Die Zuwanderung hat die deutsche Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten wesentlich geprägt. Wie sich auch die deutsche Sprache unter dem Einfluss der Migranten-Sprache(n) verändert hat, untersucht Uwe Hinrichs in seinem Buch zum ersten Mal eingehend. Die deutsche Sprache ist im Wandel begriffen. Vor allem in der gesprochenen Sprache sind die Einflüsse von Migration und Globalisierung deutlich zu spüren. Nicht nur das inzwischen omnipräsente Englische, sondern auch die Sprachen der Zuwanderer, das Türkische, Polnische oder Russische, prägen die deutsche Alltagssprache in zunehmendem Maße. Während Sprachpuristen den Niedergang der deutschen Sprache beklagen, geht es Hinrichs in seinem Buch um eine unvoreingenommene Bestandsaufnahme: Welche Sprachen sind mit den Zuwanderern nach Deutschland gekommen? Welche Mischformen (so etwa "Türkisch-Deutsch" oder "Russisch-Deutsch") haben sich daraus entwickelt? Und welche Veränderungen im Deutschen hat dieses vielfältige "Sprachengemisch"bewirkt? Viele Entwicklungen in unserer Sprache lassen sich erst vor diesem Hintergrund wirklich verstehen. Hinrichs leistet damit zugleich einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der multikulturellen Gesellschaft in Deutschland.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Von wegen Multikultideutsch! Stefana Sabin kann die Veränderung des Sprachstandards durch Migrantensprachen in Deutschland vorerst nicht erkennen. Der Autor spricht zwar davon, bietet Sabin jedoch keine stichhaltigen Beweise für seine Thesen, nur zufällig wirkende Beispiele ("dem Präsident"). Sabin rät, statt von tiefgreifenden Veränderungen lieber von Phantomdeutsch zu sprechen. Der Rest, meint sie, sind Varianten und immer schon dagewesene Verschleifungen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.10.2013Mehr Umgang, mehr Umgangssprache
Das Deutsche verändert sich rasant. Die einen reagieren darauf hysterisch, die anderen sorglos. Wie aber sieht es tatsächlich aus?
Drei Bücher erkunden die Welt der Sprachkontakte und des unvermeidlichen Sprachwandels
VON JENS BISKY
Vor kurzem ist der Duden zum „Sprachpanscher des Jahres“ gewählt worden. Der Verein Deutsche Sprache, der den Schmähtitel vergibt, prangert damit die unkritische Aufnahme von Anglizismen in das Wörterbuch an: „Soccer“ findet sich da und „Shitstorm“, nicht aber „Klapprechner“, wie nach dem Willen des Vereins das „Notebook“ fürderhin genannt werden soll. Der Duden trage dazu bei, dass sich „sprachliches Imponiergehabe im Glanze einer quasi amtlichen Zustimmung sonnen dürfe“.
Die Duden-Redaktion hat ihre Regeln, ist diesen gefolgt und sich keiner Schuld bewusst. Pläne zur Umbenennung des DFB in Deutscher Soccer-Bund scheint es bislang nicht zu geben. Die Meldung wäre also unter „Absurdes aus dem Vereinsleben“ abzuheften, stünde sie nicht exemplarisch für eine unzeitgemäße Vereinfachung der öffentlichen Diskussion, als wären Anglizismen das wichtigste Element der deutschen Gegenwartssprache, das entscheidende Ferment des Sprachwandels. Woher dieser Zweifel an Lebensfähigkeit und Kraft der Muttersprache? Das Deutsche hat doch einen guten Magen, es kann auch „Soccer“ und „Shitstorm“ vertragen. Vor allem aber wird man einem Verein misstrauen, der den Wortgebrauch anderer beurteilt, indem er sie zu Panschern erklärt. Panschen kann man nach Auskunft des Grimmschen Wörterbuchs Wein oder Bier, es geschieht aus Gier oder Schlamperei. Wer aber sagt, dass die Sprache ein Gebräu sei, das Reinheitsgeboten unterliegt? Bekommen ihr nicht ein paar exotische, archaische, verdrehte Wendungen ganz gut? Seit langem weiß, wer Geldgeschäfte erledigt oder in die Oper geht, Wörter italienischer Herkunft zu nutzen, wer vor dem Computer sitzt, greift zum Englischen, zu Anglizismen, redet aber eben auch von der „Festplatte“ und dem „Herunterladen“.
Ein Soziologe mag den Streit um Anglizismen als Teil des Kampfes innerhalb der Funktionseliten verbuchen. Da wird symbolisches Kapital verteidigt, der Wert einer völlig unverächtlichen bildungsbürgerlichen Tradition, die es in der globalen wie in der digitalen Welt gleichermaßen schwer hat. Sich auf eine Burg des Wahren, Guten, Gewesenen zurückzuziehen und von den Zinnen herab die polyglott Stammelnden, die Angeber, Werbefuzzis, Journalisten zu beschimpfen, bringt seelischen Gewinn – und sonst gar nichts.
Das Ungeschick der Sprachschützer sollte jedoch nicht zu leichtfertiger Gleichgültigkeit verführen. Das Deutsche wandelt sich rasant. Alles andere wäre angesichts der Fortschritte des grenzüberschreitenden Verkehrs und der Dauerkommunikation auch eine Überraschung. Die Anglizismenjagd, eine Schwundstufe der Sprachkritik, erfasst nur einen kleinen Teil dieses Geschehens. Einige Ärgernisse vermag jeder rasch aufzuzählen: Die simplen Wendungen „Sinn machen“ und „Unterschied machen“ scheinen nicht mehr aufzuhalten und werden bald oder „zeitnah“ keinen mehr verstören; immer wieder steht „zeitgleich“, wo „gleichzeitig“ stehen müsste; die Leiden des Genitivs betreffen alle Fälle; die Präpositionen werden munter verwechselt. Was heißt das, wie wäre darauf vernünftig zu reagieren?
Vor kurzem sind drei Bücher erschienen, die – jedes auf seine Weise – eine Geschichte vom Wandel der Sprache in einer herrlich vielsprachigen Welt erzählen. Karl-Heinz Göttert erkundet die Illusionen und Möglichkeiten der Sprachpolitik. Der amerikanische Literaturwissenschaftler David Bellos führt in die Vielfalt der Sprachen und die Kultur des Übersetzens ein. Und Uwe Hinrichs liefert eine fulminante Bestandsaufnahme aktueller Veränderungen der Alltagssprache durch die Migranten im Lande, 2012 lebten in Deutschland etwa 16 bis 17 Millionen „Menschen mit Migrationshintergrund“.
Man lernt in diesen Büchern eine Menge und gewinnt einen Eindruck, wie ein Sprachbewusstsein auf der Höhe der Zeit aussehen müsste. Sprachpflege lebt letztlich vom Ideal des betreuten, ständig korrigierten Sprechens, immer im Blick auf den Normenwächter. Doch der Sprachalltag hat mit Diktat und Lateinklausur wenig gemein. Sprachbewusstsein setzt dagegen Kenntnisse über den Sinn und die Wandelbarkeit der Normen voraus und fördert ein freies, reflektiertes Verhältnis zur Muttersprache.
