Siri Hustvedts Themen in dieser neuen, sehr persönlichen Sammlung von erstaunlichen Essays reichen von der Natur von Erinnerung und Zeit bis zu dem, was wir von unseren Eltern erben, und sie erweitern ihre bekannten Forschungsgebiete: Feminismus, Psychoanalyse, Neurowissenschaften, die Kunst, das Denken und das Schreiben. An lebendig erzählten Beispielen aus ihrer privaten Familiengeschichte und Lebenserfahrung zeigt Hustvedt, wie porös die Grenzen zwischen uns und den anderen, zwischen Kunst und Betrachter, zwischen dem Ich und der Welt sind. Und so privat diese abwechslungsreiche Reise durch die unterschiedlichsten Themenfelder erscheint, so universell ist sie letztlich - ein vorläufiges Fazit von Siri Hustvedts lebenslanger Auseinandersetzung mit der Frage, wie wir funktionieren und was uns als Menschen zusammenhält.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Literatur, Philosophie, Psychologie, Neurologie, Kunst und Kriminologie - es gibt weniges, für das sich Siri Hustvedt nicht interessiert, weiß Rezensentin Anna Vollmer. Diese Bandbreite bildet sich auch in ihrer Essay-Sammlung ab. Doch wenngleich die Rezensentin Hustvedt in deren Lob eines breit gestreuten Interesses zustimmt, hätte sie sich doch etwas mehr Einheitlichkeit und Ordnung für den vorliegenden Band gewünscht. Wenn Hustvedt etwa gerade noch ihre Familiengeschichte umrissen hat, um schließlich über den Lockdown in New York zu schreiben und anschließend Emily Brontes "Sturmhöhe" zu analysieren, folgt Vollmer diesen gewaltigen Sätzen nur mit Mühe und ein wenig widerwillig. Die einzige wirkliche Konstante scheint die Misogynie und der Sexismus zu sein, mit dem sich Hustvedt ausführlich beschäftigt hat und mit dem sie immer wieder konfrontiert wurde. Wenn sie daher wiederholt aufzählt, was sie alles weiß und erreicht hat, dann ist das keine Prahlerei, überlegt die Rezensentin, sondern ein Umgang mit der jahrelangen Unterschätzung und Unterdrückung, und ein Aufruf, sein bzw. ihr Licht nicht unter den Scheffel stellen zu lassen. Dieser Aufruf bleibt für Vollmer, genau wie viele eindrückliche Sätze, interessante Fakten und Überlegungen - trotz mangelnder Kohärenz.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.02.2023„So habe ich mich noch nie gefühlt“
Wie es ist, einen Menschen zu verlieren, der immer nur das Beste für einen wollte:
In ihrem Essayband „Mütter, Väter und Täter“ nimmt Siri Hustvedt Abschied von ihren Eltern
VON MEIKE FESSMANN
Es war eine ganz besondere Wahrnehmung, mit der Ester Vegan Hustvedt ihre Rede zum fünfzigsten Geburtstag ihrer ältesten Tochter Siri begann. Sie erzählte von den ersten Kindsbewegungen, diesem „Kitzeln im Bauch“, das dem sprichwörtlichen Schlagen von Schmetterlingsflügeln gleicht, und sie sprach von der „tiefen Freude“, die sie bei den Anzeichen ihrer ersten Schwangerschaft empfunden habe. Der 50. Geburtstag der ältesten von vier Töchtern war zugleich ihr zweiundachtzigster Geburtstag. Mutter und Tochter sind am gleichen Tag geboren, am 19. Februar. Dass wir das erfahren, hat auch mit dem Tenor dieses Essaybands zu tun.
Siri Hustvedt ist bekannt für ihre brillanten Essays, die neueste Forschungen der Neurowissenschaften, der Physik und Molekulargenetik auf ebenso elegante Weise in die Argumentation integrieren wie Erkenntnisse der Philosophie und Psychoanalyse. Und sie ist bekannt für ihre multiperspektivischen Romane, die Fiktion und Realität zu einer schillernden Doppel-Helix verdrehen. Ihre Essays sind immer aus der Ich-Perspektive geschrieben.
