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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.12.2009

Es hat wirklich gar keinen Sinn, sentimental zu sein

Eminenter Sprachwitz, bodenlose Selbstironie und tintenschwarzer Humor: In seinem Roman "Murmeljagd" hat Ulrich Becher die Tragödie seiner Zeit in eine herrliche Groteske verwandelt.

Von Ernst Osterkamp

Ein wundersam herrliches Buch: gut, dass wir es wieder lesen können! Eine Herausforderung auch: schön, dass wir uns ihr stellen dürfen! Ein bis zum Ärgernis verschwenderischer Roman schließlich: lassen wir uns von ihm beschenken!

Nur wenige der zahllosen Romane, die in den gewaltigen Magazinen im Untergrund des Museums der modernen Literatur gespeichert sind, erhalten je eine Chance, das Licht der Öffentlichkeit noch einmal zu erblicken. Die Verweildauer der Bücher auf dem Markt wird immer kürzer, und was einmal nicht mehr lieferbar ist, ist in der Regel, nun ja, für immer geliefert. Unter diesen Bedingungen bereitet es einem melancholisch die Schädelstätten der modernen Literatur betrachtenden Leser besondere Genugtuung, wenn einmal ein mutiger Verlag einem uralten Roman die Chance gibt, neue Leser zu gewinnen. In diesem Fall erschien dieser uralte Roman vor vier Jahrzehnten und erweist sich bei der Neulektüre als erstaunlich frisch.

Sein Verfasser hat nie die Aufmerksamkeit des Literaturbetriebs gefunden und war mit Preisen nicht gesegnet. Ulrich Becher, geboren 1910 in Berlin, debütierte 1932 mit dem Erzählungsband "Männer machen Fehler", erschienen bei Ernst Rowohlt, und emigrierte als linker Gegner der Nationalsozialisten 1933 zunächst nach Wien, dann 1938 in die Schweiz, von dort 1941 nach Brasilien, schließlich 1944 nach New York. 1948 kehrte er nach Wien zurück und ließ sich 1954 endgültig in Basel nieder. Sein größter Erfolg als Dramatiker war das antifaschistische Possenspiel "Der Bockerer" (1948); manche seiner Dramen fanden den Weg ins Fernsehen, ohne dass ihnen dauerhafter Erfolg beschieden gewesen wäre. Als Erzähler hat Ulrich Becher im Rowohlt Verlag ein stattliches Werk vorgelegt; der Aufbau-Verlag verbreitete die Bücher des erklärten Sozialisten in Lizenzausgaben in der DDR. Im Jahr 1989, kurz vor dem Tode Bechers 1990, erschien sein umfangreicher Briefwechsel mit George Grosz, dessen Schüler er in Berlin gewesen war und mit dem ihn lebenslang eine auch politisch spannungsvolle Freundschaft verband.

Man merkt es dem Erzähler an, dass er bei Grosz in die Schule gegangen ist: Satirisch übersteigerte Milieustudien, ins Groteske verzeichnete Sozialcharaktere, ein entschiedener Blick fürs Abseitige und Skurrile im Alltäglichen verleihen seiner Prosa einen Charme, den man sozial-infernalisch nennen könnte. Er entfaltet sich aufs Herrlichste in der 1969 erschienenen "Murmeljagd", seinem erfolgreichsten Roman, dem siebenhundert Seiten umfassenden Bericht über die seelische Höllenfahrt, die der österreichische Schriftsteller Albert Trebla im Sommer 1938 im ersten Monat seines Schweizer Exils absolviert. Er vollführt sie mit erstaunlicher Heiterkeit, weil er sich - und auch hierin erweist sich die Nähe zu George Grosz - bereits mit dem ersten Satz des Romans alle Sentimentalitäten verbietet: "Wissen Sie, gnädige Frau, es hat wirklich gar keinen Sinn, sentimental zu sein." Das ist ein Satz aus einem Kasperlespiel; Trebla zitiert ihn, um seiner Frau über die eben eingetroffene Nachricht, dass sein bester Freund im KZ Dachau ermordet worden sei, hinwegzuhelfen. Diesen Satz macht er zur Maxime seines Erzählens.

Albert Trebla, altem österreichischen Adel entstammend, im Krieg als Flieger mit einer markanten Stirnnarbe gesegnet, als überzeugter Sozialist im Kampf gegen Dollfuß engagiert und immer wieder inhaftiert, entzieht sich nach dem "Anschluss" Österreichs unter Einsatz des Götzzitats dem Liebeswerben ehemaliger Kriegskameraden, die mittlerweile zu den Nationalsozialisten hinübergewechselt sind, und flieht mit seiner liebreizenden Frau Xane in die Schweiz. Xane ist die Tochter des - in Österreich gebliebenen - berühmten Clowns Giaxa, der mit seinen virtuos die Rituale des Militärs parodierenden Reiterkunststücken jahrzehntelang die Welt zum Lachen gebracht hat. Das Paar zieht sich in ein beschauliches Bergnest in der Nähe von Sankt Moritz zurück.

