Diese Gedichte "strudeln", "entstieben", sie dringen unter die Haut, machen hellhörig, lösen die Zunge, reichen bis tief in die Lungenspitzen. Der Sprachsog von Anja Utlers lyrischen Verflechtungen zieht uns hinein ins Wechselspiel jener ungeschiedenen, vorbewussten Ganzheit, wo Innen und Außen, Körperliches und Naturhaftes in- und auseinder fließen. Ganz dem Augenblick verpflichtet, rühren sie an jenen Grund, wo das Sprechen beginnt, wo das Fühlen, das Denken sich sammelt und umschlägt, aus dem Körper bricht, eher noch Atemgeräusch denn gestalteter Laut. Und zischelnd, knackend, murmelnd blitzt aus dem sich reibenden, klingenden In-, Mit- und Gegeneinander die anarchisch-lebendige Welt hervor - ungeschaut, geheimnisvoll. Für ihre Gedichte aus "münden - entzüngeln" wurde Anja Utler die wichtigste Auszeichnung für junge Lyrik im deutschsprachigen Raum, der Leonce-und-Lena-Preis, verliehen. Die Jury würdigte die gespannte Balance ihrer Gedichte als "Sprachspiele gesteigerter Weltwahrnehmung, die aus der Substanz der Wörter jene Leuchtstreifen entwerfen, an denen sich unsere Neugierde, aber auch unsere Verstörungen im Erkunden der Sprache entlang tasten". "Das ist ganz selten: Anja Utler empfindet die Sprache. Daher schreibt sie so hart und so blitzend, so mitleidend genau. Daher die sibyllinische Klarheit und der bestürzende Reichtum ihres Gedichts. Ich kenne jetzt kaum jemanden, egal in welchem Alter, der Anja Utler das Wasser reichen könnte. Das gilt auch für die hoch entzündliche Präzision ihres Vortrags." Thomas Kling
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.06.2005Wie Atem zur Stimme wird
Ein perfektes Lyrikdebüt: Anja Utlers Apollo-Mission
Der menschliche Kehlkopf ist eine der kompliziertesten Konstruktionen der Natur. Die Luftröhre ragt als Stutzen aus einem Speichelsee, ein reflexgesteuerter Deckel verschließt sie beim Schlucken, und mehrere Nervenstränge sind nötig, um Zunge und Stimmbänder zu kontrollieren: Ernährung, Atem und Sprechen teilen jene Enge, in der sich entscheidet, ob das Leben allein im Schlingen der Gurgel vergeht oder als Gesang sich verströmt.
Anja Utler, geboren 1973, die als Slawistin und Stimmpädagogin die Tücken und Freuden der physischen Artikulation kennt, situiert ihre Gedichte in einer Sprache, die Kehle und Landschaft als "stimmschlund" ununterscheidbar werden läßt: "betasten die hände, / sie: nesteln, gefiedert, vom / brustkorb ab flechten sich / tiefer ins: schilf schlucken: licht, / gurgeln, dunkel ja, dämmrig / sie: stricken kielwärts ja kehlwärts / sich: hohlräume, mulden aus / halmen aus fingern aus".
Es ist zunächst eine träge Urlandschaft, durchzogen von Rinnsalen, die in Teichen stagnieren und aus der sich das Subjekt kaum abhebt: "ja, wieder und wieder ent- / wrungen sich, immer, bloß / bin murmeln bin". In solch amorpher Syntax kommt die Sprache als Lautfolge ganz beiläufig zu sich: "bin murmeln bin" ist der Quell, aus dem Utlers Gedichte entspringen "ins eigne, schwappende bild". Doch es bleibt nicht so sanft. Splitternde Geräusche und Vorgänge spalten Laute ab: "und endlich auch: atmen wollen, taun, wie der / see aus dem: schilf klaffen, triefen, die / kiefer das: kinn aus dem schlick scheiden, / trennen, und: abschenkeln, wieder die / lippen sich auf, aus dem rohr schneiden, / schlitzen, die kehle zum gaumen hin bricht: / an dem halm sich der laut". In genau konturierten Rhythmen und Atempausen beginnt dem langsamen Leser die deutsche Sprache aufs neue zu sprechen.
Wer Ohren hat zu hören, kann im ersten Teil des Bandes die Genese von Sprache im allgemeinen nachvollziehen, um im zweiten Teil die Fortführung der Wortfelder "Fluß" und "Atem" in vier Einzelthemen zu verfolgen. So wird die bereits in der Antike efolgte Verschmelzung der Götter Kronos und Chronos aus der Entgegensetzung von gutturalem Verschlußlaut "k" mit dem Hauchlaut "ch" entwickelt: Die Opposition der Phoneme charakterisiert zwei Welthaltungen, in denen eine sinnliche Paarbeziehung zur Sprache kommt.