Der neueste Essayband setzt den Akzent noch deutlicher als sonst auf autobiografische Erfahrungen. Die Themen sind nah am weiblichen Körper ausgerichtet, an seiner Verletzlichkeit, dem Altern und der Beziehung zu anderen Personen. Auch wo die Covid-19-Pandemie nur am Rande vorkommt, ordnet sie die Geschehnisse in ein Davor und Danach. Etwa im erleichterten Stoßseufzer, dass die Mutter noch vor der Pandemie gestorben ist, am 12. Oktober 2019. Ihre Töchter konnten sie beim Sterben begleiten.
Unser Leben spielt sich in Relationen ab. Alles, was wir sind, hat mit Beziehungen zu tun. Wir sind nichts ohne andere. So lässt sich die Haltung des Bandes zusammenfassen. Im 2021 erschienenen Original heißt er „Mothers, Fathers, and Others“. Der deutsche Titel, „Mütter, Väter und Täter“, ist etwas unglücklich gewählt. Als hätte niemand im Verlag die Essays tatsächlich gelesen, geht er zugunsten eines gängigen Klischees an der Sache vorbei.
Dabei ist die Referenz des Originaltitels deutlich. Er bezieht sich auf das Buch „Mothers and Others“ („Mütter und andere“) von der amerikanischen Anthropologin und Soziobiologin Sarah Blaffer Hrdy, in dem sie die Idee der „kooperativen Aufzucht“ entwickelte und Fürsorge und Zuwendung als kollektives Geschehen aufwertete. „Mothers, Fathers, and Others“ kreist um die empfindliche Lebensphase, in der eine erwachsene Person, die ihre Eltern liebte, begreifen muss, dass beide tot sind. Siri Hustvedts Vater, der US-amerikanische Skandinavist Lloyd Hustvedt, starb 2004. Sie hat öfter über ihn geschrieben, etwa in ihrem Buch „Die zitternde Frau“, in dem sie das unkontrollierbare Zittern, das sie bei ihrer Gedenkrede auf ihn überfiel, als eine Art Sonde benutzte, um die Brauchbarkeit neurologischer und psychologischer Modelle zu überprüfen. Sie hat lange um seine Aufmerksamkeit gekämpft.
Nun schildert sie, wie sich das Verhältnis zur Mutter nach dem Tod des Vaters veränderte und wie die Liebe zu ihr von „Bewunderung“ und „Freundschaft verfeinert wurde“. Dabei erfasst sie den besonderen Echoraum, wenn sich Mütter und Töchter aufeinander beziehen, eine Rückkopplungsschleife der Empathie, die ebenso schmerzhaft wie hilfreich sein kann.
„Ein Spaziergang mit meiner Mutter“ ist das im Pandemie-Sommer 2020 geschriebene Herzstück des Buches. Es betont die Bedeutung mütterlicher Empathie: „Ich wusste, sie wollte für mich, was ich wirklich für mich selbst wollte, auch wenn ihre Wünsche mit meinen nicht identisch waren. Als ihre eigene Mutter starb, sagte sie zu mir: ‚Es ist seltsam, einen Menschen zu verlieren, der immer nur das Beste für einen wollte.‘ Dieses Nur-das-Beste-Wollen ist Empathie. Empathie ist nicht der andere sein. Es ist sich in den anderen einfühlen. Die Philosophin Edith Stein nannte Empathie ‚eine Fremderfahrung‘. Empathie erkennt Verschiedenheit an. Ich spüre den Verlust der Empathie meiner Mutter.“ Beide Eltern haben norwegische Wurzeln. Während sie die Mutter als eine stets zum Lachen neigende Person darstellt, sie hatte ein „ausgeprägtes Gefühl für Freiheit, Glück, Vollkommenheit“, neigte der Vater zu übertriebener Planung und Kontrolle, etwa bei den Familienurlauben. Als eines Tages auf der Rückreise nach Minnesota kurz vor dem Ziel das Auto stehen blieb, rettete die Mutter durch ihr Gelächter die Situation. Es ist ein bewegendes Porträt, das Siri Hustvedt entwirft, während sie die verschiedenen Facetten der Person schillern lässt.