Seit Jahren streitet der Kölner Germanist Karl-Heinz Göttert für informierte Gelassenheit und grundsätzliches Vertrauen zu den Sprechern. Gegen die Bequemlichkeiten des Alarmismus und der Erregungsroutine bietet er Statistiken und historische Exkurse auf. Genüsslich korrigiert er die Urteile und Begründungen der Sprachkritik. Gibt es zu viele Anglizismen? Ja, es gibt viele, es werden immer mehr, aber wie auch immer man rechnet, ob man „Shampoo“, „High School“ oder „joint venture“ dazu zählt oder nicht – es bleibt bei weniger als zwei Prozent des deutschen Wortschatzes. Zu unterscheiden wären Übernahmen aus dem Englischen – aus „job“ wird „Job“ – von Wörtern, die nach englischem Vorbild geprägt wurden, etwa der „Wolkenkratzer“ nach dem „skyscraper“. Daneben existieren Wörter, die irgendwie englisch anmuten, aber keineswegs englisch sind: „Twen“ oder „Flipper“. Zerstören die mal mehr, mal weniger gelungenen Übernahmen die Tiefenstruktur der deutschen Sprache? Dies träfe, so Göttert, nur dann zu, wenn wir, durch das Prestige des Englischen verführt, die Regeln verlernten. Das sei nicht der Fall. Wir sprechen „Sandwich“ eben sehr deutsch aus und bilden „Gelegenheitsjob“, den „Heimcomputer“ oder das „Krisenmanagement“.
Seinen Kritikern wirft Göttert vor, ideologischen Ballast des 19. Jahrhunderts mitzuschleppen, Vorstellungen von Reinheit und Treue zum Urquell. Attacken gegen Sprachpanscher und „illoyale“ Linguisten führen in der Tat nicht weit, es sei denn, einer wollte die stolze Tradition der Beschimpfung fortsetzen und in Konkurrenz zu Schopenhauer, Nietzsche und Karl Kraus treten. Ihr ist in diesem Buch ein Exkurs gewidmet. Die Schimpfreden wider Sprachverhunzung und Schmierfinken dienten der „Selbstbehauptung und Abgrenzung“. Hinter der Forderung nach Loyalität zur Sprache wittert Göttert die „Sehnsucht nach einer überkommenen und lange bewährten Form von überschaubarer sozialer Ordnung“. Auf die Anglizismen wird geschimpft, gemeint aber ist die Globalisierung.
Gelassenheit ist meist sympathisch und Götterts Plädoyer für Mehrsprachigkeit überzeugt. Doch hat sein Buch zwei große Schwächen, eine der Darstellung, eine der Argumentation. Die historischen Passagen wirken arg gerafft und sind in den Details nicht immer zuverlässig. Dafür ermüden die Berichte über Gremiensitzungen und Debatten, an denen der Autor beteiligt war, die aber dem Laien wie dem Kenner herzlich egal sein können. Da trifft sich jener Ausschuss, dort dieser Beirat – und es wird davon berichtet wie von Haupt- und Staatsaktionen. Vielleicht erklärt diese Befangenheit, warum Karl-Heinz Göttert seinen Widersachern, den Sprachpflegern früherer Jahrhunderte, den Warnern vor Verfall, den Kritikern der Anglizismen so selten Gerechtigkeit widerfahren lässt. Gewiss klingt vieles in unseren Ohren seltsam und wahrscheinlich wäre es besser gewesen, wenn einer wie Friedrich Ludwig Jahn sich ausschließlich dem Turnen verschrieben hätte, aber ohne den Ehrgeiz der Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts, ohne die mal von Patriotismus, mal von Nationalismus befeuerten Wörterbuchprojekte und Normierungsversuche sähe das Deutsche anders aus. Kein Mensch muss sich vor dem „Kuvert“ fürchten, wie schön jedoch, dass es daneben den „Briefumschlag“ gibt.
Zu rasch gleitet Göttert über Sprachkonflikte und Interessenkollisionen hinweg. Sprachenunterricht und Ausbildung sind große, umkämpfte Märkte. Die Dominanz des Englischen als der Verkehrssprache der Welt ist unangefochten. Je nach Schätzung verfügen zwei bis drei Milliarden Menschen über wenigstens elementare Englischkenntnisse. Da, wie Göttert schreibt, gut achtzig Prozent der auf Englisch geführten Kommunikation ohne Muttersprache vonstatten geht, ist es wohl gerechtfertigt von Globish zu sprechen, einem Idiom, das seinen Zweck erfüllt und gebildete Engländer mit Grausen erfüllen mag. Wie aber wirkt dies auf die Sprachen ein? Die Zurückweisung der Verfallsthesen entbindet nicht davon, diese Frage genauer zu untersuchen.
Einen guten Eindruck von der gegenwärtigen Hierarchie der Sprachen vermittelt das vergnügliche, in ein sehr flüssiges, klares Deutsch gebrachte Buch von David Bellos. Diese kluge Einführung in die Probleme des Übersetzens betrachtet jede Frage – Sind Übersetzer Verräter? Was ist unübersetzbar? Wie versteht man Wörterbücher? – aus verschiedenen Perspektiven. David Bellos hat Ismail Kadare und Georges Perec übersetzt, er kennt die Nöte der Simultandolmetscher und ist von einem unumstößlich überzeugt: „In allen Sprachen finden ihre Sprecher alle Mittel vor, die sie zum Erreichen aller von ihnen gewünschten Zwecke benötigen.“
Die Buchkultur, die wir kennen, lieben und gern verteidigen, scheint vor allem auf Frankreich, Deutschland, Großbritannien und die USA konzentriert. Statistiken belegen, dass die interkulturellen Beziehungen um das Englische wie um ein Zentralgestirn kreisen. In etwa 75 Prozent aller einzelnen Übersetzungen ist Englisch Quell- oder Zielsprache. Dann folgen aber schon Französisch, Deutsch und Russisch. Die Unesco erfasst Übersetzungen in einer eigenen Datenbank. Ihr zufolge finden 42 Prozent der Übersetzungen zwischen bloß drei Sprachen statt: Englisch, Deutsch und Französisch.
Das Englische hat eine entscheidende Stellung für alle, die Aufmerksamkeit suchen, viele erreichen wollen. Daneben fungieren das Deutsche und das Französische als Brückensprachen. Bellos spricht mit guten Gründen von Aufwärts- oder Abwärts-Übersetzen, je nach dem Prestige und der Verbreitung einer Sprache. Der Zustand sei keineswegs natürlich und daher zu ändern, wenn genug Menschen ihn ändern wollten.
Für Literaturkritiker und Sprachhistoriker gleichermaßen interessant sind die Überlegungen zum „Übersetzen als Dialekt“. Das Englisch der literarischen Übersetzungen unterscheide sich, so Bellos, vom ungelenken Englisch der Sozialwissenschaften und des internationalen Journalismus, aber es sei doch ein „Englisch-minus“, geschmeidig und unsichtbar, eine korrekte Sprache, die so kaum gesprochen wird. Auch im Französischen lässt sich die „übersetzungstypische Tendenz zum Gebrauch von Standardformen der Empfängersprache“ beobachten. Übersetzungen erweisen sich daher als Hüter, manchmal sogar als Schöpfer von Standardformen. Wem also an richtiger Sprache gelegen ist, der sollte Übersetzungen fördern. Könnte es sein, dass nicht durch Ausschluss, sondern durch die Mischung entsteht, was man „Sprachreinheit“ nennt?