Noch konkreter wird aus dem bloßen Schmerzlaut die Schindung des Marsyas durch Apoll entfaltet: "marsyas, das ist: an den stamm gehangen / bald: ausgelöst sein, an den ast gekrallt - balg - / ist gespannt, daß die schatten den achseln / entfliehn, von der klinge gespalten zu werden / - der atem gebannt - sehn: sie öffnet das dunkel / gedachte: den strömen aus luft und aus licht". Auf beklemmende Weise verschmelzen Laute und Vivisektion, bis "ein ächzen - / und vorerst nur er: vom entsetzen entbunden wird marsyas wird - / endlich: entströmt er ins harrende land er / entrinnt nicht: entspringt".
Von ebenso unmittelbarer Sprachgewalt ist die aus der Ich-Perspektive gedichtete Verwandlung der Daphne in Lorbeer beschrieben. Doch erst mit der Marina Zwetajewa gewidmeten Gedichtfolge "sibylle" erreicht der Band seine höchste Höhe. Apolls besessene Seherin verbrennt vor den lesenden Augen zur Schlange: "sibylle sie: türmt sich, wird: klippen sie zischt ist die: gischt in den / poren verglüht sie versprüht: sibilanten, erlischt- sss- ebbt / flutet sich selbst und: stöhnt auf".
Erst wenn man das - auch buchtechnisch - perfekt gestaltete Buch zur Seite legt und reflektierend den Bann des Gelesenen bricht, wird klar, mit welcher Konsequenz die Dichterin ihre Stimme als Flußlandschaft gestaltet hat und mit welcher Souveränität sie sich die antiken Mythen angeeignet hat. Diese brauchen nichts als einen Atem, der trägt, und einen Kopf, der den Versuchungen des Klassizismus wie der Dekonstruktion zu widerstehen weiß. Anja Utlers dezidiert antiapollinische und zugleich selbstbewußte Sprache gibt durch die kohärente Bildlichkeit den Weltbezug von Sprache nicht auf, doch zugleich erhalten die Wörter durch Ambivalenzen, Rhythmen, Lautmuster und syntaktische Offenheit ihren glucksenden Eigensinn zurück: die poetische Macht der Zeichen, sich der Benutzung durch Meinungen zu entziehen.
Das physiologische Wunder des Kehlkopfs, in dem jeden Tag die Verschmelzung von Materie und Bedeutung geschieht, wird durch Utlers kleines, aber epochales Meisterwerk wie zum ersten Mal als Grund unseres Bewußtseins erfahrbar: Geist als Verwandlung von Atem in Stimme.
THOMAS POISS
Anja Utler: "münden - entzüngeln". Gedichte. Edition Korrespondenzen, Franz Hammerbacher, Wien 2004. 96 S. geb., 17,40 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein perfektes Lyrikdebüt: Anja Utlers Apollo-Mission
Der menschliche Kehlkopf ist eine der kompliziertesten Konstruktionen der Natur. Die Luftröhre ragt als Stutzen aus einem Speichelsee, ein reflexgesteuerter Deckel verschließt sie beim Schlucken, und mehrere Nervenstränge sind nötig, um Zunge und Stimmbänder zu kontrollieren: Ernährung, Atem und Sprechen teilen jene Enge, in der sich entscheidet, ob das Leben allein im Schlingen der Gurgel vergeht oder als Gesang sich verströmt.
Anja Utler, geboren 1973, die als Slawistin und Stimmpädagogin die Tücken und Freuden der physischen Artikulation kennt, situiert ihre Gedichte in einer Sprache, die Kehle und Landschaft als "stimmschlund" ununterscheidbar werden läßt: "betasten die hände, / sie: nesteln, gefiedert, vom / brustkorb ab flechten sich / tiefer ins: schilf schlucken: licht, / gurgeln, dunkel ja, dämmrig / sie: stricken kielwärts ja kehlwärts / sich: hohlräume, mulden aus / halmen aus fingern aus".