„Meine Mutter war stolz, eitel und leistungsorientiert“ kann da auf der einen Seite stehen, während wir auf der nächsten lesen: „Die Gegenwart meiner Mutter war Trost, Sicherheit, Glück.“ Und welch eine Vignette aus Trotz und Sensibilität, wenn sie den letzten Lebenstag der Mutter schildert, als die Sechsundneunzigjährige mit geballten Fäusten neben der Tochter auf der Bettkante sitzt und sich weigert, sich hinzulegen: „Was ist mit mir? So habe ich mich noch nie gefühlt.“
Der Gang der Mutter wird zu einem ihrer Wesensmerkmale. Wer Siri Hustvedts autofiktionalen Roman „Damals“ („Memories of the Future“) kennt, erinnert sich vielleicht an die schöne Formulierung, als die alternde Mutter zur Tochter sagt: „Ich vermisse meinen federnden Gang“. Die Rhythmik ihrer Prosa kommt in der Belletristik besser zur Geltung, in manchen Momenten sind die Essays ein matter Widerschein der sprachlich vitaleren Romane.
Grandios aber auch der Essay über Louise Bourgeois und ihre manipulativen Spiele mit autobiografischen Lockmitteln, die sie den erstaunten Kunstdeutern im Lauf ihres Lebens mit großer Geste hinschleuderte. Jahrzehntelang hatte sie sich darüber geärgert, nur als die Kunst treibende Frau eines berühmten Kunsthistorikers betrachtet zu werden, deren Werk mit banalisierten Psycho-Deutungen zugekleistert wurde. Hustvedts Roman „Die gleißende Welt“ ist ein raffiniert verspiegeltes Porträt von Louise Bourgeois, die sie mit Recht als Künstlerin intimer Abhängigkeiten charakterisiert, deren Werk „den ungemütlichen Intimbereich des Weiblichen heraufbeschwört“. Bis auf den Essay „Die Sindbad-Variationen: eine Stilübung“, der 2011 in einer spanischen und einer französischen Ausgabe erschienen ist, stammen alle der insgesamt zwanzig Essays und Reden aus den Jahren 2016-2020, die meisten aus dem Jahr 2020, darunter zwei Essays über die Pandemie. Weibliche Wut ist eine der Energiequellen. Sei es die Wut von Tillie, der Großmutter väterlicherseits, die, obwohl in den USA geboren, einen beinahe unverständlichen norwegischen Dialekt sprach und als „grantig, dick und furchterregend“ beschrieben wird.
Oder sei es die Wut von Louise Bourgeois oder die der Schriftstellerin selbst, wenn sie sich bei Lesungen über die absurde Unterstellung ärgert, ihr Mann Paul Auster, Vater ihrer Tochter Sophie, sei der intellektuelle, sie die emotionale Schriftstellerin. Den Dualismus von Mann und Frau hält sie wie alle Dualismen ohnehin für falsch. Wir alle sind „Mischwesen“, betont sie, von Mikroben bewohnt und mit der Plazenta als übersehener Vermittlerin in einem weiblichen Körper herangereift. Dass das „sprachlose Reich des Mutterleibs“ in der westlichen Kultur verdrängt wird, betrachtet sie zu Recht als „spektakulär“.
„Was will der Mann?“ schildert furios die unterschwellige Misogynie in der gefeierten Entdeckung der Gene. Der Glaube, dass es der Bauplan alleine sei, aus dem wie durch ein Wunder neues Leben entsteht, ist längst durch die Epigenetik widerlegt. Der Körper der Mutter ist die natürliche Umwelt des Fötus, auch wenn aus ihm später einmal ein Mann werden wird. Zwischen Tod und Geburt strecken diese Essays die Fühler aus, sie bewegen sich in der verletzlichen Sphäre eines Zwischenreichs: den eigenen Eltern noch zugewandt, aber schon als Älteste in der Generationenfolge. „Ich will nicht sterben“, schreibt Hustvedt. Dennoch sei sie glücklich, dass sie und ihr Mann bereits eine Grabstätte haben: auf dem Green-Wood Cemetery in Brooklyn.
Alles, was wir sind, hat mit
Beziehungen zu tun, wir sind
nichts ohne andere
Den Dualismus von Mann
und Frau hält sie für falsch,
wie alle Dualismen
Siri Hustvedt: Mütter, Väter und Täter. Essays. Aus dem Englischen von Uli Aumüller und Grete Osterwald. Rowohlt Verlag, Hamburg 2023.
448 Seiten, 28 Euro.
Verwebt in ihren Essays unter anderem Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften, der Molekulargenetik und der Psychoanalyse: die amerikanische Autorin Siri Hustvedt.