Aber die Idylle erweist sich für Trebla rasch als trügerisch. Er ist davon überzeugt, dass ihn die Schergen Hitlers, des von ihm verachteten "Kleinhäuslers", in seinem Refugium zu erledigen versuchen werden - und meint sogleich, in zwei merkwürdigen jungen Österreichern seine als harmlose Kurgäste getarnten Verfolger erkannt zu haben. Dann tritt eine Serie sonderbarer Selbstmorde ein, deren Augenzeuge Trebla wird: Zuerst ertrinkt ein versoffener Rechtsanwalt mit einem Rudel Spaniels im See, dann ertränkt sich ein bankrotter Druckereibesitzer auf aparte Weise, schließlich erschießt sich ein hübscher junger Mann, für dessen Geliebte sich Trebla auf ungebührliche Art interessiert hat - Grund genug für ihn, sich nun von vielen Seiten verfolgt zu wähnen. Er fühlt sich in der Rolle eines Murmeltiers, auf das die Jagd eröffnet ist - bis er sich entschließt, selbst zum Jäger zu werden.

So wird das Leben für Trebla zu einer sich beschleunigenden Fahrt in einer Geisterbahn, bei der er seine Frau Xane, die nichts von alledem wahrnimmt, mehr und mehr aus den Augen verliert (während andere junge Frauen ihn massiv anzuziehen beginnen). Der seelische Aufruhr wird verstärkt durch die entsetzlichen Nachrichten, die Trebla über den Tod politischer Freunde, vor allem aber über denjenigen seines Schwiegervaters Giaxa im Konzentrationslager Dachau erhält, und als wäre dies noch nicht genug, überschwemmen ihn - virtuos von Becher in Form von Rückblenden und Parallelmontagen in die Erzählung eingebaut - belastende Erinnerungen an seine Kriegserfahrungen und an die politischen Kämpfe, in die er verwickelt war. Was Einbildung, was Wirklichkeit ist, kann der im letzten Buch des Romans von seinen Phantasien und Erinnerungen durch eine pechschwarze Nacht Gejagte nicht mehr unterscheiden - bis schließlich im letzten Absatz Xane dem Spuk mit einigen souverän unsentimentalen Sätzen (vorerst) ein Ende bereitet.

Das klingt, als Psychogramm eines ins Exil und im Exil Gejagten, schlimm und ist dies auch. Dafür aber, dass der Leser den Parcours durch die Geisterbahn dieser finsteren Epoche zwar atemlos, aber dennoch mit gefasster Heiterkeit absolviert, sorgen der eminente Sprachwitz, die bodenlose Selbstironie und der tintenschwarze Humor dieses Erzählers, für den die Tragödie seiner Zeit von einer Groteske nicht zu unterscheiden war. Er selbst liefert im Roman immer wieder die Stichworte für den Kommentar zu seiner Zeit, als welcher das Werk gelesen werden will: Tragigroteske, Buffonerie der Bedrohung, Jahrmarkt des Schreckens, Geisterbahn, Grand Guignol, eine kriminelle Epoche, über die sich nur in Form eines "Antikriminalromans" schreiben ließ. Manchmal lässt Becher seiner Neigung zur Kolportage leichthändig die Zügel schießen, aber dann weiß und sagt er es auch: "Vertauschte Rollen wie in billigem Kriminalfilm."

Becher lässt also tatsächlich niemals Sentimentalität aufkommen, gerade dann nicht, wenn der Schrecken am größten ist. Er erläutert sein erzählerisches Verfahren in wiederum ironischer Brechung, als er einen eben aus dem KZ geflohenen kommunistischen Funktionär beim nächtlichen Billardspiel - genau in der Mitte des Romans! - detailgesättigt davon berichten lässt, wie der große alte Clown Giaxa mit Würde und einer ungeheuren geistigen Kraft zum Widerstand gegen seine Peiniger im KZ in den Tod geht und sich dabei selbst noch einen großen Auftritt verschafft: "Kurios, wie sachlich-plastisch solch ein kommunistischer Billardchampion zu erzählen weiß, mit welch gezügelter Emotion dabei, welcher Disziplin und Distanz (selbst wenn er ein Schmähwort einsetzt) gegenüber dem Tatort tausendfachen und eines, seines eigenen Leidens, dem er soeben entfloh." Wer die Erzählung vom Todesritt Giaxas, ein atemberaubendes erzählerisches Bravourstück, gelesen hat, wird sie nie mehr vergessen.