Auch diese Frage wird sich nur beantworten lassen, wenn man eine Vorstellung von den Mechanismen des Sprachwandels besitzt und eine Diagnose zum Stand der Entwicklung im Deutschen wagt, das ja mehr ist als ein Wörterverzeichnis. Was also tut sich da? Wer es wissen will, muss das Buch des Slawisten und Übersetzungswissenschaftlers Uwe Hinrichs lesen. „Multi Kulti Deutsch“ ist von der Verengung auf Sprachpflege und sozialromantischem Kitsch gleichermaßen weit entfernt. Hinrichs behandelt die Veränderungen der deutschen Umgangssprache durch Migranten, durch jene Millionen, denen Deutsch nicht Muttersprache ist. Zum Glück beschränkt sich die Darstellung nicht auf eine Zusammenfassung auffallender Abweichungen. Es wird auch erklärt, welche Eigenschaften des Türkischen, Polnischen, Arabischen, Russischen oder anderer Migrantensprachen regelmäßig wiederkehrende Fehler befördern. Harmoniesüchtige mögen sich daran stören, dass Hinrichs vom „Clash of Languages“ spricht. Aber er hat Recht. Sprachkontakt bedeutet auch Konflikt, wenigstens zwischen verschiedenen sprachlichen Normen.
Was ändert sich? Die Kasus werden abgebaut, Endungen verschwinden, Präpositionen übernehmen die „Lasten der Kasussemantik“, also neue Funktionen, dafür werden sie untereinander ausgetauscht, wie ja auch Muttersprachler Präpositionen häufig beliebig verwenden: Der Interregio nach Potsdam fährt heute von/auf/aus/in/ an/ab Gleis 3 oder einfach nur „fährt heute Gleis 3“. Das Modell „Präposition plus X“ hat gute Chancen, sich durchzusetzen. Möglicherweise wird „X“ dann im Akkusativ stehen, dem Fall mit den besten Überlebensaussichten. Die Artikel, ohnehin eine besondere Tücke des Deutschen, werden schon schwankend verwendet. Dass der Komparativ mit „mehr“ auf dem Vormarsch ist, wird keiner bestreiten. Normverstöße werden nicht mehr sanktioniert, Muttersprachler simplifizieren gern mit.
Hinrichs argumentiert detaillierter als hier nachgezeichnet werden kann. Er hat einen Verblüffungseffekt für sich: Wer nach der Lektüre Zeitung liest, Fernsehen schaut, im Internet surft, stolpert ständig über Beispiele für die von ihm zusammengetragenen Abweichungen. Die Veränderungen durch die Migration verstärken die Entwicklung von einer synthetischen hin zu einer analytischen Sprache, wie es das Englische ist. Die beiden stärksten Einflüsse auf die Gegenwartssprache befördern die „typologische Drift“, in der sich das Deutsche ohnehin befindet. Die wachsende Bedeutung von Schnelligkeit, von mündlicher Kommunikation und von Kommunikation per SMS, Facebook usw., die zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit zu verorten wären, führen zu einer Aufweichung der Norm und begünstigen reduzierte, vereinfachte Formen. Hier wirken also mehrere Tendenzen in eine Richtung: langfristiger Wandel, das Deutsch der Migranten, der Einfluss des Englischen und die Zwanglosigkeit in digitalen Welten. Noch ist gesellschaftlicher Aufstieg an die Beherrschung der Sprachnormen gebunden.
Ob das so bleibt, ob auch das Schriftdeutsche die Änderungen übernehmen wird oder ob Schriftdeutsch und Umgangssprache sich auseinander entwickeln, werden wir sehen. Die Entwicklung kann beeinflusst werden, aber nicht durch Puristenhysterie, sondern durch soliden Grammatikunterricht und Förderung von Mehrsprachigkeit.
Karl-Heinz Göttert: Abschied von Mutter Sprache. Deutsch in Zeiten der Globalisierung. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013.368 S., 22,99 Euro, E-Book 19,99 Euro.
David Bellos: Was macht der Fisch in meinem Ohr? Sprache, Übersetzen und die Bedeutung von allem. Aus dem Englischen von Silvia Morawetz. Eichborn Verlag, Köln 2013. 448 S., 24,99 E., E-Book 18,99 E.
Uwe Hinrichs: Multi Kulti Deutsch. Wie Migration die deutsche Sprache verändert. C. H. Beck, München 2013. 294 S., 14,95 Euro, E-Book 11,99 Euro.
In etwa 75 Prozent aller
Übersetzungen ist Englisch
Quell- oder Zielsprache
Etwa 16 Millionen Migranten
leben hier – und sie
verändern die Umgangssprache
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Das Deutsche verändert sich rasant. Die einen reagieren darauf hysterisch, die anderen sorglos. Wie aber sieht es tatsächlich aus?
Drei Bücher erkunden die Welt der Sprachkontakte und des unvermeidlichen Sprachwandels
VON JENS BISKY
Vor kurzem ist der Duden zum „Sprachpanscher des Jahres“ gewählt worden. Der Verein Deutsche Sprache, der den Schmähtitel vergibt, prangert damit die unkritische Aufnahme von Anglizismen in das Wörterbuch an: „Soccer“ findet sich da und „Shitstorm“, nicht aber „Klapprechner“, wie nach dem Willen des Vereins das „Notebook“ fürderhin genannt werden soll. Der Duden trage dazu bei, dass sich „sprachliches Imponiergehabe im Glanze einer quasi amtlichen Zustimmung sonnen dürfe“.
Die Duden-Redaktion hat ihre Regeln, ist diesen gefolgt und sich keiner Schuld bewusst. Pläne zur Umbenennung des DFB in Deutscher Soccer-Bund scheint es bislang nicht zu geben. Die Meldung wäre also unter „Absurdes aus dem Vereinsleben“ abzuheften, stünde sie nicht exemplarisch für eine unzeitgemäße Vereinfachung der öffentlichen Diskussion, als wären Anglizismen das wichtigste Element der deutschen Gegenwartssprache, das entscheidende Ferment des Sprachwandels. Woher dieser Zweifel an Lebensfähigkeit und Kraft der Muttersprache? Das Deutsche hat doch einen guten Magen, es kann auch „Soccer“ und „Shitstorm“ vertragen. Vor allem aber wird man einem Verein misstrauen, der den Wortgebrauch anderer beurteilt, indem er sie zu Panschern erklärt. Panschen kann man nach Auskunft des Grimmschen Wörterbuchs Wein oder Bier, es geschieht aus Gier oder Schlamperei. Wer aber sagt, dass die Sprache ein Gebräu sei, das Reinheitsgeboten unterliegt? Bekommen ihr nicht ein paar exotische, archaische, verdrehte Wendungen ganz gut? Seit langem weiß, wer Geldgeschäfte erledigt oder in die Oper geht, Wörter italienischer Herkunft zu nutzen, wer vor dem Computer sitzt, greift zum Englischen, zu Anglizismen, redet aber eben auch von der „Festplatte“ und dem „Herunterladen“.
Ein Soziologe mag den Streit um Anglizismen als Teil des Kampfes innerhalb der Funktionseliten verbuchen. Da wird symbolisches Kapital verteidigt, der Wert einer völlig unverächtlichen bildungsbürgerlichen Tradition, die es in der globalen wie in der digitalen Welt gleichermaßen schwer hat. Sich auf eine Burg des Wahren, Guten, Gewesenen zurückzuziehen und von den Zinnen herab die polyglott Stammelnden, die Angeber, Werbefuzzis, Journalisten zu beschimpfen, bringt seelischen Gewinn – und sonst gar nichts.