Foto: Miquel Llop/imago/ZUMA Press
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Wie es ist, einen Menschen zu verlieren, der immer nur das Beste für einen wollte:
In ihrem Essayband „Mütter, Väter und Täter“ nimmt Siri Hustvedt Abschied von ihren Eltern
VON MEIKE FESSMANN
Es war eine ganz besondere Wahrnehmung, mit der Ester Vegan Hustvedt ihre Rede zum fünfzigsten Geburtstag ihrer ältesten Tochter Siri begann. Sie erzählte von den ersten Kindsbewegungen, diesem „Kitzeln im Bauch“, das dem sprichwörtlichen Schlagen von Schmetterlingsflügeln gleicht, und sie sprach von der „tiefen Freude“, die sie bei den Anzeichen ihrer ersten Schwangerschaft empfunden habe. Der 50. Geburtstag der ältesten von vier Töchtern war zugleich ihr zweiundachtzigster Geburtstag. Mutter und Tochter sind am gleichen Tag geboren, am 19. Februar. Dass wir das erfahren, hat auch mit dem Tenor dieses Essaybands zu tun.
Siri Hustvedt ist bekannt für ihre brillanten Essays, die neueste Forschungen der Neurowissenschaften, der Physik und Molekulargenetik auf ebenso elegante Weise in die Argumentation integrieren wie Erkenntnisse der Philosophie und Psychoanalyse. Und sie ist bekannt für ihre multiperspektivischen Romane, die Fiktion und Realität zu einer schillernden Doppel-Helix verdrehen. Ihre Essays sind immer aus der Ich-Perspektive geschrieben.
Der neueste Essayband setzt den Akzent noch deutlicher als sonst auf autobiografische Erfahrungen. Die Themen sind nah am weiblichen Körper ausgerichtet, an seiner Verletzlichkeit, dem Altern und der Beziehung zu anderen Personen. Auch wo die Covid-19-Pandemie nur am Rande vorkommt, ordnet sie die Geschehnisse in ein Davor und Danach. Etwa im erleichterten Stoßseufzer, dass die Mutter noch vor der Pandemie gestorben ist, am 12. Oktober 2019. Ihre Töchter konnten sie beim Sterben begleiten.
Unser Leben spielt sich in Relationen ab. Alles, was wir sind, hat mit Beziehungen zu tun. Wir sind nichts ohne andere. So lässt sich die Haltung des Bandes zusammenfassen. Im 2021 erschienenen Original heißt er „Mothers, Fathers, and Others“. Der deutsche Titel, „Mütter, Väter und Täter“, ist etwas unglücklich gewählt. Als hätte niemand im Verlag die Essays tatsächlich gelesen, geht er zugunsten eines gängigen Klischees an der Sache vorbei.
Dabei ist die Referenz des Originaltitels deutlich. Er bezieht sich auf das Buch „Mothers and Others“ („Mütter und andere“) von der amerikanischen Anthropologin und Soziobiologin Sarah Blaffer Hrdy, in dem sie die Idee der „kooperativen Aufzucht“ entwickelte und Fürsorge und Zuwendung als kollektives Geschehen aufwertete. „Mothers, Fathers, and Others“ kreist um die empfindliche Lebensphase, in der eine erwachsene Person, die ihre Eltern liebte, begreifen muss, dass beide tot sind. Siri Hustvedts Vater, der US-amerikanische Skandinavist Lloyd Hustvedt, starb 2004. Sie hat öfter über ihn geschrieben, etwa in ihrem Buch „Die zitternde Frau“, in dem sie das unkontrollierbare Zittern, das sie bei ihrer Gedenkrede auf ihn überfiel, als eine Art Sonde benutzte, um die Brauchbarkeit neurologischer und psychologischer Modelle zu überprüfen. Sie hat lange um seine Aufmerksamkeit gekämpft.
Nun schildert sie, wie sich das Verhältnis zur Mutter nach dem Tod des Vaters veränderte und wie die Liebe zu ihr von „Bewunderung“ und „Freundschaft verfeinert wurde“. Dabei erfasst sie den besonderen Echoraum, wenn sich Mütter und Töchter aufeinander beziehen, eine Rückkopplungsschleife der Empathie, die ebenso schmerzhaft wie hilfreich sein kann.