Es ist zunächst eine träge Urlandschaft, durchzogen von Rinnsalen, die in Teichen stagnieren und aus der sich das Subjekt kaum abhebt: "ja, wieder und wieder ent- / wrungen sich, immer, bloß / bin murmeln bin". In solch amorpher Syntax kommt die Sprache als Lautfolge ganz beiläufig zu sich: "bin murmeln bin" ist der Quell, aus dem Utlers Gedichte entspringen "ins eigne, schwappende bild". Doch es bleibt nicht so sanft. Splitternde Geräusche und Vorgänge spalten Laute ab: "und endlich auch: atmen wollen, taun, wie der / see aus dem: schilf klaffen, triefen, die / kiefer das: kinn aus dem schlick scheiden, / trennen, und: abschenkeln, wieder die / lippen sich auf, aus dem rohr schneiden, / schlitzen, die kehle zum gaumen hin bricht: / an dem halm sich der laut". In genau konturierten Rhythmen und Atempausen beginnt dem langsamen Leser die deutsche Sprache aufs neue zu sprechen.
Wer Ohren hat zu hören, kann im ersten Teil des Bandes die Genese von Sprache im allgemeinen nachvollziehen, um im zweiten Teil die Fortführung der Wortfelder "Fluß" und "Atem" in vier Einzelthemen zu verfolgen. So wird die bereits in der Antike efolgte Verschmelzung der Götter Kronos und Chronos aus der Entgegensetzung von gutturalem Verschlußlaut "k" mit dem Hauchlaut "ch" entwickelt: Die Opposition der Phoneme charakterisiert zwei Welthaltungen, in denen eine sinnliche Paarbeziehung zur Sprache kommt.
Noch konkreter wird aus dem bloßen Schmerzlaut die Schindung des Marsyas durch Apoll entfaltet: "marsyas, das ist: an den stamm gehangen / bald: ausgelöst sein, an den ast gekrallt - balg - / ist gespannt, daß die schatten den achseln / entfliehn, von der klinge gespalten zu werden / - der atem gebannt - sehn: sie öffnet das dunkel / gedachte: den strömen aus luft und aus licht". Auf beklemmende Weise verschmelzen Laute und Vivisektion, bis "ein ächzen - / und vorerst nur er: vom entsetzen entbunden wird marsyas wird - / endlich: entströmt er ins harrende land er / entrinnt nicht: entspringt".
Von ebenso unmittelbarer Sprachgewalt ist die aus der Ich-Perspektive gedichtete Verwandlung der Daphne in Lorbeer beschrieben. Doch erst mit der Marina Zwetajewa gewidmeten Gedichtfolge "sibylle" erreicht der Band seine höchste Höhe. Apolls besessene Seherin verbrennt vor den lesenden Augen zur Schlange: "sibylle sie: türmt sich, wird: klippen sie zischt ist die: gischt in den / poren verglüht sie versprüht: sibilanten, erlischt- sss- ebbt / flutet sich selbst und: stöhnt auf".
Erst wenn man das - auch buchtechnisch - perfekt gestaltete Buch zur Seite legt und reflektierend den Bann des Gelesenen bricht, wird klar, mit welcher Konsequenz die Dichterin ihre Stimme als Flußlandschaft gestaltet hat und mit welcher Souveränität sie sich die antiken Mythen angeeignet hat. Diese brauchen nichts als einen Atem, der trägt, und einen Kopf, der den Versuchungen des Klassizismus wie der Dekonstruktion zu widerstehen weiß. Anja Utlers dezidiert antiapollinische und zugleich selbstbewußte Sprache gibt durch die kohärente Bildlichkeit den Weltbezug von Sprache nicht auf, doch zugleich erhalten die Wörter durch Ambivalenzen, Rhythmen, Lautmuster und syntaktische Offenheit ihren glucksenden Eigensinn zurück: die poetische Macht der Zeichen, sich der Benutzung durch Meinungen zu entziehen.
Das physiologische Wunder des Kehlkopfs, in dem jeden Tag die Verschmelzung von Materie und Bedeutung geschieht, wird durch Utlers kleines, aber epochales Meisterwerk wie zum ersten Mal als Grund unseres Bewußtseins erfahrbar: Geist als Verwandlung von Atem in Stimme.
THOMAS POISS
Anja Utler: "münden - entzüngeln". Gedichte. Edition Korrespondenzen, Franz Hammerbacher, Wien 2004. 96 S. geb., 17,40 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Als kleines, epochales Meisterwerk feiert Rezensent Thomas Poiss Anja Utlers Lyrikdebüt. Dabei faszinieren den Rezensenten darin behandelte "Tücken und Freuden" der Artikulation ebenso, wie die souveräne Aneignung antiker Mythen durch die 1973 geborene Dichterin. Die unmittelbare Sprachgewalt der Autorin erreicht in diesem - auch buchtechnisch perfekt gestalteten - Buch mit einer Marina Zwetajewa gewidmeten Gedichtfolge für Poiss ihre höchste Höhe.
© Perlentaucher Medien GmbH"
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