Das Ungeschick der Sprachschützer sollte jedoch nicht zu leichtfertiger Gleichgültigkeit verführen. Das Deutsche wandelt sich rasant. Alles andere wäre angesichts der Fortschritte des grenzüberschreitenden Verkehrs und der Dauerkommunikation auch eine Überraschung. Die Anglizismenjagd, eine Schwundstufe der Sprachkritik, erfasst nur einen kleinen Teil dieses Geschehens. Einige Ärgernisse vermag jeder rasch aufzuzählen: Die simplen Wendungen „Sinn machen“ und „Unterschied machen“ scheinen nicht mehr aufzuhalten und werden bald oder „zeitnah“ keinen mehr verstören; immer wieder steht „zeitgleich“, wo „gleichzeitig“ stehen müsste; die Leiden des Genitivs betreffen alle Fälle; die Präpositionen werden munter verwechselt. Was heißt das, wie wäre darauf vernünftig zu reagieren?
Vor kurzem sind drei Bücher erschienen, die – jedes auf seine Weise – eine Geschichte vom Wandel der Sprache in einer herrlich vielsprachigen Welt erzählen. Karl-Heinz Göttert erkundet die Illusionen und Möglichkeiten der Sprachpolitik. Der amerikanische Literaturwissenschaftler David Bellos führt in die Vielfalt der Sprachen und die Kultur des Übersetzens ein. Und Uwe Hinrichs liefert eine fulminante Bestandsaufnahme aktueller Veränderungen der Alltagssprache durch die Migranten im Lande, 2012 lebten in Deutschland etwa 16 bis 17 Millionen „Menschen mit Migrationshintergrund“.
Man lernt in diesen Büchern eine Menge und gewinnt einen Eindruck, wie ein Sprachbewusstsein auf der Höhe der Zeit aussehen müsste. Sprachpflege lebt letztlich vom Ideal des betreuten, ständig korrigierten Sprechens, immer im Blick auf den Normenwächter. Doch der Sprachalltag hat mit Diktat und Lateinklausur wenig gemein. Sprachbewusstsein setzt dagegen Kenntnisse über den Sinn und die Wandelbarkeit der Normen voraus und fördert ein freies, reflektiertes Verhältnis zur Muttersprache.
Seit Jahren streitet der Kölner Germanist Karl-Heinz Göttert für informierte Gelassenheit und grundsätzliches Vertrauen zu den Sprechern. Gegen die Bequemlichkeiten des Alarmismus und der Erregungsroutine bietet er Statistiken und historische Exkurse auf. Genüsslich korrigiert er die Urteile und Begründungen der Sprachkritik. Gibt es zu viele Anglizismen? Ja, es gibt viele, es werden immer mehr, aber wie auch immer man rechnet, ob man „Shampoo“, „High School“ oder „joint venture“ dazu zählt oder nicht – es bleibt bei weniger als zwei Prozent des deutschen Wortschatzes. Zu unterscheiden wären Übernahmen aus dem Englischen – aus „job“ wird „Job“ – von Wörtern, die nach englischem Vorbild geprägt wurden, etwa der „Wolkenkratzer“ nach dem „skyscraper“. Daneben existieren Wörter, die irgendwie englisch anmuten, aber keineswegs englisch sind: „Twen“ oder „Flipper“. Zerstören die mal mehr, mal weniger gelungenen Übernahmen die Tiefenstruktur der deutschen Sprache? Dies träfe, so Göttert, nur dann zu, wenn wir, durch das Prestige des Englischen verführt, die Regeln verlernten. Das sei nicht der Fall. Wir sprechen „Sandwich“ eben sehr deutsch aus und bilden „Gelegenheitsjob“, den „Heimcomputer“ oder das „Krisenmanagement“.
Seinen Kritikern wirft Göttert vor, ideologischen Ballast des 19. Jahrhunderts mitzuschleppen, Vorstellungen von Reinheit und Treue zum Urquell. Attacken gegen Sprachpanscher und „illoyale“ Linguisten führen in der Tat nicht weit, es sei denn, einer wollte die stolze Tradition der Beschimpfung fortsetzen und in Konkurrenz zu Schopenhauer, Nietzsche und Karl Kraus treten. Ihr ist in diesem Buch ein Exkurs gewidmet. Die Schimpfreden wider Sprachverhunzung und Schmierfinken dienten der „Selbstbehauptung und Abgrenzung“. Hinter der Forderung nach Loyalität zur Sprache wittert Göttert die „Sehnsucht nach einer überkommenen und lange bewährten Form von überschaubarer sozialer Ordnung“. Auf die Anglizismen wird geschimpft, gemeint aber ist die Globalisierung.
Gelassenheit ist meist sympathisch und Götterts Plädoyer für Mehrsprachigkeit überzeugt. Doch hat sein Buch zwei große Schwächen, eine der Darstellung, eine der Argumentation. Die historischen Passagen wirken arg gerafft und sind in den Details nicht immer zuverlässig. Dafür ermüden die Berichte über Gremiensitzungen und Debatten, an denen der Autor beteiligt war, die aber dem Laien wie dem Kenner herzlich egal sein können. Da trifft sich jener Ausschuss, dort dieser Beirat – und es wird davon berichtet wie von Haupt- und Staatsaktionen. Vielleicht erklärt diese Befangenheit, warum Karl-Heinz Göttert seinen Widersachern, den Sprachpflegern früherer Jahrhunderte, den Warnern vor Verfall, den Kritikern der Anglizismen so selten Gerechtigkeit widerfahren lässt. Gewiss klingt vieles in unseren Ohren seltsam und wahrscheinlich wäre es besser gewesen, wenn einer wie Friedrich Ludwig Jahn sich ausschließlich dem Turnen verschrieben hätte, aber ohne den Ehrgeiz der Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts, ohne die mal von Patriotismus, mal von Nationalismus befeuerten Wörterbuchprojekte und Normierungsversuche sähe das Deutsche anders aus. Kein Mensch muss sich vor dem „Kuvert“ fürchten, wie schön jedoch, dass es daneben den „Briefumschlag“ gibt.
Zu rasch gleitet Göttert über Sprachkonflikte und Interessenkollisionen hinweg. Sprachenunterricht und Ausbildung sind große, umkämpfte Märkte. Die Dominanz des Englischen als der Verkehrssprache der Welt ist unangefochten. Je nach Schätzung verfügen zwei bis drei Milliarden Menschen über wenigstens elementare Englischkenntnisse. Da, wie Göttert schreibt, gut achtzig Prozent der auf Englisch geführten Kommunikation ohne Muttersprache vonstatten geht, ist es wohl gerechtfertigt von Globish zu sprechen, einem Idiom, das seinen Zweck erfüllt und gebildete Engländer mit Grausen erfüllen mag. Wie aber wirkt dies auf die Sprachen ein? Die Zurückweisung der Verfallsthesen entbindet nicht davon, diese Frage genauer zu untersuchen.