„Ein Spaziergang mit meiner Mutter“ ist das im Pandemie-Sommer 2020 geschriebene Herzstück des Buches. Es betont die Bedeutung mütterlicher Empathie: „Ich wusste, sie wollte für mich, was ich wirklich für mich selbst wollte, auch wenn ihre Wünsche mit meinen nicht identisch waren. Als ihre eigene Mutter starb, sagte sie zu mir: ‚Es ist seltsam, einen Menschen zu verlieren, der immer nur das Beste für einen wollte.‘ Dieses Nur-das-Beste-Wollen ist Empathie. Empathie ist nicht der andere sein. Es ist sich in den anderen einfühlen. Die Philosophin Edith Stein nannte Empathie ‚eine Fremderfahrung‘. Empathie erkennt Verschiedenheit an. Ich spüre den Verlust der Empathie meiner Mutter.“ Beide Eltern haben norwegische Wurzeln. Während sie die Mutter als eine stets zum Lachen neigende Person darstellt, sie hatte ein „ausgeprägtes Gefühl für Freiheit, Glück, Vollkommenheit“, neigte der Vater zu übertriebener Planung und Kontrolle, etwa bei den Familienurlauben. Als eines Tages auf der Rückreise nach Minnesota kurz vor dem Ziel das Auto stehen blieb, rettete die Mutter durch ihr Gelächter die Situation. Es ist ein bewegendes Porträt, das Siri Hustvedt entwirft, während sie die verschiedenen Facetten der Person schillern lässt.
„Meine Mutter war stolz, eitel und leistungsorientiert“ kann da auf der einen Seite stehen, während wir auf der nächsten lesen: „Die Gegenwart meiner Mutter war Trost, Sicherheit, Glück.“ Und welch eine Vignette aus Trotz und Sensibilität, wenn sie den letzten Lebenstag der Mutter schildert, als die Sechsundneunzigjährige mit geballten Fäusten neben der Tochter auf der Bettkante sitzt und sich weigert, sich hinzulegen: „Was ist mit mir? So habe ich mich noch nie gefühlt.“
Der Gang der Mutter wird zu einem ihrer Wesensmerkmale. Wer Siri Hustvedts autofiktionalen Roman „Damals“ („Memories of the Future“) kennt, erinnert sich vielleicht an die schöne Formulierung, als die alternde Mutter zur Tochter sagt: „Ich vermisse meinen federnden Gang“. Die Rhythmik ihrer Prosa kommt in der Belletristik besser zur Geltung, in manchen Momenten sind die Essays ein matter Widerschein der sprachlich vitaleren Romane.
Grandios aber auch der Essay über Louise Bourgeois und ihre manipulativen Spiele mit autobiografischen Lockmitteln, die sie den erstaunten Kunstdeutern im Lauf ihres Lebens mit großer Geste hinschleuderte. Jahrzehntelang hatte sie sich darüber geärgert, nur als die Kunst treibende Frau eines berühmten Kunsthistorikers betrachtet zu werden, deren Werk mit banalisierten Psycho-Deutungen zugekleistert wurde. Hustvedts Roman „Die gleißende Welt“ ist ein raffiniert verspiegeltes Porträt von Louise Bourgeois, die sie mit Recht als Künstlerin intimer Abhängigkeiten charakterisiert, deren Werk „den ungemütlichen Intimbereich des Weiblichen heraufbeschwört“. Bis auf den Essay „Die Sindbad-Variationen: eine Stilübung“, der 2011 in einer spanischen und einer französischen Ausgabe erschienen ist, stammen alle der insgesamt zwanzig Essays und Reden aus den Jahren 2016-2020, die meisten aus dem Jahr 2020, darunter zwei Essays über die Pandemie. Weibliche Wut ist eine der Energiequellen. Sei es die Wut von Tillie, der Großmutter väterlicherseits, die, obwohl in den USA geboren, einen beinahe unverständlichen norwegischen Dialekt sprach und als „grantig, dick und furchterregend“ beschrieben wird.
Oder sei es die Wut von Louise Bourgeois oder die der Schriftstellerin selbst, wenn sie sich bei Lesungen über die absurde Unterstellung ärgert, ihr Mann Paul Auster, Vater ihrer Tochter Sophie, sei der intellektuelle, sie die emotionale Schriftstellerin. Den Dualismus von Mann und Frau hält sie wie alle Dualismen ohnehin für falsch. Wir alle sind „Mischwesen“, betont sie, von Mikroben bewohnt und mit der Plazenta als übersehener Vermittlerin in einem weiblichen Körper herangereift. Dass das „sprachlose Reich des Mutterleibs“ in der westlichen Kultur verdrängt wird, betrachtet sie zu Recht als „spektakulär“.
