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Vor allem in den USA, zunehmend aber auch in Europa mehren sich die "Multiplen Persönlichkeiten": Menschen, die in sich mehrere, meist ganz verschiedene Persönlichkeiten entdecken. Erwachsene sprechen plötzlich mit der Stimme von Kindern, wechseln zwischen Persönlichkeiten von verschiedenem Charakter, Geschlecht, sexueller Neigung und Alter. Als Ursache werden traumatische Erfahrungen in der Kindheit angesehen, fast immer solche sexuellen Mißbrauchs. Ian Hacking hat diese Epidemie Multipler Persönlichkeiten zum Ausgangspunkt seines Buches gemacht. Dabei beleuchtet er nicht nur den…mehr

Produktbeschreibung
Vor allem in den USA, zunehmend aber auch in Europa mehren sich die "Multiplen Persönlichkeiten": Menschen, die in sich mehrere, meist ganz verschiedene Persönlichkeiten entdecken. Erwachsene sprechen plötzlich mit der Stimme von Kindern, wechseln zwischen Persönlichkeiten von verschiedenem Charakter, Geschlecht, sexueller Neigung und Alter. Als Ursache werden traumatische Erfahrungen in der Kindheit angesehen, fast immer solche sexuellen Mißbrauchs. Ian Hacking hat diese Epidemie Multipler Persönlichkeiten zum Ausgangspunkt seines Buches gemacht. Dabei beleuchtet er nicht nur den gesellschaftlichen Kontext, er stellt sich auch die Frage, warum die Erklärung der vielfältigen "Ichs" Multipler Persönlichkeiten durch den Mechanismus selektiven Erinnerns einen so zentralen Stellenwert bekommen konnte.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.10.1996

Ich sind viele andere
Ian Hacking zweifelt an einer Diagnose / Von Hubertus Breuer

Der kanadische Wissenschaftsphilosoph Ian Hacking setzt sich in seiner ausgezeichneten Studie "Multiple Persönlichkeit. Zur Geschichte der Seele in der Moderne" mit der Rolle des individuellen Gedächtnisses in den westlichen Industrienationen auseinander. Ihn interessiert, wie das Gedächtnis eine solch wichtige Rolle in unserem kulturellen Selbstverständnis entwickeln konnte - und wie Wissenschaft, Politik und Medien dabei zusammenspielten. Der Schlüssel zur Beantwortung dieser Frage ist für Hacking die Geschichte der multiplen Persönlichkeit.

Was ist das? Mehrere Charaktere vereinen sich in einem Kopf, von denen jeder einen eigenen Namen, eine Geschichte, Vorlieben, Alter und Geschlecht hat. "Multiple Persönlichkeit" ist aber nicht zu verwechseln mit der Schizophrenie, bei der Denken, Emotionen oder Wahrnehmung auseinanderfallen. Seit den sechziger Jahren wird das Auftreten der multiplen Persönlichkeit vor allem in Nordamerika auf traumatische Erfahrungen sexuellen Mißbrauchs in der Kindheit zurückgeführt - danach entwickeln einige Kinder Alter egos, um mit der bitteren Wirklichkeit besser zurechtzukommen.

Die öffentliche Rolle dieser Krankheit beschreibt Hacking im journalistischen Plauderton. Er erzählt, wie sich in Nordamerika eine politische Bewegung von Psychotherapeuten, multiplen Patienten, Feministinnen und konservativen christlichen Gruppen gebildet hat, die vom sexuellen Mißbrauch als wichtigster Ursache des Leidens überzeugt ist und einen Kreuzzug gegen die Kinderschänder führt. Die Zahl der bekannten Fälle ist drastisch gestiegen: Während um 1970 vielleicht hundert Multiple medizingeschichtlich belegt waren, ging man 1982 davon aus, es gebe rund sechstausend bekannte Fälle; 1992, wie Hacking schreibt, "waren in jeder größeren Stadt in Nordamerika Hunderte von Multiplen in Behandlung".

Eine solche lawinenartige Vermehrung weckt natürlich Zweifel, auch weil es oft vorkommt, daß in den Therapien Erinnerungen an sexuellen Mißbrauch geweckt werden, der nie stattgefunden hat. Es ließ daher nicht lange auf sich warten, bis sich in den Vereinigten Staaten eine Organisation gründete, die sich dagegen wehrte, die multiple Persönlichkeit allein auf sexuelle Kindheitstraumen zurückführen zu wollen - die "False Memory Syndrome Foundation", der neben Wissenschaftlern meist Menschen angehören, die behaupten, zu Unrecht verdächtigt worden zu sein.

