"Porträt des Meisters in mittleren Jahren" hieß der vielgelobte Roman über Henry James. Jetzt zehn Mutter-Sohn-Geschichten, die davon handeln, dass tiefste Leere und größte Nähe sich nicht ausschließen.
Geschichten von Menschen, die mit ihrem Leben zurechtkommen müssen, nachdem etwas passiert ist: Die Söhne in Toibins erstem Erzählungsband sind Diebe, Priester, Bauern, die Mütter Folksängerinnen, Alkoholikerinnen oder Geschäftsfrauen, aber alle unterhalten hochkomplizierte Beziehungen zueinander. Der hochgerühmte Autor Colm Toibin ist eine der spannendsten Stimmen der Gegenwartsliteratur aus Irland. Frei von Sentimentalität und Klischees zeichnet er hier Figuren, die sich dem Tod eines geliebten Menschen oder der Enthüllung eines so schrecklichen Geheimnisses wie Kindesmissbrauch zu nähern versuchen.
Geschichten von Menschen, die mit ihrem Leben zurechtkommen müssen, nachdem etwas passiert ist: Die Söhne in Toibins erstem Erzählungsband sind Diebe, Priester, Bauern, die Mütter Folksängerinnen, Alkoholikerinnen oder Geschäftsfrauen, aber alle unterhalten hochkomplizierte Beziehungen zueinander. Der hochgerühmte Autor Colm Toibin ist eine der spannendsten Stimmen der Gegenwartsliteratur aus Irland. Frei von Sentimentalität und Klischees zeichnet er hier Figuren, die sich dem Tod eines geliebten Menschen oder der Enthüllung eines so schrecklichen Geheimnisses wie Kindesmissbrauch zu nähern versuchen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.06.2009Die Hand unterm Hemd
Familiengeschichten sind die wunderbaren Erzählungen in Colm Toíbíns erstem Story-Band nur im weitesten Sinn. Sie handeln von Leere und Verlust.
Von Verena Lueken
Wenn ein Buch "Mütter und Söhne" heißt, liegt es nahe, Geschichten über Beziehungen zu erwarten, über schwierige, unauflösliche, ausnahmsweise vielleicht geglückte, möglicherweise traurige, auf jeden Fall existentielle Bindungen. Gefühle also, Affekte, Psychologie. In Colm Toíbíns Geschichten über Mütter und Söhne geht es um fast all dies auch. Außer um die Psychologie. Und damit fällt alles Erwartbare aus. Jedes Klischee, jedes Raster, Schema oder jede Typologie. An ihre Stelle treten ganz eigene, auch eigentümliche Geschichten, in denen Mütter und Söhne vorkommen, aber nicht unbedingt am selben Ort und nicht unbedingt so, dass ihre Beziehung zueinander im Mittelpunkt stünde. Und der Erzähler ist nicht notwendig auf Seiten der Söhne, nicht einmal immer in ihrer Nähe.
Die Söhne sind Kriminelle, Musiker, Priester oder Schäfer, die Mütter Sängerinnen, Bäuerinnen, Trinkerinnen, tot oder nicht da. Dies ist kein Buch der Variationen zum Thema nicht gewählter Verbindungen. Sondern ein Buch über Leerstellen, über das, was fehlt, und zwar auf eine unausweichliche Art. Es sind minimalistische Geschichten. Großartig erfunden, wunderbar geschrieben, so dass sich die Erzählung wie ein Schleier um das Erzählte legt, und wir durch die Sprache hindurch auf die Figuren, ihre Umgebung und ihre Handlungen schauen und erst langsam zu spüren beginnen, dass es der Verlust ist, der ihnen allen gemeinsam ist. Dass Toíbín davon erzählt, was nicht da ist, und sich vorstellt, was da, wo nichts ist, geschehen könnte. Er erzählt zum Beispiel, wie ein Sohn, dessen Mutter die Familie verlassen hat, um ihre Laufbahn als Sängerin zu verfolgen, die Mutter eines Abends, Jahre später, trifft und sich nicht zu erkennen gibt. Wie eine Mutter ihren Sohn bei den Beileidsbesuchen nach dem Tod der Großmutter beobachtet, deren ein und alles dieser Enkel gewesen war, und wie die Mutter nicht weiß, ob sie Trauer sieht oder Erleichterung oder vielleicht überhaupt kein Gefühl. Wie eine Mutter, deren Priestersohn vermutlich ein Kinderschänder ist, zum Bridge geht.
