das war die Brexit-Entscheidung. Das Ganze war und ist eine komplette Bankrotterklärung der britischen Politik, sowohl das Referendum selbst als auch die kopflose Reaktion auf das Ergebnis.
Hat sich durch den Brexit Ihr Verhältnis zu Großbritannien verändert?
All die positiven Charakteristika, die ich an Großbritannien liebte – Pragmatismus, Ironie, Misstrauen gegenüber grandiosen politischen Gesten, Humor, Toleranz, Höflichkeit –, scheinen fast über Nacht zerbrochen zu sein. Alles ist plötzlich unter Beschuss: die Souveränität des Parlaments, der Rechtsprechung, der staatlichen Verwaltung, die Freiheit der akademischen Lehre. Die Brexiteers drohen mehr oder weniger unverhohlen mit einem gewaltsamen Aufstand, sollte der Brexit nicht umgesetzt werden. In dieser Erosion gesellschaftlicher Ordnung sehe ich eine klare Parallele zu den Dreißigerjahren.
„Chamberlain hat unsere Spitfires
bauen lassen – Churchill
hätte Doppeldecker bestellt.“
„Der Brexit ist eine
komplette Bankrotterklärung
der britischen Politik.“
Churchill soll nicht das letzte Wort über Chamberlain haben: Robert Harris vor seinem Haus.
Foto: picture alliance / dpa
Robert Harris: München. Aus dem Englischen von Wolfgang Müller. Heyne Verlag, München 2017.
432 Seiten, 22 Euro. E-Book 17,99 Euro.
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"Harris liest sich wie ein Historiker - nur dass er ein besserer Erzähler und Stilist ist, als man das aus der Branche kennt." Allgemeine Frankfurter Sonntagszeitung