Dieses Phänomen nun weckte die Neugier des Philosophen Ian Hacking, der es in seiner Studie zu vermeiden weiß, in dem Streit Partei zu nehmen. Was ihn fasziniert, ist die Wirkungsmacht wissenschaftlicher Ideen. Kaum wird im akademischen Lager eine neue Losung ausgegeben, schießen die entsprechenden Fälle plötzlich wie Pilze aus dem Boden. Solche Ansätze bleiben gerade in der Psychologie nicht allein auf den Elfenbeinturm beschränkt, sondern werden Instrumente politischer Bewegungen. Sie können letztlich sogar die gesamte Alltagskultur verändern. In den Vereinigten Staaten wagt heute niemand mehr ohne Bedenken, einem fremden Kind im Park hilfreich die Hand zu geben.

Folgenreiche Ideen fallen natürlich nicht vom Himmel. Hacking unternimmt eine akribische und detaillierte Analyse, um herauszufinden, wann der Übergang vom Kindheitstrauma zur multiplen Persönlichkeit stattfand. Er entdeckt ihn in den siebziger und achtziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts, als in der Psychotherapie das zuvor nur als körperliche Schockwirkung verstandene Trauma psychisch umgedeutet wurde; etwa durch den mit Hypnose arbeitenden Pariser Pierre Janet oder den jungen Sigmund Freud, der sich später freilich von dieser Schule distanzierte. Die multiple Persönlichkeit wurde von ihnen erstmals mit versunkenen traumatischen Erlebnissen in der Kindheit in Verbindung gebracht. Der Weg zur Heilung solcher Störungen führte über das Gedächtnis - sowohl für den behandelnden Arzt wie für den Patienten. So rückte, wie Hacking argumentiert, das Erinnerungsvermögen ins Zentrum unseres Selbstverständnisses: Ein glücklicher Mensch kann nur sein, wer eine geordnete Vergangenheit hat.

Als das Interesse an der multiplen Persönlichkeit zu Beginn dieses Jahrhunderts nachließ - die Schizophrenie zog die Aufmerksamkeit auf sich, die Psychoanalyse hatte intellektuelle Konjunktur -, nahm die Zahl der beobachteten Fälle wieder drastisch ab. Zu Beginn der sechziger Jahre, als in den Vereinigten Staaten die Psychoanalyse ins Kreuzfeuer der Kritik geriet, stieg die Zahl prompt wieder an. Statt verschiedenster Traumen war es jetzt der sexuelle Mißbrauch, der als Hauptursache ausgemacht wurde.

Neben den historischen Rekonstruktionen ist es das eigentliche Verdienst Hackings, dieses seltsame statistische Auf und Ab philosophisch-pragmatisch zu erklären. Ähnlich wie Foucault, dessen Programm einer Archäologie des Wissens in dieser Studie allgegenwärtig ist, geht Hacking von einer Art "Tiefenwissen" aus, das unsere Art und Weise, die Welt zu betrachten und in ihr zu handeln, bestimmt. Aber Hacking wählt einen etwas anderen Ansatz als der französische Sozialphilosoph - er geht aus von einer rationalen Handlungstheorie. Danach bestimmt unser Wissen darüber, wie wir unser eigenes Handeln und das anderer sinnvoll deuten. Diese Erklärungen wiederum verstärken bestimmte Verhaltensweisen und schließen andere aus - sie greifen also in die Realität ein.

So wird mancher Patient, der Symptome multipler Persönlichkeit aufweist, gerade durch die Psychotherapie erst zu einem wirklichen Musterfall. Das öffentliche Bild multipler Persönlichkeit sowie die gezielten Fragen eines Arztes können den Patienten dazu bringen, seine Erinnerungen der Diagnose unwillkürlich anzupassen - so taucht aus der Vergangenheit plötzlich sexueller Mißbrauch auf, wo zuvor vielleicht nur eine unangenehme Erinnerung war. Denn das aus dem Gedächtnis sich nährende Selbstverständnis wird ständig umgeschrieben, je nachdem, welches Wissen in den Erinnerungsprozeß einfließt. Das wird auch dadurch belegt, daß es kaum multiple Persönlichkeiten gibt, wo diese Diagnose eher unpopulär ist - wie in Europa.

Ian Hackings Argumentation klingt verdächtig nach modischem Werte- und Wissensrelativismus. Doch nimmt er weder die Position ein, Kindesmißbrauch sei nicht moralisch verwerflich, noch, multiple Persönlichkeit sei kein reales menschliches Problem, noch auch, beides hänge nicht zusammen. In den spannenden, von Philosophie, Wissenschaftsgeschichte und kritischer Gegenwartsbetrachtung getragenen Analysen appelliert er vielmehr an die gesellschaftliche Verantwortung: Im Wissen liegen Macht und Verführung. Nur skeptischer Gebrauch kann es in humanen Grenzen halten.

Ian Hacking: "Multiple Persönlichkeit". Zur Geschichte der Seele in der Moderne. Aus dem Amerikanischen von Max Looser. Carl Hanser Verlag, München 1996. 416 S., geb., 58,- DM.

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