Einen guten Eindruck von der gegenwärtigen Hierarchie der Sprachen vermittelt das vergnügliche, in ein sehr flüssiges, klares Deutsch gebrachte Buch von David Bellos. Diese kluge Einführung in die Probleme des Übersetzens betrachtet jede Frage – Sind Übersetzer Verräter? Was ist unübersetzbar? Wie versteht man Wörterbücher? – aus verschiedenen Perspektiven. David Bellos hat Ismail Kadare und Georges Perec übersetzt, er kennt die Nöte der Simultandolmetscher und ist von einem unumstößlich überzeugt: „In allen Sprachen finden ihre Sprecher alle Mittel vor, die sie zum Erreichen aller von ihnen gewünschten Zwecke benötigen.“
Die Buchkultur, die wir kennen, lieben und gern verteidigen, scheint vor allem auf Frankreich, Deutschland, Großbritannien und die USA konzentriert. Statistiken belegen, dass die interkulturellen Beziehungen um das Englische wie um ein Zentralgestirn kreisen. In etwa 75 Prozent aller einzelnen Übersetzungen ist Englisch Quell- oder Zielsprache. Dann folgen aber schon Französisch, Deutsch und Russisch. Die Unesco erfasst Übersetzungen in einer eigenen Datenbank. Ihr zufolge finden 42 Prozent der Übersetzungen zwischen bloß drei Sprachen statt: Englisch, Deutsch und Französisch.
Das Englische hat eine entscheidende Stellung für alle, die Aufmerksamkeit suchen, viele erreichen wollen. Daneben fungieren das Deutsche und das Französische als Brückensprachen. Bellos spricht mit guten Gründen von Aufwärts- oder Abwärts-Übersetzen, je nach dem Prestige und der Verbreitung einer Sprache. Der Zustand sei keineswegs natürlich und daher zu ändern, wenn genug Menschen ihn ändern wollten.
Für Literaturkritiker und Sprachhistoriker gleichermaßen interessant sind die Überlegungen zum „Übersetzen als Dialekt“. Das Englisch der literarischen Übersetzungen unterscheide sich, so Bellos, vom ungelenken Englisch der Sozialwissenschaften und des internationalen Journalismus, aber es sei doch ein „Englisch-minus“, geschmeidig und unsichtbar, eine korrekte Sprache, die so kaum gesprochen wird. Auch im Französischen lässt sich die „übersetzungstypische Tendenz zum Gebrauch von Standardformen der Empfängersprache“ beobachten. Übersetzungen erweisen sich daher als Hüter, manchmal sogar als Schöpfer von Standardformen. Wem also an richtiger Sprache gelegen ist, der sollte Übersetzungen fördern. Könnte es sein, dass nicht durch Ausschluss, sondern durch die Mischung entsteht, was man „Sprachreinheit“ nennt?
Auch diese Frage wird sich nur beantworten lassen, wenn man eine Vorstellung von den Mechanismen des Sprachwandels besitzt und eine Diagnose zum Stand der Entwicklung im Deutschen wagt, das ja mehr ist als ein Wörterverzeichnis. Was also tut sich da? Wer es wissen will, muss das Buch des Slawisten und Übersetzungswissenschaftlers Uwe Hinrichs lesen. „Multi Kulti Deutsch“ ist von der Verengung auf Sprachpflege und sozialromantischem Kitsch gleichermaßen weit entfernt. Hinrichs behandelt die Veränderungen der deutschen Umgangssprache durch Migranten, durch jene Millionen, denen Deutsch nicht Muttersprache ist. Zum Glück beschränkt sich die Darstellung nicht auf eine Zusammenfassung auffallender Abweichungen. Es wird auch erklärt, welche Eigenschaften des Türkischen, Polnischen, Arabischen, Russischen oder anderer Migrantensprachen regelmäßig wiederkehrende Fehler befördern. Harmoniesüchtige mögen sich daran stören, dass Hinrichs vom „Clash of Languages“ spricht. Aber er hat Recht. Sprachkontakt bedeutet auch Konflikt, wenigstens zwischen verschiedenen sprachlichen Normen.
Was ändert sich? Die Kasus werden abgebaut, Endungen verschwinden, Präpositionen übernehmen die „Lasten der Kasussemantik“, also neue Funktionen, dafür werden sie untereinander ausgetauscht, wie ja auch Muttersprachler Präpositionen häufig beliebig verwenden: Der Interregio nach Potsdam fährt heute von/auf/aus/in/ an/ab Gleis 3 oder einfach nur „fährt heute Gleis 3“. Das Modell „Präposition plus X“ hat gute Chancen, sich durchzusetzen. Möglicherweise wird „X“ dann im Akkusativ stehen, dem Fall mit den besten Überlebensaussichten. Die Artikel, ohnehin eine besondere Tücke des Deutschen, werden schon schwankend verwendet. Dass der Komparativ mit „mehr“ auf dem Vormarsch ist, wird keiner bestreiten. Normverstöße werden nicht mehr sanktioniert, Muttersprachler simplifizieren gern mit.
Hinrichs argumentiert detaillierter als hier nachgezeichnet werden kann. Er hat einen Verblüffungseffekt für sich: Wer nach der Lektüre Zeitung liest, Fernsehen schaut, im Internet surft, stolpert ständig über Beispiele für die von ihm zusammengetragenen Abweichungen. Die Veränderungen durch die Migration verstärken die Entwicklung von einer synthetischen hin zu einer analytischen Sprache, wie es das Englische ist. Die beiden stärksten Einflüsse auf die Gegenwartssprache befördern die „typologische Drift“, in der sich das Deutsche ohnehin befindet. Die wachsende Bedeutung von Schnelligkeit, von mündlicher Kommunikation und von Kommunikation per SMS, Facebook usw., die zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit zu verorten wären, führen zu einer Aufweichung der Norm und begünstigen reduzierte, vereinfachte Formen. Hier wirken also mehrere Tendenzen in eine Richtung: langfristiger Wandel, das Deutsch der Migranten, der Einfluss des Englischen und die Zwanglosigkeit in digitalen Welten. Noch ist gesellschaftlicher Aufstieg an die Beherrschung der Sprachnormen gebunden.
Ob das so bleibt, ob auch das Schriftdeutsche die Änderungen übernehmen wird oder ob Schriftdeutsch und Umgangssprache sich auseinander entwickeln, werden wir sehen. Die Entwicklung kann beeinflusst werden, aber nicht durch Puristenhysterie, sondern durch soliden Grammatikunterricht und Förderung von Mehrsprachigkeit.
Karl-Heinz Göttert: Abschied von Mutter Sprache. Deutsch in Zeiten der Globalisierung. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013.368 S., 22,99 Euro, E-Book 19,99 Euro.
David Bellos: Was macht der Fisch in meinem Ohr? Sprache, Übersetzen und die Bedeutung von allem. Aus dem Englischen von Silvia Morawetz. Eichborn Verlag, Köln 2013. 448 S., 24,99 E., E-Book 18,99 E.
Uwe Hinrichs: Multi Kulti Deutsch. Wie Migration die deutsche Sprache verändert. C. H. Beck, München 2013. 294 S., 14,95 Euro, E-Book 11,99 Euro.
In etwa 75 Prozent aller
Übersetzungen ist Englisch
Quell- oder Zielsprache
Etwa 16 Millionen Migranten
leben hier – und sie
verändern die Umgangssprache
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.11.2013Das ist mehr einfach wie alter Mann Schopenhauer
Grammatisch entspannt: Gesprochenes Deutsch folgt einem Trend zur Vereinfachung. Aber ist dafür wirklich, wie der Linguist Uwe Hinrichs meint, die Sprachpraxis von Migranten verantwortlich?