In der Eröffnungsgeschichte der Sammlung, "Der Gebrauch der Vernunft", steht ein Mann auf einem Balkon und schaut auf Dublin: "Die Stadt war eine große Leere", das ist der erste Satz dieses Buchs, und eine große Leere grundiert auch die folgenden Erzählungen. Sie spielen auf Landstraßen oder in dunklen, verschatteten Räumen, an den Rändern von Orten, die ihrerseits im Verschwinden begriffen sind, oder nächtens am Strand, und sie beginnen mit Beobachtungen, wenn nicht über die Leere, dann über die Dunkelheit, die hereinbricht, oder mit der Frage, ob die Vergangenheit, die in Gestalt alter Fotos oder Bilder oder unverrückbarer Kisten die Räume ausfüllt und die Gegenwart in Schach hält, vielleicht doch einmal ihren Schatten hebt, oder ob die Geschichte tatsächlich für immer zum Stillstand gekommen ist. Ein Zustand, der den meisten Figuren in Toíbíns Geschichten durchaus angenehm wäre.
Der Mann, der am Anfang auf Dublin schaut, ist ein Krimineller. "Er hatte ein paar Typen erschossen und einmal einen Mann erstochen, aber erwürgt hatte er noch niemanden." Das bedauert er, als er hört, dass seine Mutter regelmäßig mit einem Polizeispitzel trinkt. Seine Erinnerung an sein Leben zu Hause war eine "Leerstelle", aber er erinnert sich an ihre Besuche in der Erziehungsanstalt, in der die Ordensbrüder die Jungen züchtigten und dazu masturbierten. Toíbín erzählt von den schrecklichsten Dingen immer erst, wenn sie geschehen sind, und die Figuren sprechen, wenn überhaupt, vor allem mit sich selbst. Andere sind meistens nicht da. Oder zu fern. Die Mütter allemal. Toíbín interessiert, was dann passiert - wie die Menschen damit zurechtkommen, getötet zu haben, gequält worden zu sein, jemanden zu verlieren, allein zu sein, zurückzubleiben.
Da ist zum Beispiel die Mutter aus der längsten Erzählung des Bandes, "Ein langer Winter", fast eine Novelle. Einander nah sind hier die Brüder, von denen einer gerade vom Militärdienst zurückkommt, der andere dorthin aufbricht. Die Mutter trinkt, aber fast im selben Augenblick, in dem wir das erfahren, ist sie auch schon fortgegangen, ohne dass wir von ihr mehr wüssten als genau dies. Aber wir erfahren, wie es ist, in einem Bett zu liegen, wenn im Nachbarbett der Bruder nicht schnarcht, seine Abwesenheit den Raum füllt, welche Erinnerungen kommen und welches Glück es dann später ist, einem anderen Mann die Hand unters Hemd zu schieben und seine Körperwärme zu spüren, während dieser sagt, sei froh, dass du es hinter dir hast, dass deine Mutter tot ist und der Schmerz schon da.
Toíbín schreibt, als sei die Sprache der einzige Ort, an dem das, was verloren ist, noch zählt. Also gibt es keinen Satz, in dem es nicht darauf ankäme, nichts, was zu viel gesagt würde, aber auch nichts, was zu wenig Beachtung fände. Die Übertragung der geübten Toíbín-Übersetzer Giovanni und Ditte Bandini gibt diese Sorgfalt und den sprachlichen Reichtum auch im Deutschen wieder (obwohl auch sie häufig "sich erinnern" nicht reflexiv einsetzen, was sich immer mehr durchsetzt, aber scheußlich ist). "Alles, was gesagt wurde", heißt es in einer Geschichte, "war nur der Code für etwas anderes." Toíbín weiß, was dieses andere ist, und er erzählt davon so, dass wir es vermissen.
Colm Toíbín: Mütter und Söhne. Erzählungen. Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini. Carl Hanser Verlag, München 2009. 285 S., geb.,19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Familiengeschichten sind die wunderbaren Erzählungen in Colm Toíbíns erstem Story-Band nur im weitesten Sinn. Sie handeln von Leere und Verlust.
