Die Zuwanderung hat die deutsche Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten wesentlich geprägt. Wie sich auch die deutsche Sprache unter dem Einfluss der Migranten-Sprache(n) verändert hat, untersucht Uwe Hinrichs in seinem Buch zum ersten Mal eingehend. Die deutsche Sprache ist im Wandel begriffen. Vor allem in der gesprochenen Sprache sind die Einflüsse von Migration und Globalisierung deutlich zu spüren. Nicht nur das inzwischen omnipräsente Englische, sondern auch die Sprachen der Zuwanderer, das Türkische, Polnische oder Russische, prägen die deutsche Alltagssprache in zunehmendem Maße. Während Sprachpuristen den Niedergang der deutschen Sprache beklagen, geht es Hinrichs in seinem Buch um eine unvoreingenommene Bestandsaufnahme: Welche Sprachen sind mit den Zuwanderern nach Deutschland gekommen? Welche Mischformen (so etwa "Türkisch-Deutsch" oder "Russisch-Deutsch") haben sich daraus entwickelt? Und welche Veränderungen im Deutschen hat dieses vielfältige "Sprachengemisch"bewirkt? Viele Entwicklungen in unserer Sprache lassen sich erst vor diesem Hintergrund wirklich verstehen. Hinrichs leistet damit zugleich einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der multikulturellen Gesellschaft in Deutschland.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Von wegen Multikultideutsch! Stefana Sabin kann die Veränderung des Sprachstandards durch Migrantensprachen in Deutschland vorerst nicht erkennen. Der Autor spricht zwar davon, bietet Sabin jedoch keine stichhaltigen Beweise für seine Thesen, nur zufällig wirkende Beispiele ("dem Präsident"). Sabin rät, statt von tiefgreifenden Veränderungen lieber von Phantomdeutsch zu sprechen. Der Rest, meint sie, sind Varianten und immer schon dagewesene Verschleifungen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.11.2013Das ist mehr einfach wie alter Mann Schopenhauer
Grammatisch entspannt: Gesprochenes Deutsch folgt einem Trend zur Vereinfachung. Aber ist dafür wirklich, wie der Linguist Uwe Hinrichs meint, die Sprachpraxis von Migranten verantwortlich?
Es gibt Turbowandel von deutsche Sprache und kann jeder beobachten schon in sein Alltag ein starker Trend auf mehr einfach. Das in etwa ist die Form, die nach Uwe Hinrichs' Meinung das Deutsch einer gar nicht mehr so fernen Zukunft haben wird. Die Kasusendungen sind abgeschliffen, grammatische Übereinstimmungen zwischen den Wörtern im Satz spielen kaum noch eine Rolle, Präpositionen stehen zur beliebigen Verwendung, das grammatische Geschlecht ist eingedampft, der Konjunktiv geht den Bach hinunter, die Satzstrukturen versimpeln - kurz: vom Formenreichtum und von der Regelstrenge des heutigen Deutsch wird, jedenfalls in seiner mündlichen Existenzform, kaum noch etwas übrig sein.
Was der Leipziger Linguist hier skizziert, ist eine handlich vereinfachte, grammatisch sehr entspannte Sprache, die allerdings auch weniger nuanciert und präzise ist: Was ein Satz genau bedeutet, wird viel stärker vom Kontext abhängen als heute. Dieses Zukunftsdeutsch trägt viele "kreolische" Züge, ähnlich jenen tropischen Varianten des Französischen, Spanischen, Englischen oder Niederländischen, deren grammatische Feinheiten durch Mischungen mit vielen anderen Idiomen radikal eliminiert wurden. Im Fall des Deutschen vollzieht sich dieser Abbau aber nicht fern in Übersee, sondern auf muttersprachlichem Heimatboden.
Motor dieser Entwicklung sind in Uwe Hinrichs' Szenario die Sprachen der Einwanderer, die seit einem halben Jahrhundert die Sprachlandschaft in Deutschland und Österreich in immer stärkerem Maße prägen, an erster Stelle Türkisch, Arabisch, Russisch und die Sprachen des ehemaligen Jugoslawiens.
