Siri Hustvedts Themen in dieser neuen, sehr persönlichen Sammlung von erstaunlichen Essays reichen von der Natur von Erinnerung und Zeit bis zu dem, was wir von unseren Eltern erben, und sie erweitern ihre bekannten Forschungsgebiete: Feminismus, Psychoanalyse, Neurowissenschaften, die Kunst, das Denken und das Schreiben. An lebendig erzählten Beispielen aus ihrer privaten Familiengeschichte und Lebenserfahrung zeigt Hustvedt, wie porös die Grenzen zwischen uns und den anderen, zwischen Kunst und Betrachter, zwischen dem Ich und der Welt sind. Und so privat diese abwechslungsreiche Reise durch die unterschiedlichsten Themenfelder erscheint, so universell ist sie letztlich - ein vorläufiges Fazit von Siri Hustvedts lebenslanger Auseinandersetzung mit der Frage, wie wir funktionieren und was uns als Menschen zusammenhält.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Literatur, Philosophie, Psychologie, Neurologie, Kunst und Kriminologie - es gibt weniges, für das sich Siri Hustvedt nicht interessiert, weiß Rezensentin Anna Vollmer. Diese Bandbreite bildet sich auch in ihrer Essay-Sammlung ab. Doch wenngleich die Rezensentin Hustvedt in deren Lob eines breit gestreuten Interesses zustimmt, hätte sie sich doch etwas mehr Einheitlichkeit und Ordnung für den vorliegenden Band gewünscht. Wenn Hustvedt etwa gerade noch ihre Familiengeschichte umrissen hat, um schließlich über den Lockdown in New York zu schreiben und anschließend Emily Brontes "Sturmhöhe" zu analysieren, folgt Vollmer diesen gewaltigen Sätzen nur mit Mühe und ein wenig widerwillig. Die einzige wirkliche Konstante scheint die Misogynie und der Sexismus zu sein, mit dem sich Hustvedt ausführlich beschäftigt hat und mit dem sie immer wieder konfrontiert wurde. Wenn sie daher wiederholt aufzählt, was sie alles weiß und erreicht hat, dann ist das keine Prahlerei, überlegt die Rezensentin, sondern ein Umgang mit der jahrelangen Unterschätzung und Unterdrückung, und ein Aufruf, sein bzw. ihr Licht nicht unter den Scheffel stellen zu lassen. Dieser Aufruf bleibt für Vollmer, genau wie viele eindrückliche Sätze, interessante Fakten und Überlegungen - trotz mangelnder Kohärenz.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.04.2023Ihr Kopf ist randvoll mit Gehirntattoos
Kompetenz ist keine Frage des Geschlechts: Siri Hustvedt legt eine ziemlich bunte Essay-Sammlung vor.
Von Anna Vollmer
Es ist schwer zu sagen, wofür Siri Hustvedt sich nicht interessiert. Die amerikanische Autorin hat einen Doktortitel in Literaturwissenschaften und sich eine zweite Karriere in den Neurowissenschaften aufgebaut. Sie fährt zu Kongressen und hat einen Lehrauftrag in Psychiatrie an der Cornell University. Ihre Essays, von denen nun eine neue Sammlung unter dem Titel "Mütter, Väter und Täter" erschienen ist, beschäftigen sich mit Philosophie, Kunst, Biologie, Psychoanalyse, True Crime und Literatur. Das ist eine ganze Menge, und so interessant vieles von dem ist, was Hustvedt zu sagen hat - das Gesamtpaket erscheint mitunter seltsam unzusammenhängend. Das merkt man schon daran, dass der Titel der Sammlung für viele der Essays ungeeignet ist, der deutsche noch mehr als der englische "Mothers, Fathers, and Others". Die Bandbreite von Hustvedts Wissen ist ihre große Stärke, sie ist tatsächlich in mancher Hinsicht die "intellektuelle Vagabundin", als die sie sich in einem dieser Essays selbst bezeichnet. Sie beschreibt darin die Vorzüge eines breit gestreuten Interesses, das verschiedene Themen miteinander in Schwingung