Von Verena Lueken
Wenn ein Buch "Mütter und Söhne" heißt, liegt es nahe, Geschichten über Beziehungen zu erwarten, über schwierige, unauflösliche, ausnahmsweise vielleicht geglückte, möglicherweise traurige, auf jeden Fall existentielle Bindungen. Gefühle also, Affekte, Psychologie. In Colm Toíbíns Geschichten über Mütter und Söhne geht es um fast all dies auch. Außer um die Psychologie. Und damit fällt alles Erwartbare aus. Jedes Klischee, jedes Raster, Schema oder jede Typologie. An ihre Stelle treten ganz eigene, auch eigentümliche Geschichten, in denen Mütter und Söhne vorkommen, aber nicht unbedingt am selben Ort und nicht unbedingt so, dass ihre Beziehung zueinander im Mittelpunkt stünde. Und der Erzähler ist nicht notwendig auf Seiten der Söhne, nicht einmal immer in ihrer Nähe.
Die Söhne sind Kriminelle, Musiker, Priester oder Schäfer, die Mütter Sängerinnen, Bäuerinnen, Trinkerinnen, tot oder nicht da. Dies ist kein Buch der Variationen zum Thema nicht gewählter Verbindungen. Sondern ein Buch über Leerstellen, über das, was fehlt, und zwar auf eine unausweichliche Art. Es sind minimalistische Geschichten. Großartig erfunden, wunderbar geschrieben, so dass sich die Erzählung wie ein Schleier um das Erzählte legt, und wir durch die Sprache hindurch auf die Figuren, ihre Umgebung und ihre Handlungen schauen und erst langsam zu spüren beginnen, dass es der Verlust ist, der ihnen allen gemeinsam ist. Dass Toíbín davon erzählt, was nicht da ist, und sich vorstellt, was da, wo nichts ist, geschehen könnte. Er erzählt zum Beispiel, wie ein Sohn, dessen Mutter die Familie verlassen hat, um ihre Laufbahn als Sängerin zu verfolgen, die Mutter eines Abends, Jahre später, trifft und sich nicht zu erkennen gibt. Wie eine Mutter ihren Sohn bei den Beileidsbesuchen nach dem Tod der Großmutter beobachtet, deren ein und alles dieser Enkel gewesen war, und wie die Mutter nicht weiß, ob sie Trauer sieht oder Erleichterung oder vielleicht überhaupt kein Gefühl. Wie eine Mutter, deren Priestersohn vermutlich ein Kinderschänder ist, zum Bridge geht.
In der Eröffnungsgeschichte der Sammlung, "Der Gebrauch der Vernunft", steht ein Mann auf einem Balkon und schaut auf Dublin: "Die Stadt war eine große Leere", das ist der erste Satz dieses Buchs, und eine große Leere grundiert auch die folgenden Erzählungen. Sie spielen auf Landstraßen oder in dunklen, verschatteten Räumen, an den Rändern von Orten, die ihrerseits im Verschwinden begriffen sind, oder nächtens am Strand, und sie beginnen mit Beobachtungen, wenn nicht über die Leere, dann über die Dunkelheit, die hereinbricht, oder mit der Frage, ob die Vergangenheit, die in Gestalt alter Fotos oder Bilder oder unverrückbarer Kisten die Räume ausfüllt und die Gegenwart in Schach hält, vielleicht doch einmal ihren Schatten hebt, oder ob die Geschichte tatsächlich für immer zum Stillstand gekommen ist. Ein Zustand, der den meisten Figuren in Toíbíns Geschichten durchaus angenehm wäre.
Der Mann, der am Anfang auf Dublin schaut, ist ein Krimineller. "Er hatte ein paar Typen erschossen und einmal einen Mann erstochen, aber erwürgt hatte er noch niemanden." Das bedauert er, als er hört, dass seine Mutter regelmäßig mit einem Polizeispitzel trinkt. Seine Erinnerung an sein Leben zu Hause war eine "Leerstelle", aber er erinnert sich an ihre Besuche in der Erziehungsanstalt, in der die Ordensbrüder die Jungen züchtigten und dazu masturbierten. Toíbín erzählt von den schrecklichsten Dingen immer erst, wenn sie geschehen sind, und die Figuren sprechen, wenn überhaupt, vor allem mit sich selbst. Andere sind meistens nicht da. Oder zu fern. Die Mütter allemal. Toíbín interessiert, was dann passiert - wie die Menschen damit zurechtkommen, getötet zu haben, gequält worden zu sein, jemanden zu verlieren, allein zu sein, zurückzubleiben.