Es gibt Turbowandel von deutsche Sprache und kann jeder beobachten schon in sein Alltag ein starker Trend auf mehr einfach. Das in etwa ist die Form, die nach Uwe Hinrichs' Meinung das Deutsch einer gar nicht mehr so fernen Zukunft haben wird. Die Kasusendungen sind abgeschliffen, grammatische Übereinstimmungen zwischen den Wörtern im Satz spielen kaum noch eine Rolle, Präpositionen stehen zur beliebigen Verwendung, das grammatische Geschlecht ist eingedampft, der Konjunktiv geht den Bach hinunter, die Satzstrukturen versimpeln - kurz: vom Formenreichtum und von der Regelstrenge des heutigen Deutsch wird, jedenfalls in seiner mündlichen Existenzform, kaum noch etwas übrig sein.
Was der Leipziger Linguist hier skizziert, ist eine handlich vereinfachte, grammatisch sehr entspannte Sprache, die allerdings auch weniger nuanciert und präzise ist: Was ein Satz genau bedeutet, wird viel stärker vom Kontext abhängen als heute. Dieses Zukunftsdeutsch trägt viele "kreolische" Züge, ähnlich jenen tropischen Varianten des Französischen, Spanischen, Englischen oder Niederländischen, deren grammatische Feinheiten durch Mischungen mit vielen anderen Idiomen radikal eliminiert wurden. Im Fall des Deutschen vollzieht sich dieser Abbau aber nicht fern in Übersee, sondern auf muttersprachlichem Heimatboden.
Motor dieser Entwicklung sind in Uwe Hinrichs' Szenario die Sprachen der Einwanderer, die seit einem halben Jahrhundert die Sprachlandschaft in Deutschland und Österreich in immer stärkerem Maße prägen, an erster Stelle Türkisch, Arabisch, Russisch und die Sprachen des ehemaligen Jugoslawiens.
Hinrichs sieht hier Entwicklungen im Gange, wie er sie als Experte für südslawische Sprachen schon seit langem auf dem Balkan beobachtet. In seinen Augen ist das Thema von seinen germanistischen Kollegen bislang stiefmütterlich behandelt worden, gemessen am Tempo und an den einschneidenden Folgen dieser Vorgänge. Verantwortlich für diese Zurückhaltung macht er ein politisch korrektes Tabu: Viele Linguisten fürchteten, die Beschäftigung mit solchen Fragen könnte einer Stigmatisierung der Immigranten Vorschub leisten.
Ob wirklich solche Hemmungen die Ursache sind oder nicht eher die Scheu vor dem hohen Forschungsaufwand, sei dahingestellt: Tatsache ist, dass es, abgesehen von vereinzelten Studien, bislang nur wenige Daten und Erkenntnisse zur Rolle und zum Einfluss der vielen Sprachen in der Einwanderungsgesellschaft von heute gibt. Systematisch erhobene Datensammlungen legt nun allerdings auch Uwe Hinrichs nicht vor. Er präsentiert zwar viele Beispiele, doch woher sie stammen und wie sie gewonnen wurden, erfährt der Leser meistens nicht. Hinrichs begnügt sich mit einem vagen Hinweis auf seine jahrzehntelangen Beobachtungen des Sprachgebrauchs - doch um das Gewicht und die Reichweite der aufgeführten Sprachmischungen und Normverstöße einschätzen zu können, wüsste man schon gern etwas genauer, in welchem gesellschaftlichen und kommunikativen Zusammenhang sie wann und wo geäußert wurden.
Um den Hintergrund des angenommenen Kreolisierungs-Szenarios zu skizzieren, gibt Hinrichs einen sehr informativen Überblick über die für Deutschland wichtigsten Migrantensprachen. In diesem - dem lesenswertesten - Teil seines Buches arbeitet er die lautlichen und grammatischen Besonderheiten heraus, die das Deutsch der Migranten prägen und seiner Einschätzung nach auch das der Mehrheitsgesellschaft zunehmend einfärben. Viele Einwanderer springen zwischen einem nur bruchstückhaft gelernten Deutsch und ihrer türkischen, arabischen oder russischen Muttersprache hin und her. Entscheidend ist, dass die Verständigung funktioniert, für Feinheiten bleibt wenig Raum. Korrektes Sprechen - sei es des Deutschen oder auch der eigenen Muttersprache - gilt als nicht mehr so wichtig, stattdessen ziehen die Sprecher aus dem Wandern zwischen den verschiedenen Sprachwelten ein eigenes Identitätsgefühl.
Berühmt geworden ist das "Kiezdeutsch", eine sich aus mehreren Sprachen speisende Mischform, die von Jugendlichen zu einem "coolen" Slang geformt wurde, der mindestens ebenso sehr als Gruppensymbol wie der bloßen Verständigung dient. Für Hinrichs handelt es sich beim Kiezdeutsch aber nur um die medial hochgespielte Spitze eines Eisbergs. Dessen unter der Oberfläche verborgene Sprachmassen seien zwar weniger spektakulär, aber es seien vor allem diese vielen ganz alltäglichen Sprachkontakte, die die deutsche Standardsprache, wie sie von den Muttersprachlern gesprochen wird, nachhaltig veränderten. Die ist nämlich, glaubt man dem Zustandsbericht des Autors, auf dem Weg der Kreolisierung schon viel weiter fortgeschritten, als den meisten bewusst ist.
Formulierungen wie "mit viele interessierten Jugendliche", "Es gibt da ein ganz begabter Regisseur", "Das ist mehr interessanter" oder "Er stellt die Lösung des Problems in der Verantwortung seiner Mitarbeiter" sind Hinrichs zufolge schon mündliches Normaldeutsch. Die Avantgarde beim grammatischen Rückbauunternehmen bildet für ihn der Einheitsakkusativ à la "Er hat es seinen Freund zugesichert".
Dieser Multifunktionskasus habe sich bereits als Standard flächendeckend bis in die Sprache der Fernsehnachrichten hinein durchgesetzt, so dass den hier eigentlich korrekten Dativ "so gut wie niemand" mehr verwende. Das sind nun freilich kühne Behauptungen. Empirische Belege für die tatsächliche Häufigkeit dieser Normabweichungen bleibt Hinrichs hier wie auch sonst schuldig. Seine spekulative Behauptung, große Korpora gesprochener Sprache würden - wenn es sie denn gäbe - seine Aussagen "ohne Zweifel erweisen", darf man durchaus bezweifeln.
Aber auch wenn Hinrichs, was die Ausmaße des Sprachwandels betrifft, über das Ziel hinausschießt - dass ein solcher stattfindet, ist unbestreitbar. Die in den letzten Jahren wieder populär gewordene Sprachkritik ist eine Reaktion auf diese Umschichtungen. Inwieweit stecken aber wirklich die Migrantensprachen dahinter? Die meisten Sprachwandel-Erscheinungen im muttersprachlichen Deutsch, die Hinrichs beschreibt, hatten schon eingesetzt, lange bevor der erste Gastarbeiter in Deutschland aus dem Zug stieg.
Die Vereinfachung der Flexion mit abbröckelnden grammatischen Endungen ist seit indogermanischen Zeiten im Gange, über die Verwechslung der Präpositionen, die Verhunzung des Konjunktivs und die Verdrängung des Genitivs durch Konstruktionen mit "von" wetterte schon Arthur Schopenhauer, und Wendungen wie "der Mutter ihr Hut" gehören zum dialektalen und umgangssprachlichen Altbestand des Deutschen.