versetzt. Wenn man etwa als Geisteswissenschaftlerin auf die Naturwissenschaften schaut und scheinbare Gewissheiten hinterfragt, könne das durchaus produktiv sein. Allerdings richtet sich gerade die Bandbreite der Beiträge an vollkommen unterschiedliche Leser. Denn die Texte sind nicht nur inhaltlich, sondern auch formal so verschieden, dass man den Sprüngen manchmal nur widerwillig folgen mag. Gerade ist man in Hustvedts Familiengeschichte eingestiegen, da folgt schon ein kurzer Artikel zum New Yorker Lockdown und wenig später ein über vierzigseitiges Close Reading von Emily Brontes "Sturmhöhe". Da Hustvedt, indem sie bestimmte Motive immer wieder aufgreift, so etwas wie einen thematischen Zusammenhang signalisiert, hätte etwas mehr Ordnung gut getan. Wenn es so etwas wie einen roten Faden in dem Buch gibt, ist es Hustvedts lebenslange Beschäftigung mit Misogynie. Sie schreibt: "Ich habe alles, was ich zu dem Thema auftreiben konnte, gelesen." Sie erzählt die Geschichte ihrer Großmutter, weil in Familienerzählungen nur Platz für die Männer war. Sie fragt sich, woher der Hass kommt, der Frauen seit Jahrhunderten entgegenschlägt. Sie schildert einen Kriminalfall, bei dem ein Mädchen zu Tode gequält wurde, und fragt sich, was das mit ihrer Jugend und Jungfräulichkeit zu tun hatte. Und sie beschreibt, wie sie selbst ihr ganzes Leben lang unterschätzt wurde. Wohl auch deshalb wird sie nicht müde zu betonen, welche Vorträge sie gehalten, welche Essays sie geschrieben hat, die Dinge aufzuzählen, über die sie ja in der Tat ausgesprochen viel weiß. Das kann schnell angeberisch wirken. Ist es das? Oder eher eine Reaktion auf die intellektuelle Zurückweisung, die sie erlebt hat? Ihr Vater, ein Professor, weist sie darauf hin, dass sich ihre Doktorarbeit nicht wie eine solche lese. Und sagt: "Ich bin nicht sicher, ob du wirklich Professorin werden willst." In einem Philosophieseminar stößt sie allein durch ihre Anwesenheit auf Ablehnung: "Es kam mir vor, als hätte ich einen üblen Geruch in den Raum geweht." Solche Anekdoten lesen sich bedrückend. Deshalb sind Hustvedts ständige Erinnerungen an das, was sie erreicht hat, zugleich ein engagiertes Plädoyer: dafür, sich die eigenen Fähigkeiten nicht aufgrund des Geschlechts absprechen zu lassen. "Gehirntattoos" nennt Hustvedt Sätze, die ein Leben lang hängen bleiben. Sie liefert viele davon, die meisten entstehen in Zusammenhang mit ihrem Mann, dem amerikanischen Schriftsteller Paul Auster. Er wiederum ist keiner, der seine Frau kleinhält. Er preist sie als seine erste, seine klügste Leserin. Die Öffentlichkeit scheint davon jedoch unbeeindruckt zu bleiben. Immer wieder wird Hustvedt darauf hingewiesen, sie habe ihre Kenntnisse in den Neurowissenschaften und der Psychoanalyse doch nur von ihrem Mann. Sie sagt dann: "Mr. Auster hat noch nie im Leben einen neurowissenschaftlichen Artikel gelesen." Siri Hustvedt schon. Viele ihrer Essays sind instruktiv und handeln von Themen, die Romanautorinnen nur selten so informiert erörtern. Deshalb werden auch jene Leser, die sich bei der Zusammenstellung des Bandes etwas mehr Kohärenz gewünscht hätten, von Hustvedts Selbstbewusstsein, über diese Dinge zu schreiben, eingenommen sein. Siri Hustvedt: "Mütter, Väter und Täter". Essays. Aus dem Englischen von Uli Aumüller und Grete Osterwald. Rowohlt Verlag, Hamburg 2023. 448 S., geb., 28,- Euro.
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Kompetenz ist keine Frage des Geschlechts: Siri Hustvedt legt eine ziemlich bunte Essay-Sammlung vor.