„Was will der Mann?“ schildert furios die unterschwellige Misogynie in der gefeierten Entdeckung der Gene. Der Glaube, dass es der Bauplan alleine sei, aus dem wie durch ein Wunder neues Leben entsteht, ist längst durch die Epigenetik widerlegt. Der Körper der Mutter ist die natürliche Umwelt des Fötus, auch wenn aus ihm später einmal ein Mann werden wird. Zwischen Tod und Geburt strecken diese Essays die Fühler aus, sie bewegen sich in der verletzlichen Sphäre eines Zwischenreichs: den eigenen Eltern noch zugewandt, aber schon als Älteste in der Generationenfolge. „Ich will nicht sterben“, schreibt Hustvedt. Dennoch sei sie glücklich, dass sie und ihr Mann bereits eine Grabstätte haben: auf dem Green-Wood Cemetery in Brooklyn.
Alles, was wir sind, hat mit
Beziehungen zu tun, wir sind
nichts ohne andere
Den Dualismus von Mann
und Frau hält sie für falsch,
wie alle Dualismen
Siri Hustvedt: Mütter, Väter und Täter. Essays. Aus dem Englischen von Uli Aumüller und Grete Osterwald. Rowohlt Verlag, Hamburg 2023.
448 Seiten, 28 Euro.
Verwebt in ihren Essays unter anderem Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften, der Molekulargenetik und der Psychoanalyse: die amerikanische Autorin Siri Hustvedt.
Foto: Miquel Llop/imago/ZUMA Press
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.04.2023Ihr Kopf ist randvoll mit Gehirntattoos
Kompetenz ist keine Frage des Geschlechts: Siri Hustvedt legt eine ziemlich bunte Essay-Sammlung vor.
Von Anna Vollmer
Es ist schwer zu sagen, wofür Siri Hustvedt sich nicht interessiert. Die amerikanische Autorin hat einen Doktortitel in Literaturwissenschaften und sich eine zweite Karriere in den Neurowissenschaften aufgebaut. Sie fährt zu Kongressen und hat einen Lehrauftrag in Psychiatrie an der Cornell University. Ihre Essays, von denen nun eine neue Sammlung unter dem Titel "Mütter, Väter und Täter" erschienen ist, beschäftigen sich mit Philosophie, Kunst, Biologie, Psychoanalyse, True Crime und Literatur. Das ist eine ganze Menge, und so interessant vieles von dem ist, was Hustvedt zu sagen hat - das Gesamtpaket erscheint mitunter seltsam unzusammenhängend. Das merkt man schon daran, dass der Titel der Sammlung für viele der Essays ungeeignet ist, der deutsche noch mehr als der englische "Mothers, Fathers, and Others". Die Bandbreite von Hustvedts Wissen ist ihre große Stärke, sie ist tatsächlich in mancher Hinsicht die "intellektuelle Vagabundin", als die sie sich in einem dieser Essays selbst bezeichnet. Sie beschreibt darin die Vorzüge eines breit gestreuten Interesses, das verschiedene Themen miteinander in Schwingung versetzt. Wenn man etwa als Geisteswissenschaftlerin auf die Naturwissenschaften schaut und scheinbare Gewissheiten hinterfragt, könne das durchaus produktiv sein. Allerdings richtet sich gerade die Bandbreite der Beiträge an vollkommen unterschiedliche Leser. Denn die Texte sind nicht nur inhaltlich, sondern auch formal so verschieden, dass man den Sprüngen manchmal nur widerwillig folgen mag. Gerade ist man in Hustvedts Familiengeschichte