Zwar erwähnt auch Hinrichs, dass es einen solchen langfristigen Sprachwandel gibt, ohne aber zu klären, welche Rolle vor diesem Hintergrund der Einfluss der Migrantensprachen nun eigentlich genau spielt. Auf welchen Wegen, durch welche Mechanismen könnten ihre Mischformen und grammatischen Minimalismen überhaupt in das durchschnittliche Deutsch jenseits der Multikulti-Stadtteile und Jugendtreffs der Ballungszentren gelangen?
Dazu äußert sich der Autor nur höchst vage und verweist stattdessen auf die Sprachgeschichte, die in der Tat viele Fälle von Kreolisierungen durch intensive Sprachkontakte aufweist. Das Englische bietet dafür ein klassisches Beispiel: Die Sprache, die die angelsächsischen Invasoren auf die Insel brachten, büßte im Munde der Kelten, Wikinger und Normannen über die Jahrhunderte hinweg viele ihrer grammatischen Feinheiten ein. Heute hat Englisch unter den germanischen Sprachen die reduzierteste Wortgrammatik.
Doch ob das Deutsche sich hierzu analog entwickeln wird, ist völlig offen. Eine Voraussetzung dafür ist nicht nur die Existenz migrantischer Sprachmischungen, sondern auch, dass sie sich verfestigen und dass der gesellschaftliche und kulturelle Einfluss dieser Gruppen und das Prestige ihrer Sprechweise massiv steigt. Fraglich ist, ob das "Turbo"-Tempo, das Hinrichs dem momentanen Sprachwandel zuschreibt, real ist oder nur so empfunden wird, weil der Vergleich mit der Vergangenheit ein verzerrtes Bild liefert.
Die Sprache von der Aufklärungszeit bis in das frühe zwanzigste Jahrhundert hinein erscheint einheitlicher und regelkonformer als die der Gegenwart, denn die meisten überlieferten Texte stammen aus den Federn einer dünnen bildungsbürgerlichen Schicht von Schriftstellern, Wissenschaftlern oder Journalisten, oft noch gefiltert und geglättet durch Lektoren und Redakteure. Wie die vielen, die man heute als bildungsfern bezeichnen würde, damals geschrieben oder gar gesprochen haben, weiß man kaum. Die wenigen Dokumente von Bauern, Handwerkern oder Arbeitern zeigen jedenfalls ein Deutsch, das vom Ideal der gepflegten Hochsprache ähnlich stark abweicht wie das, mit dem Internet-Chats, Krawall-Shows und Vulgär-Comedies heute die Öffentlichkeit fluten und damit den Eindruck einer Sprache im Dauerumbruch erwecken.
Das eigentlich Neue ist nicht die Existenz von Verschleifungen und Versimpelungen in der Umgangssprache oder der Grobsprech der Slangs und Jargons, neu ist deren mediale Dauerpräsenz. Sie dürfte, gepaart mit dem Wunsch, "locker rüberzukommen", und flankiert von einem verbreiteten Kult der zur Schau gestellten Unbildung, die Geltung und Akzeptanz standardsprachlicher Normen viel stärker unterhöhlen als der Einfluss der Migrantensprachen. Die sind gewiss ein Rädchen im Getriebe des Sprachwandels, aber nicht ihr Motor.
WOLFGANG KRISCHKE.
Uwe Hinrichs: "Multi Kulti Deutsch". Wie Migration die deutsche Sprache verändert.
Verlag C. H. Beck, München 2013. 294 S., geb., 14,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Grammatisch entspannt: Gesprochenes Deutsch folgt einem Trend zur Vereinfachung. Aber ist dafür wirklich, wie der Linguist Uwe Hinrichs meint, die Sprachpraxis von Migranten verantwortlich?
Es gibt Turbowandel von deutsche Sprache und kann jeder beobachten schon in sein Alltag ein starker Trend auf mehr einfach. Das in etwa ist die Form, die nach Uwe Hinrichs' Meinung das Deutsch einer gar nicht mehr so fernen Zukunft haben wird. Die Kasusendungen sind abgeschliffen, grammatische Übereinstimmungen zwischen den Wörtern im Satz spielen kaum noch eine Rolle, Präpositionen stehen zur beliebigen Verwendung, das grammatische Geschlecht ist eingedampft, der Konjunktiv geht den Bach hinunter, die Satzstrukturen versimpeln - kurz: vom Formenreichtum und von der Regelstrenge des heutigen Deutsch wird, jedenfalls in seiner mündlichen Existenzform, kaum noch etwas übrig sein.
Was der Leipziger Linguist hier skizziert, ist eine handlich vereinfachte, grammatisch sehr entspannte Sprache, die allerdings auch weniger nuanciert und präzise ist: Was ein Satz genau bedeutet, wird viel stärker vom Kontext abhängen als heute. Dieses Zukunftsdeutsch trägt viele "kreolische" Züge, ähnlich jenen tropischen Varianten des Französischen, Spanischen, Englischen oder Niederländischen, deren grammatische Feinheiten durch Mischungen mit vielen anderen Idiomen radikal eliminiert wurden. Im Fall des Deutschen vollzieht sich dieser Abbau aber nicht fern in Übersee, sondern auf muttersprachlichem Heimatboden.
Motor dieser Entwicklung sind in Uwe Hinrichs' Szenario die Sprachen der Einwanderer, die seit einem halben Jahrhundert die Sprachlandschaft in Deutschland und Österreich in immer stärkerem Maße prägen, an erster Stelle Türkisch, Arabisch, Russisch und die Sprachen des ehemaligen Jugoslawiens.
Hinrichs sieht hier Entwicklungen im Gange, wie er sie als Experte für südslawische Sprachen schon seit langem auf dem Balkan beobachtet. In seinen Augen ist das Thema von seinen germanistischen Kollegen bislang stiefmütterlich behandelt worden, gemessen am Tempo und an den einschneidenden Folgen dieser Vorgänge. Verantwortlich für diese Zurückhaltung macht er ein politisch korrektes Tabu: Viele Linguisten fürchteten, die Beschäftigung mit solchen Fragen könnte einer Stigmatisierung der Immigranten Vorschub leisten.
Ob wirklich solche Hemmungen die Ursache sind oder nicht eher die Scheu vor dem hohen Forschungsaufwand, sei dahingestellt: Tatsache ist, dass es, abgesehen von vereinzelten Studien, bislang nur wenige Daten und Erkenntnisse zur Rolle und zum Einfluss der vielen Sprachen in der Einwanderungsgesellschaft von heute gibt. Systematisch erhobene Datensammlungen legt nun allerdings auch Uwe Hinrichs nicht vor. Er präsentiert zwar viele Beispiele, doch woher sie stammen und wie sie gewonnen wurden, erfährt der Leser meistens nicht. Hinrichs begnügt sich mit einem vagen Hinweis auf seine jahrzehntelangen Beobachtungen des Sprachgebrauchs - doch um das Gewicht und die Reichweite der aufgeführten Sprachmischungen und Normverstöße einschätzen zu können, wüsste man schon gern etwas genauer, in welchem gesellschaftlichen und kommunikativen Zusammenhang sie wann und wo geäußert wurden.