Hinrichs sieht hier Entwicklungen im Gange, wie er sie als Experte für südslawische Sprachen schon seit langem auf dem Balkan beobachtet. In seinen Augen ist das Thema von seinen germanistischen Kollegen bislang stiefmütterlich behandelt worden, gemessen am Tempo und an den einschneidenden Folgen dieser Vorgänge. Verantwortlich für diese Zurückhaltung macht er ein politisch korrektes Tabu: Viele Linguisten fürchteten, die Beschäftigung mit solchen Fragen könnte einer Stigmatisierung der Immigranten Vorschub leisten.
Ob wirklich solche Hemmungen die Ursache sind oder nicht eher die Scheu vor dem hohen Forschungsaufwand, sei dahingestellt: Tatsache ist, dass es, abgesehen von vereinzelten Studien, bislang nur wenige Daten und Erkenntnisse zur Rolle und zum Einfluss der vielen Sprachen in der Einwanderungsgesellschaft von heute gibt. Systematisch erhobene Datensammlungen legt nun allerdings auch Uwe Hinrichs nicht vor. Er präsentiert zwar viele Beispiele, doch woher sie stammen und wie sie gewonnen wurden, erfährt der Leser meistens nicht. Hinrichs begnügt sich mit einem vagen Hinweis auf seine jahrzehntelangen Beobachtungen des Sprachgebrauchs - doch um das Gewicht und die Reichweite der aufgeführten Sprachmischungen und Normverstöße einschätzen zu können, wüsste man schon gern etwas genauer, in welchem gesellschaftlichen und kommunikativen Zusammenhang sie wann und wo geäußert wurden.
Um den Hintergrund des angenommenen Kreolisierungs-Szenarios zu skizzieren, gibt Hinrichs einen sehr informativen Überblick über die für Deutschland wichtigsten Migrantensprachen. In diesem - dem lesenswertesten - Teil seines Buches arbeitet er die lautlichen und grammatischen Besonderheiten heraus, die das Deutsch der Migranten prägen und seiner Einschätzung nach auch das der Mehrheitsgesellschaft zunehmend einfärben. Viele Einwanderer springen zwischen einem nur bruchstückhaft gelernten Deutsch und ihrer türkischen, arabischen oder russischen Muttersprache hin und her. Entscheidend ist, dass die Verständigung funktioniert, für Feinheiten bleibt wenig Raum. Korrektes Sprechen - sei es des Deutschen oder auch der eigenen Muttersprache - gilt als nicht mehr so wichtig, stattdessen ziehen die Sprecher aus dem Wandern zwischen den verschiedenen Sprachwelten ein eigenes Identitätsgefühl.
Berühmt geworden ist das "Kiezdeutsch", eine sich aus mehreren Sprachen speisende Mischform, die von Jugendlichen zu einem "coolen" Slang geformt wurde, der mindestens ebenso sehr als Gruppensymbol wie der bloßen Verständigung dient. Für Hinrichs handelt es sich beim Kiezdeutsch aber nur um die medial hochgespielte Spitze eines Eisbergs. Dessen unter der Oberfläche verborgene Sprachmassen seien zwar weniger spektakulär, aber es seien vor allem diese vielen ganz alltäglichen Sprachkontakte, die die deutsche Standardsprache, wie sie von den Muttersprachlern gesprochen wird, nachhaltig veränderten. Die ist nämlich, glaubt man dem Zustandsbericht des Autors, auf dem Weg der Kreolisierung schon viel weiter fortgeschritten, als den meisten bewusst ist.
Formulierungen wie "mit viele interessierten Jugendliche", "Es gibt da ein ganz begabter Regisseur", "Das ist mehr interessanter" oder "Er stellt die Lösung des Problems in der Verantwortung seiner Mitarbeiter" sind Hinrichs zufolge schon mündliches Normaldeutsch. Die Avantgarde beim grammatischen Rückbauunternehmen bildet für ihn der Einheitsakkusativ à la "Er hat es seinen Freund zugesichert".