Von Anna Vollmer
Es ist schwer zu sagen, wofür Siri Hustvedt sich nicht interessiert. Die amerikanische Autorin hat einen Doktortitel in Literaturwissenschaften und sich eine zweite Karriere in den Neurowissenschaften aufgebaut. Sie fährt zu Kongressen und hat einen Lehrauftrag in Psychiatrie an der Cornell University. Ihre Essays, von denen nun eine neue Sammlung unter dem Titel "Mütter, Väter und Täter" erschienen ist, beschäftigen sich mit Philosophie, Kunst, Biologie, Psychoanalyse, True Crime und Literatur. Das ist eine ganze Menge, und so interessant vieles von dem ist, was Hustvedt zu sagen hat - das Gesamtpaket erscheint mitunter seltsam unzusammenhängend. Das merkt man schon daran, dass der Titel der Sammlung für viele der Essays ungeeignet ist, der deutsche noch mehr als der englische "Mothers, Fathers, and Others". Die Bandbreite von Hustvedts Wissen ist ihre große Stärke, sie ist tatsächlich in mancher Hinsicht die "intellektuelle Vagabundin", als die sie sich in einem dieser Essays selbst bezeichnet. Sie beschreibt darin die Vorzüge eines breit gestreuten Interesses, das verschiedene Themen miteinander in Schwingung versetzt. Wenn man etwa als Geisteswissenschaftlerin auf die Naturwissenschaften schaut und scheinbare Gewissheiten hinterfragt, könne das durchaus produktiv sein. Allerdings richtet sich gerade die Bandbreite der Beiträge an vollkommen unterschiedliche Leser. Denn die Texte sind nicht nur inhaltlich, sondern auch formal so verschieden, dass man den Sprüngen manchmal nur widerwillig folgen mag. Gerade ist man in Hustvedts Familiengeschichte eingestiegen, da folgt schon ein kurzer Artikel zum New Yorker Lockdown und wenig später ein über vierzigseitiges Close Reading von Emily Brontes "Sturmhöhe". Da Hustvedt, indem sie bestimmte Motive immer wieder aufgreift, so etwas wie einen thematischen Zusammenhang signalisiert, hätte etwas mehr Ordnung gut getan. Wenn es so etwas wie einen roten Faden in dem Buch gibt, ist es Hustvedts lebenslange Beschäftigung mit Misogynie. Sie schreibt: "Ich habe alles, was ich zu dem Thema auftreiben konnte, gelesen." Sie erzählt die Geschichte ihrer Großmutter, weil in Familienerzählungen nur Platz für die Männer war. Sie fragt sich, woher der Hass kommt, der Frauen seit Jahrhunderten entgegenschlägt. Sie schildert einen Kriminalfall, bei dem ein Mädchen zu Tode gequält wurde, und fragt sich, was das mit ihrer Jugend und Jungfräulichkeit zu tun hatte. Und sie beschreibt, wie sie selbst ihr ganzes Leben lang unterschätzt wurde. Wohl auch deshalb wird sie nicht müde zu betonen, welche Vorträge sie gehalten, welche Essays sie geschrieben hat, die Dinge aufzuzählen, über die sie ja in der Tat ausgesprochen viel weiß. Das kann schnell angeberisch wirken. Ist es das? Oder eher eine Reaktion auf die intellektuelle Zurückweisung, die sie erlebt hat? Ihr Vater, ein Professor, weist sie darauf hin, dass sich ihre Doktorarbeit nicht wie eine solche lese. Und sagt: "Ich bin nicht sicher, ob du wirklich Professorin werden willst." In einem Philosophieseminar stößt sie allein durch ihre Anwesenheit auf Ablehnung: "Es kam mir vor, als hätte ich einen üblen Geruch in den Raum geweht." Solche Anekdoten lesen sich bedrückend. Deshalb sind Hustvedts ständige Erinnerungen an das, was sie erreicht hat, zugleich ein engagiertes Plädoyer: dafür, sich die eigenen Fähigkeiten nicht aufgrund des Geschlechts absprechen zu lassen. "Gehirntattoos" nennt Hustvedt Sätze, die ein Leben lang hängen bleiben. Sie liefert viele davon, die meisten entstehen in Zusammenhang mit ihrem Mann, dem amerikanischen Schriftsteller Paul Auster. Er wiederum ist keiner, der seine Frau kleinhält. Er preist sie als seine erste, seine klügste Leserin. Die Öffentlichkeit scheint davon jedoch unbeeindruckt zu bleiben. Immer wieder wird Hustvedt darauf hingewiesen, sie habe ihre Kenntnisse in den Neurowissenschaften und der Psychoanalyse doch nur von ihrem Mann. Sie sagt dann: "Mr. Auster hat noch nie im Leben einen neurowissenschaftlichen Artikel gelesen." Siri Hustvedt schon. Viele ihrer Essays sind instruktiv und handeln von Themen, die Romanautorinnen nur selten so informiert erörtern. Deshalb werden auch jene Leser, die sich bei der Zusammenstellung des Bandes etwas mehr Kohärenz gewünscht hätten, von Hustvedts Selbstbewusstsein, über diese Dinge zu schreiben, eingenommen sein. Siri Hustvedt: "Mütter, Väter und Täter". Essays. Aus dem Englischen von Uli Aumüller und Grete Osterwald. Rowohlt Verlag, Hamburg 2023. 448 S., geb., 28,- Euro.
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Ein literarischer Blockbuster für sich verdunkelnde Zeiten. Stefan ; Eva-Maria Kister ; Manz Stuttgarter Nachrichten 20231209