eingestiegen, da folgt schon ein kurzer Artikel zum New Yorker Lockdown und wenig später ein über vierzigseitiges Close Reading von Emily Brontes "Sturmhöhe". Da Hustvedt, indem sie bestimmte Motive immer wieder aufgreift, so etwas wie einen thematischen Zusammenhang signalisiert, hätte etwas mehr Ordnung gut getan. Wenn es so etwas wie einen roten Faden in dem Buch gibt, ist es Hustvedts lebenslange Beschäftigung mit Misogynie. Sie schreibt: "Ich habe alles, was ich zu dem Thema auftreiben konnte, gelesen." Sie erzählt die Geschichte ihrer Großmutter, weil in Familienerzählungen nur Platz für die Männer war. Sie fragt sich, woher der Hass kommt, der Frauen seit Jahrhunderten entgegenschlägt. Sie schildert einen Kriminalfall, bei dem ein Mädchen zu Tode gequält wurde, und fragt sich, was das mit ihrer Jugend und Jungfräulichkeit zu tun hatte. Und sie beschreibt, wie sie selbst ihr ganzes Leben lang unterschätzt wurde. Wohl auch deshalb wird sie nicht müde zu betonen, welche Vorträge sie gehalten, welche Essays sie geschrieben hat, die Dinge aufzuzählen, über die sie ja in der Tat ausgesprochen viel weiß. Das kann schnell angeberisch wirken. Ist es das? Oder eher eine Reaktion auf die intellektuelle Zurückweisung, die sie erlebt hat? Ihr Vater, ein Professor, weist sie darauf hin, dass sich ihre Doktorarbeit nicht wie eine solche lese. Und sagt: "Ich bin nicht sicher, ob du wirklich Professorin werden willst." In einem Philosophieseminar stößt sie allein durch ihre Anwesenheit auf Ablehnung: "Es kam mir vor, als hätte ich einen üblen Geruch in den Raum geweht." Solche Anekdoten lesen sich bedrückend. Deshalb sind Hustvedts ständige Erinnerungen an das, was sie erreicht hat, zugleich ein engagiertes Plädoyer: dafür, sich die eigenen Fähigkeiten nicht aufgrund des Geschlechts absprechen zu lassen. "Gehirntattoos" nennt Hustvedt Sätze, die ein Leben lang hängen bleiben. Sie liefert viele davon, die meisten entstehen in Zusammenhang mit ihrem Mann, dem amerikanischen Schriftsteller Paul Auster. Er wiederum ist keiner, der seine Frau kleinhält. Er preist sie als seine erste, seine klügste Leserin. Die Öffentlichkeit scheint davon jedoch unbeeindruckt zu bleiben. Immer wieder wird Hustvedt darauf hingewiesen, sie habe ihre Kenntnisse in den Neurowissenschaften und der Psychoanalyse doch nur von ihrem Mann. Sie sagt dann: "Mr. Auster hat noch nie im Leben einen neurowissenschaftlichen Artikel gelesen." Siri Hustvedt schon. Viele ihrer Essays sind instruktiv und handeln von Themen, die Romanautorinnen nur selten so informiert erörtern. Deshalb werden auch jene Leser, die sich bei der Zusammenstellung des Bandes etwas mehr Kohärenz gewünscht hätten, von Hustvedts Selbstbewusstsein, über diese Dinge zu schreiben, eingenommen sein. Siri Hustvedt: "Mütter, Väter und Täter". Essays. Aus dem Englischen von Uli Aumüller und Grete Osterwald. Rowohlt Verlag, Hamburg 2023. 448 S., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kompetenz ist keine Frage des Geschlechts: Siri Hustvedt legt eine ziemlich bunte Essay-Sammlung vor.