Dieser Multifunktionskasus habe sich bereits als Standard flächendeckend bis in die Sprache der Fernsehnachrichten hinein durchgesetzt, so dass den hier eigentlich korrekten Dativ "so gut wie niemand" mehr verwende. Das sind nun freilich kühne Behauptungen. Empirische Belege für die tatsächliche Häufigkeit dieser Normabweichungen bleibt Hinrichs hier wie auch sonst schuldig. Seine spekulative Behauptung, große Korpora gesprochener Sprache würden - wenn es sie denn gäbe - seine Aussagen "ohne Zweifel erweisen", darf man durchaus bezweifeln.
Aber auch wenn Hinrichs, was die Ausmaße des Sprachwandels betrifft, über das Ziel hinausschießt - dass ein solcher stattfindet, ist unbestreitbar. Die in den letzten Jahren wieder populär gewordene Sprachkritik ist eine Reaktion auf diese Umschichtungen. Inwieweit stecken aber wirklich die Migrantensprachen dahinter? Die meisten Sprachwandel-Erscheinungen im muttersprachlichen Deutsch, die Hinrichs beschreibt, hatten schon eingesetzt, lange bevor der erste Gastarbeiter in Deutschland aus dem Zug stieg.
Die Vereinfachung der Flexion mit abbröckelnden grammatischen Endungen ist seit indogermanischen Zeiten im Gange, über die Verwechslung der Präpositionen, die Verhunzung des Konjunktivs und die Verdrängung des Genitivs durch Konstruktionen mit "von" wetterte schon Arthur Schopenhauer, und Wendungen wie "der Mutter ihr Hut" gehören zum dialektalen und umgangssprachlichen Altbestand des Deutschen.
Zwar erwähnt auch Hinrichs, dass es einen solchen langfristigen Sprachwandel gibt, ohne aber zu klären, welche Rolle vor diesem Hintergrund der Einfluss der Migrantensprachen nun eigentlich genau spielt. Auf welchen Wegen, durch welche Mechanismen könnten ihre Mischformen und grammatischen Minimalismen überhaupt in das durchschnittliche Deutsch jenseits der Multikulti-Stadtteile und Jugendtreffs der Ballungszentren gelangen?
Dazu äußert sich der Autor nur höchst vage und verweist stattdessen auf die Sprachgeschichte, die in der Tat viele Fälle von Kreolisierungen durch intensive Sprachkontakte aufweist. Das Englische bietet dafür ein klassisches Beispiel: Die Sprache, die die angelsächsischen Invasoren auf die Insel brachten, büßte im Munde der Kelten, Wikinger und Normannen über die Jahrhunderte hinweg viele ihrer grammatischen Feinheiten ein. Heute hat Englisch unter den germanischen Sprachen die reduzierteste Wortgrammatik.
Doch ob das Deutsche sich hierzu analog entwickeln wird, ist völlig offen. Eine Voraussetzung dafür ist nicht nur die Existenz migrantischer Sprachmischungen, sondern auch, dass sie sich verfestigen und dass der gesellschaftliche und kulturelle Einfluss dieser Gruppen und das Prestige ihrer Sprechweise massiv steigt. Fraglich ist, ob das "Turbo"-Tempo, das Hinrichs dem momentanen Sprachwandel zuschreibt, real ist oder nur so empfunden wird, weil der Vergleich mit der Vergangenheit ein verzerrtes Bild liefert.
Die Sprache von der Aufklärungszeit bis in das frühe zwanzigste Jahrhundert hinein erscheint einheitlicher und regelkonformer als die der Gegenwart, denn die meisten überlieferten Texte stammen aus den Federn einer dünnen bildungsbürgerlichen Schicht von Schriftstellern, Wissenschaftlern oder Journalisten, oft noch gefiltert und geglättet durch Lektoren und Redakteure. Wie die vielen, die man heute als bildungsfern bezeichnen würde, damals geschrieben oder gar gesprochen haben, weiß man kaum. Die wenigen Dokumente von Bauern, Handwerkern oder Arbeitern zeigen jedenfalls ein Deutsch, das vom Ideal der gepflegten Hochsprache ähnlich stark abweicht wie das, mit dem Internet-Chats, Krawall-Shows und Vulgär-Comedies heute die Öffentlichkeit fluten und damit den Eindruck einer Sprache im Dauerumbruch erwecken.