Da ist zum Beispiel die Mutter aus der längsten Erzählung des Bandes, "Ein langer Winter", fast eine Novelle. Einander nah sind hier die Brüder, von denen einer gerade vom Militärdienst zurückkommt, der andere dorthin aufbricht. Die Mutter trinkt, aber fast im selben Augenblick, in dem wir das erfahren, ist sie auch schon fortgegangen, ohne dass wir von ihr mehr wüssten als genau dies. Aber wir erfahren, wie es ist, in einem Bett zu liegen, wenn im Nachbarbett der Bruder nicht schnarcht, seine Abwesenheit den Raum füllt, welche Erinnerungen kommen und welches Glück es dann später ist, einem anderen Mann die Hand unters Hemd zu schieben und seine Körperwärme zu spüren, während dieser sagt, sei froh, dass du es hinter dir hast, dass deine Mutter tot ist und der Schmerz schon da.
Toíbín schreibt, als sei die Sprache der einzige Ort, an dem das, was verloren ist, noch zählt. Also gibt es keinen Satz, in dem es nicht darauf ankäme, nichts, was zu viel gesagt würde, aber auch nichts, was zu wenig Beachtung fände. Die Übertragung der geübten Toíbín-Übersetzer Giovanni und Ditte Bandini gibt diese Sorgfalt und den sprachlichen Reichtum auch im Deutschen wieder (obwohl auch sie häufig "sich erinnern" nicht reflexiv einsetzen, was sich immer mehr durchsetzt, aber scheußlich ist). "Alles, was gesagt wurde", heißt es in einer Geschichte, "war nur der Code für etwas anderes." Toíbín weiß, was dieses andere ist, und er erzählt davon so, dass wir es vermissen.
Colm Toíbín: Mütter und Söhne. Erzählungen. Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini. Carl Hanser Verlag, München 2009. 285 S., geb.,19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Nach Friedhelm Rathjens Einschätzung ist das Radikalste an Colm Toibins erstem Erzählungsband, dass er darin vielleicht noch konsequenter an traditionellen Erzählmustern festhält als schon in seinen Romanen. Denn liest man Toibins zehn Geschichten, die zur Hälfte aus der Sicht einer Mutter, zur Hälfte aus der Perspektive von Söhnen in erlebter Rede erzählen, könnte man glauben, dass es seit James Joyces' "Dubliners" keine literarische Entwicklung gegeben habe, so der Rezensent. Insbesondere die Söhne der Geschichten haben das "Bemühen um Distanz" zu ihrer wichtigsten Aufgabe gemacht, und üben sich darin, möglichst wenig zu denken oder zu tun, um ihre innere Leere zu verbergen, stellt Rathjens fest. Und am Ende erkennt er in dieser Haltung auch die äußerst "raffinierte Suggestion" des Toibin'schen Erzählens, denn hinter den detailverliebten Schilderungen, den Handlungssträngen, die ins Leere führen oder dem bedeutungsheischenden "Understatement" kann der Rezensent statt Tiefsinnigkeit eben nur "Oberfläche" erkennen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Mütter und Söhne sind einander Monster der Empfindsamkeit, der Schmerz, den sie teilen, ist exquisit. Das hat Colm Toíbín in seinem kostbaren Buch gezeigt." Angelika Overath, Neue Zürcher Zeitung am Sonntag, 29.03.09
"In diesen Erzählungen sind in großer Dichte die beiden Stränge der literarischen Existenz des Autors zusammengeführt." Lothar Müller, Süddeutsche Zeitung, 28.03.09
"Ein beglückender Fall." Andreas Schäfer, Der Tagesspiegel, 19.04.09
"Traurige, doch wunderschöne Erzählungen." Marko Martin, Die Welt, 06.06.09
"Wunderbare Erzählungen." Verena Lueken, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.06.09
"In diesen Erzählungen sind in großer Dichte die beiden Stränge der literarischen Existenz des Autors zusammengeführt." Lothar Müller, Süddeutsche Zeitung, 28.03.09
"Ein beglückender Fall." Andreas Schäfer, Der Tagesspiegel, 19.04.09
"Traurige, doch wunderschöne Erzählungen." Marko Martin, Die Welt, 06.06.09
"Wunderbare Erzählungen." Verena Lueken, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.06.09