Von Anna Vollmer
Es ist schwer zu sagen, wofür Siri Hustvedt sich nicht interessiert. Die amerikanische Autorin hat einen Doktortitel in Literaturwissenschaften und sich eine zweite Karriere in den Neurowissenschaften aufgebaut. Sie fährt zu Kongressen und hat einen Lehrauftrag in Psychiatrie an der Cornell University. Ihre Essays, von denen nun eine neue Sammlung unter dem Titel "Mütter, Väter und Täter" erschienen ist, beschäftigen sich mit Philosophie, Kunst, Biologie, Psychoanalyse, True Crime und Literatur. Das ist eine ganze Menge, und so interessant vieles von dem ist, was Hustvedt zu sagen hat - das Gesamtpaket erscheint mitunter seltsam unzusammenhängend. Das merkt man schon daran, dass der Titel der Sammlung für viele der Essays ungeeignet ist, der deutsche noch mehr als der englische "Mothers, Fathers, and Others". Die Bandbreite von Hustvedts Wissen ist ihre große Stärke, sie ist tatsächlich in mancher Hinsicht die "intellektuelle Vagabundin", als die sie sich in einem dieser Essays selbst bezeichnet. Sie beschreibt darin die Vorzüge eines breit gestreuten Interesses, das verschiedene Themen miteinander in Schwingung versetzt. Wenn man etwa als Geisteswissenschaftlerin auf die Naturwissenschaften schaut und scheinbare Gewissheiten hinterfragt, könne das durchaus produktiv sein. Allerdings richtet sich gerade die Bandbreite der Beiträge an vollkommen unterschiedliche Leser. Denn die Texte sind nicht nur inhaltlich, sondern auch formal so verschieden, dass man den Sprüngen manchmal nur widerwillig folgen mag. Gerade ist man in Hustvedts Familiengeschichte eingestiegen, da folgt schon ein kurzer Artikel zum New Yorker Lockdown und wenig später ein über vierzigseitiges Close Reading von Emily Brontes "Sturmhöhe". Da Hustvedt, indem sie bestimmte Motive immer wieder aufgreift, so etwas wie einen thematischen Zusammenhang signalisiert, hätte etwas mehr Ordnung gut getan. Wenn es so etwas wie einen roten Faden in dem Buch gibt, ist es Hustvedts lebenslange Beschäftigung mit Misogynie. Sie schreibt: "Ich habe alles, was ich zu dem Thema auftreiben konnte, gelesen." Sie erzählt die Geschichte ihrer Großmutter, weil in Familienerzählungen nur Platz für die Männer war. Sie fragt sich, woher der Hass kommt, der Frauen seit Jahrhunderten entgegenschlägt. Sie schildert einen Kriminalfall, bei dem ein Mädchen zu Tode gequält wurde, und fragt sich, was das mit ihrer Jugend und Jungfräulichkeit zu tun hatte. Und sie beschreibt, wie sie selbst ihr ganzes Leben lang unterschätzt wurde. Wohl auch deshalb wird sie nicht müde zu betonen, welche Vorträge sie gehalten, welche Essays sie geschrieben hat, die Dinge aufzuzählen, über die sie ja in der Tat ausgesprochen viel weiß. Das kann schnell angeberisch wirken. Ist es das? Oder eher eine Reaktion auf die intellektuelle Zurückweisung, die sie erlebt hat? Ihr Vater, ein Professor, weist sie darauf hin, dass sich ihre Doktorarbeit nicht wie eine solche lese. Und sagt: "Ich bin nicht sicher, ob du wirklich Professorin werden willst." In einem Philosophieseminar stößt sie allein durch ihre Anwesenheit auf Ablehnung: "Es kam mir vor, als hätte ich einen üblen Geruch in den Raum geweht." Solche Anekdoten lesen sich bedrückend. Deshalb sind Hustvedts ständige Erinnerungen an das, was sie erreicht hat, zugleich ein engagiertes Plädoyer: dafür, sich die eigenen Fähigkeiten nicht aufgrund des Geschlechts absprechen zu lassen. "Gehirntattoos" nennt Hustvedt Sätze, die ein Leben lang hängen bleiben. Sie liefert viele davon, die meisten entstehen in Zusammenhang mit ihrem Mann, dem amerikanischen Schriftsteller Paul Auster. Er wiederum ist keiner, der seine Frau kleinhält. Er preist sie als seine erste, seine klügste Leserin. Die Öffentlichkeit scheint davon jedoch unbeeindruckt zu bleiben. Immer wieder wird Hustvedt darauf hingewiesen, sie habe ihre Kenntnisse in den Neurowissenschaften und der Psychoanalyse doch nur von ihrem Mann. Sie sagt dann: "Mr. Auster hat noch nie im Leben einen neurowissenschaftlichen Artikel gelesen." Siri Hustvedt schon. Viele ihrer Essays sind instruktiv und handeln von Themen, die Romanautorinnen nur selten so informiert erörtern. Deshalb werden auch jene Leser, die sich bei der Zusammenstellung des Bandes etwas mehr Kohärenz gewünscht hätten, von Hustvedts Selbstbewusstsein, über diese Dinge zu schreiben, eingenommen sein. Siri Hustvedt: "Mütter, Väter und Täter". Essays. Aus dem Englischen von Uli Aumüller und Grete Osterwald. Rowohlt Verlag, Hamburg 2023. 448 S., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein literarischer Blockbuster für sich verdunkelnde Zeiten. Stefan ; Eva-Maria Kister ; Manz Stuttgarter Nachrichten 20231209