Das eigentlich Neue ist nicht die Existenz von Verschleifungen und Versimpelungen in der Umgangssprache oder der Grobsprech der Slangs und Jargons, neu ist deren mediale Dauerpräsenz. Sie dürfte, gepaart mit dem Wunsch, "locker rüberzukommen", und flankiert von einem verbreiteten Kult der zur Schau gestellten Unbildung, die Geltung und Akzeptanz standardsprachlicher Normen viel stärker unterhöhlen als der Einfluss der Migrantensprachen. Die sind gewiss ein Rädchen im Getriebe des Sprachwandels, aber nicht ihr Motor.
WOLFGANG KRISCHKE.
Uwe Hinrichs: "Multi Kulti Deutsch". Wie Migration die deutsche Sprache verändert.
Verlag C. H. Beck, München 2013. 294 S., geb., 14,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Grammatisch entspannt: Gesprochenes Deutsch folgt einem Trend zur Vereinfachung. Aber ist dafür wirklich, wie der Linguist Uwe Hinrichs meint, die Sprachpraxis von Migranten verantwortlich?
Es gibt Turbowandel von deutsche Sprache und kann jeder beobachten schon in sein Alltag ein starker Trend auf mehr einfach. Das in etwa ist die Form, die nach Uwe Hinrichs' Meinung das Deutsch einer gar nicht mehr so fernen Zukunft haben wird. Die Kasusendungen sind abgeschliffen, grammatische Übereinstimmungen zwischen den Wörtern im Satz spielen kaum noch eine Rolle, Präpositionen stehen zur beliebigen Verwendung, das grammatische Geschlecht ist eingedampft, der Konjunktiv geht den Bach hinunter, die Satzstrukturen versimpeln - kurz: vom Formenreichtum und von der Regelstrenge des heutigen Deutsch wird, jedenfalls in seiner mündlichen Existenzform, kaum noch etwas übrig sein.
Was der Leipziger Linguist hier skizziert, ist eine handlich vereinfachte, grammatisch sehr entspannte Sprache, die allerdings auch weniger nuanciert und präzise ist: Was ein Satz genau bedeutet, wird viel stärker vom Kontext abhängen als heute. Dieses Zukunftsdeutsch trägt viele "kreolische" Züge, ähnlich jenen tropischen Varianten des Französischen, Spanischen, Englischen oder Niederländischen, deren grammatische Feinheiten durch Mischungen mit vielen anderen Idiomen radikal eliminiert wurden. Im Fall des Deutschen vollzieht sich dieser Abbau aber nicht fern in Übersee, sondern auf muttersprachlichem Heimatboden.
Motor dieser Entwicklung sind in Uwe Hinrichs' Szenario die Sprachen der Einwanderer, die seit einem halben Jahrhundert die Sprachlandschaft in Deutschland und Österreich in immer stärkerem Maße prägen, an erster Stelle Türkisch, Arabisch, Russisch und die Sprachen des ehemaligen Jugoslawiens.
Hinrichs sieht hier Entwicklungen im Gange, wie er sie als Experte für südslawische Sprachen schon seit langem auf dem Balkan beobachtet. In seinen Augen ist das Thema von seinen germanistischen Kollegen bislang stiefmütterlich behandelt worden, gemessen am Tempo und an den einschneidenden Folgen dieser Vorgänge. Verantwortlich für diese Zurückhaltung macht er ein politisch korrektes Tabu: Viele Linguisten fürchteten, die Beschäftigung mit solchen Fragen könnte einer Stigmatisierung der Immigranten Vorschub leisten.