Um den Hintergrund des angenommenen Kreolisierungs-Szenarios zu skizzieren, gibt Hinrichs einen sehr informativen Überblick über die für Deutschland wichtigsten Migrantensprachen. In diesem - dem lesenswertesten - Teil seines Buches arbeitet er die lautlichen und grammatischen Besonderheiten heraus, die das Deutsch der Migranten prägen und seiner Einschätzung nach auch das der Mehrheitsgesellschaft zunehmend einfärben. Viele Einwanderer springen zwischen einem nur bruchstückhaft gelernten Deutsch und ihrer türkischen, arabischen oder russischen Muttersprache hin und her. Entscheidend ist, dass die Verständigung funktioniert, für Feinheiten bleibt wenig Raum. Korrektes Sprechen - sei es des Deutschen oder auch der eigenen Muttersprache - gilt als nicht mehr so wichtig, stattdessen ziehen die Sprecher aus dem Wandern zwischen den verschiedenen Sprachwelten ein eigenes Identitätsgefühl.
Berühmt geworden ist das "Kiezdeutsch", eine sich aus mehreren Sprachen speisende Mischform, die von Jugendlichen zu einem "coolen" Slang geformt wurde, der mindestens ebenso sehr als Gruppensymbol wie der bloßen Verständigung dient. Für Hinrichs handelt es sich beim Kiezdeutsch aber nur um die medial hochgespielte Spitze eines Eisbergs. Dessen unter der Oberfläche verborgene Sprachmassen seien zwar weniger spektakulär, aber es seien vor allem diese vielen ganz alltäglichen Sprachkontakte, die die deutsche Standardsprache, wie sie von den Muttersprachlern gesprochen wird, nachhaltig veränderten. Die ist nämlich, glaubt man dem Zustandsbericht des Autors, auf dem Weg der Kreolisierung schon viel weiter fortgeschritten, als den meisten bewusst ist.
Formulierungen wie "mit viele interessierten Jugendliche", "Es gibt da ein ganz begabter Regisseur", "Das ist mehr interessanter" oder "Er stellt die Lösung des Problems in der Verantwortung seiner Mitarbeiter" sind Hinrichs zufolge schon mündliches Normaldeutsch. Die Avantgarde beim grammatischen Rückbauunternehmen bildet für ihn der Einheitsakkusativ à la "Er hat es seinen Freund zugesichert".
Dieser Multifunktionskasus habe sich bereits als Standard flächendeckend bis in die Sprache der Fernsehnachrichten hinein durchgesetzt, so dass den hier eigentlich korrekten Dativ "so gut wie niemand" mehr verwende. Das sind nun freilich kühne Behauptungen. Empirische Belege für die tatsächliche Häufigkeit dieser Normabweichungen bleibt Hinrichs hier wie auch sonst schuldig. Seine spekulative Behauptung, große Korpora gesprochener Sprache würden - wenn es sie denn gäbe - seine Aussagen "ohne Zweifel erweisen", darf man durchaus bezweifeln.
Aber auch wenn Hinrichs, was die Ausmaße des Sprachwandels betrifft, über das Ziel hinausschießt - dass ein solcher stattfindet, ist unbestreitbar. Die in den letzten Jahren wieder populär gewordene Sprachkritik ist eine Reaktion auf diese Umschichtungen. Inwieweit stecken aber wirklich die Migrantensprachen dahinter? Die meisten Sprachwandel-Erscheinungen im muttersprachlichen Deutsch, die Hinrichs beschreibt, hatten schon eingesetzt, lange bevor der erste Gastarbeiter in Deutschland aus dem Zug stieg.
Die Vereinfachung der Flexion mit abbröckelnden grammatischen Endungen ist seit indogermanischen Zeiten im Gange, über die Verwechslung der Präpositionen, die Verhunzung des Konjunktivs und die Verdrängung des Genitivs durch Konstruktionen mit "von" wetterte schon Arthur Schopenhauer, und Wendungen wie "der Mutter ihr Hut" gehören zum dialektalen und umgangssprachlichen Altbestand des Deutschen.
Zwar erwähnt auch Hinrichs, dass es einen solchen langfristigen Sprachwandel gibt, ohne aber zu klären, welche Rolle vor diesem Hintergrund der Einfluss der Migrantensprachen nun eigentlich genau spielt. Auf welchen Wegen, durch welche Mechanismen könnten ihre Mischformen und grammatischen Minimalismen überhaupt in das durchschnittliche Deutsch jenseits der Multikulti-Stadtteile und Jugendtreffs der Ballungszentren gelangen?
Dazu äußert sich der Autor nur höchst vage und verweist stattdessen auf die Sprachgeschichte, die in der Tat viele Fälle von Kreolisierungen durch intensive Sprachkontakte aufweist. Das Englische bietet dafür ein klassisches Beispiel: Die Sprache, die die angelsächsischen Invasoren auf die Insel brachten, büßte im Munde der Kelten, Wikinger und Normannen über die Jahrhunderte hinweg viele ihrer grammatischen Feinheiten ein. Heute hat Englisch unter den germanischen Sprachen die reduzierteste Wortgrammatik.
Doch ob das Deutsche sich hierzu analog entwickeln wird, ist völlig offen. Eine Voraussetzung dafür ist nicht nur die Existenz migrantischer Sprachmischungen, sondern auch, dass sie sich verfestigen und dass der gesellschaftliche und kulturelle Einfluss dieser Gruppen und das Prestige ihrer Sprechweise massiv steigt. Fraglich ist, ob das "Turbo"-Tempo, das Hinrichs dem momentanen Sprachwandel zuschreibt, real ist oder nur so empfunden wird, weil der Vergleich mit der Vergangenheit ein verzerrtes Bild liefert.
Die Sprache von der Aufklärungszeit bis in das frühe zwanzigste Jahrhundert hinein erscheint einheitlicher und regelkonformer als die der Gegenwart, denn die meisten überlieferten Texte stammen aus den Federn einer dünnen bildungsbürgerlichen Schicht von Schriftstellern, Wissenschaftlern oder Journalisten, oft noch gefiltert und geglättet durch Lektoren und Redakteure. Wie die vielen, die man heute als bildungsfern bezeichnen würde, damals geschrieben oder gar gesprochen haben, weiß man kaum. Die wenigen Dokumente von Bauern, Handwerkern oder Arbeitern zeigen jedenfalls ein Deutsch, das vom Ideal der gepflegten Hochsprache ähnlich stark abweicht wie das, mit dem Internet-Chats, Krawall-Shows und Vulgär-Comedies heute die Öffentlichkeit fluten und damit den Eindruck einer Sprache im Dauerumbruch erwecken.
Das eigentlich Neue ist nicht die Existenz von Verschleifungen und Versimpelungen in der Umgangssprache oder der Grobsprech der Slangs und Jargons, neu ist deren mediale Dauerpräsenz. Sie dürfte, gepaart mit dem Wunsch, "locker rüberzukommen", und flankiert von einem verbreiteten Kult der zur Schau gestellten Unbildung, die Geltung und Akzeptanz standardsprachlicher Normen viel stärker unterhöhlen als der Einfluss der Migrantensprachen. Die sind gewiss ein Rädchen im Getriebe des Sprachwandels, aber nicht ihr Motor.
WOLFGANG KRISCHKE.
Uwe Hinrichs: "Multi Kulti Deutsch". Wie Migration die deutsche Sprache verändert.
Verlag C. H. Beck, München 2013. 294 S., geb., 14,95 [Euro].
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