Ob wirklich solche Hemmungen die Ursache sind oder nicht eher die Scheu vor dem hohen Forschungsaufwand, sei dahingestellt: Tatsache ist, dass es, abgesehen von vereinzelten Studien, bislang nur wenige Daten und Erkenntnisse zur Rolle und zum Einfluss der vielen Sprachen in der Einwanderungsgesellschaft von heute gibt. Systematisch erhobene Datensammlungen legt nun allerdings auch Uwe Hinrichs nicht vor. Er präsentiert zwar viele Beispiele, doch woher sie stammen und wie sie gewonnen wurden, erfährt der Leser meistens nicht. Hinrichs begnügt sich mit einem vagen Hinweis auf seine jahrzehntelangen Beobachtungen des Sprachgebrauchs - doch um das Gewicht und die Reichweite der aufgeführten Sprachmischungen und Normverstöße einschätzen zu können, wüsste man schon gern etwas genauer, in welchem gesellschaftlichen und kommunikativen Zusammenhang sie wann und wo geäußert wurden.
Um den Hintergrund des angenommenen Kreolisierungs-Szenarios zu skizzieren, gibt Hinrichs einen sehr informativen Überblick über die für Deutschland wichtigsten Migrantensprachen. In diesem - dem lesenswertesten - Teil seines Buches arbeitet er die lautlichen und grammatischen Besonderheiten heraus, die das Deutsch der Migranten prägen und seiner Einschätzung nach auch das der Mehrheitsgesellschaft zunehmend einfärben. Viele Einwanderer springen zwischen einem nur bruchstückhaft gelernten Deutsch und ihrer türkischen, arabischen oder russischen Muttersprache hin und her. Entscheidend ist, dass die Verständigung funktioniert, für Feinheiten bleibt wenig Raum. Korrektes Sprechen - sei es des Deutschen oder auch der eigenen Muttersprache - gilt als nicht mehr so wichtig, stattdessen ziehen die Sprecher aus dem Wandern zwischen den verschiedenen Sprachwelten ein eigenes Identitätsgefühl.
Berühmt geworden ist das "Kiezdeutsch", eine sich aus mehreren Sprachen speisende Mischform, die von Jugendlichen zu einem "coolen" Slang geformt wurde, der mindestens ebenso sehr als Gruppensymbol wie der bloßen Verständigung dient. Für Hinrichs handelt es sich beim Kiezdeutsch aber nur um die medial hochgespielte Spitze eines Eisbergs. Dessen unter der Oberfläche verborgene Sprachmassen seien zwar weniger spektakulär, aber es seien vor allem diese vielen ganz alltäglichen Sprachkontakte, die die deutsche Standardsprache, wie sie von den Muttersprachlern gesprochen wird, nachhaltig veränderten. Die ist nämlich, glaubt man dem Zustandsbericht des Autors, auf dem Weg der Kreolisierung schon viel weiter fortgeschritten, als den meisten bewusst ist.
Formulierungen wie "mit viele interessierten Jugendliche", "Es gibt da ein ganz begabter Regisseur", "Das ist mehr interessanter" oder "Er stellt die Lösung des Problems in der Verantwortung seiner Mitarbeiter" sind Hinrichs zufolge schon mündliches Normaldeutsch. Die Avantgarde beim grammatischen Rückbauunternehmen bildet für ihn der Einheitsakkusativ à la "Er hat es seinen Freund zugesichert".
Dieser Multifunktionskasus habe sich bereits als Standard flächendeckend bis in die Sprache der Fernsehnachrichten hinein durchgesetzt, so dass den hier eigentlich korrekten Dativ "so gut wie niemand" mehr verwende. Das sind nun freilich kühne Behauptungen. Empirische Belege für die tatsächliche Häufigkeit dieser Normabweichungen bleibt Hinrichs hier wie auch sonst schuldig. Seine spekulative Behauptung, große Korpora gesprochener Sprache würden - wenn es sie denn gäbe - seine Aussagen "ohne Zweifel erweisen", darf man durchaus bezweifeln.
Aber auch wenn Hinrichs, was die Ausmaße des Sprachwandels betrifft, über das Ziel hinausschießt - dass ein solcher stattfindet, ist unbestreitbar. Die in den letzten Jahren wieder populär gewordene Sprachkritik ist eine Reaktion auf diese Umschichtungen. Inwieweit stecken aber wirklich die Migrantensprachen dahinter? Die meisten Sprachwandel-Erscheinungen im muttersprachlichen Deutsch, die Hinrichs beschreibt, hatten schon eingesetzt, lange bevor der erste Gastarbeiter in Deutschland aus dem Zug stieg.
Die Vereinfachung der Flexion mit abbröckelnden grammatischen Endungen ist seit indogermanischen Zeiten im Gange, über die Verwechslung der Präpositionen, die Verhunzung des Konjunktivs und die Verdrängung des Genitivs durch Konstruktionen mit "von" wetterte schon Arthur Schopenhauer, und Wendungen wie "der Mutter ihr Hut" gehören zum dialektalen und umgangssprachlichen Altbestand des Deutschen.
Zwar erwähnt auch Hinrichs, dass es einen solchen langfristigen Sprachwandel gibt, ohne aber zu klären, welche Rolle vor diesem Hintergrund der Einfluss der Migrantensprachen nun eigentlich genau spielt. Auf welchen Wegen, durch welche Mechanismen könnten ihre Mischformen und grammatischen Minimalismen überhaupt in das durchschnittliche Deutsch jenseits der Multikulti-Stadtteile und Jugendtreffs der Ballungszentren gelangen?
Dazu äußert sich der Autor nur höchst vage und verweist stattdessen auf die Sprachgeschichte, die in der Tat viele Fälle von Kreolisierungen durch intensive Sprachkontakte aufweist. Das Englische bietet dafür ein klassisches Beispiel: Die Sprache, die die angelsächsischen Invasoren auf die Insel brachten, büßte im Munde der Kelten, Wikinger und Normannen über die Jahrhunderte hinweg viele ihrer grammatischen Feinheiten ein. Heute hat Englisch unter den germanischen Sprachen die reduzierteste Wortgrammatik.
Doch ob das Deutsche sich hierzu analog entwickeln wird, ist völlig offen. Eine Voraussetzung dafür ist nicht nur die Existenz migrantischer Sprachmischungen, sondern auch, dass sie sich verfestigen und dass der gesellschaftliche und kulturelle Einfluss dieser Gruppen und das Prestige ihrer Sprechweise massiv steigt. Fraglich ist, ob das "Turbo"-Tempo, das Hinrichs dem momentanen Sprachwandel zuschreibt, real ist oder nur so empfunden wird, weil der Vergleich mit der Vergangenheit ein verzerrtes Bild liefert.
Die Sprache von der Aufklärungszeit bis in das frühe zwanzigste Jahrhundert hinein erscheint einheitlicher und regelkonformer als die der Gegenwart, denn die meisten überlieferten Texte stammen aus den Federn einer dünnen bildungsbürgerlichen Schicht von Schriftstellern, Wissenschaftlern oder Journalisten, oft noch gefiltert und geglättet durch Lektoren und Redakteure. Wie die vielen, die man heute als bildungsfern bezeichnen würde, damals geschrieben oder gar gesprochen haben, weiß man kaum. Die wenigen Dokumente von Bauern, Handwerkern oder Arbeitern zeigen jedenfalls ein Deutsch, das vom Ideal der gepflegten Hochsprache ähnlich stark abweicht wie das, mit dem Internet-Chats, Krawall-Shows und Vulgär-Comedies heute die Öffentlichkeit fluten und damit den Eindruck einer Sprache im Dauerumbruch erwecken.
Das eigentlich Neue ist nicht die Existenz von Verschleifungen und Versimpelungen in der Umgangssprache oder der Grobsprech der Slangs und Jargons, neu ist deren mediale Dauerpräsenz. Sie dürfte, gepaart mit dem Wunsch, "locker rüberzukommen", und flankiert von einem verbreiteten Kult der zur Schau gestellten Unbildung, die Geltung und Akzeptanz standardsprachlicher Normen viel stärker unterhöhlen als der Einfluss der Migrantensprachen. Die sind gewiss ein Rädchen im Getriebe des Sprachwandels, aber nicht ihr Motor.
WOLFGANG KRISCHKE.
Uwe Hinrichs: "Multi Kulti Deutsch". Wie Migration die deutsche Sprache verändert.
Verlag C. H. Beck, München 2013. 294 S., geb., 14,95 [Euro].
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