Man hat Ulrich Becher zu seinen Lebzeiten gern sprachlichen Manierismus vorgeworfen oder gar einen spätexpressionistischen Darstellungsstil. Seine heutigen Leser werden das vielleicht anders sehen und in Zeiten einer rapiden sprachlichen Verarmung doch wohl eher den staunenswerten sprachlichen Reichtum dieses Romans und die Differenzierungskunst eines unangestrengt virtuosen Autors bewundern, der in vielen Sprachen zu Hause war und Soziolekte wie Dialekte zur Charakterisierung seiner Figuren treffsicher einzusetzen verstand. Bechers von Witz und Ironie durchtränkte Sprache ist in den letzten vier Jahrzehnten jedenfalls erstaunlich wenig gealtert. Der Roman besitzt herrlich verschrobene Charaktere, wundersam skurrile Dialoge, Szenen von groteskem Aberwitz, Situationen von hoher Spannung, eine eminente Fülle an historischen Details, Tragisches und Witziges, Witzig-Tragisches und Tragisch-Witziges.

Wenn sich dennoch etwas gegen ihn einwenden lässt, dann ist es dies: Er besitzt von allem zu viel. Diesem Erzähler fehlt der Sinn für Ökonomie; er ist so reich, dass er es sich leistet, verschwenderisch zu erzählen. Wenn ihm zum Beispiel ein Bild von Gauguin für seinen Roman wichtig ist, dann versäumt er es nicht, auch noch das Leben Gauguins zu erzählen. Das aber heißt: Er treibt gelegentlich auch Verschwendung mit der Zeit des Lesers und zwingt ihn dazu, sich ausgerechnet auf einer Fahrt mit der Geisterbahn überfüttern zu lassen. Im Übrigen ist der Leser auch oft schneller als der Erzähler und hat seine Schlüsse schon gezogen, bevor dieser sie ihm darlegt. Kurz: Fünfzig bis hundert Seiten weniger hätten dem Roman nicht geschadet.

Dennoch: ein großer Roman, dem, bevor er erneut ins Mausoleum der Moderne wandert, viele Leser zu wünschen sind. Man ist dem Verlag dankbar dafür, dass er ihn pünktlich zum hundertsten Geburtstag Ulrich Bechers am 2. Januar 2010 in einer schönen Neuausgabe wieder zugänglich gemacht hat. Man wäre ihm noch dankbarer gewesen, wenn er dem Buch ein kurzes Nachwort hinzugefügt hätte, das das Nötigste über den Autor und sein Werk mitteilt.

Ulrich Becher: "Murmeljagd". Roman. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2009. 700 S., geb., 24,90 [Euro].

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»Ein zu Unrecht vergessenes Meisterwerk der deutschsprachigen Literatur.«Denis Scheck, Druckfrisch»So gutgelaunt wurde selten eine Weltverzweiflung beschrieben. Ulrich Becher wirbelt die Sprache um und um, als hätte er sie erfunden.«Volker Weidermann, Frankfurter Allgemeine Zeitung»Murmeljagd ist einer der besten Romane, die nach 1945 in deutscher Sprache geschrieben wurden.«Bernhard Fetz, Neue Zürcher Zeitung»Genau die Art Buch, von denen es in der deutschen Literatur so wenige gibt: ein sprachlich wagemutiges, unterhaltsames, engagiertes und skurriles Epos.«Katharina Döbler, Deutschlandradio Kultur»Etliche Freunde haben [...] eine 'Murmeljagd' zum Geburtstag bekommen, und ich bilde mir ein, ihnen nicht ein Buch, sondern ein Erlebnis geschenkt zu haben.«Claudia Mäder, Neue Zürcher Zeitung»Bloß nicht zu schnell lesen, jeden Tag nur zehn Seiten, ich will, dass dieses Buch nie zu Ende geht. (...) Ein expressionistisches Meisterwerk.«Eva Menasse, Deutschlandfunk Kultur»Eminenter Sprachwitz, bodenlose Selbstironie und tintenschwarzer Humor (...). Ein wundersam herrliches Buch.«Ernst Osterkamp, Frankfurter Allgemeine Zeitung»Es wimmelt in 'Murmeljagd' von bizarren Gestalten und rasanten Dialogen. Das Buch ist ein vergnüglicher Höllenritt«Manfred Papst, Neue Zürcher Zeitung»Becher nimmt in 'Murmeljagd', in das er elf Jahre Vorarbeit steckte, einen Teil seiner Autobiografie her und macht daraus einen Pageturner ersten Grades.«Konrad Holzer, BuchKultur»Ulrich Bechers wichtigster Roman ist 'Murmeljagd', in dem er seine reichlich wechselhafte Lebensgeschichte, aber auch seine Kämpfe nach der Rückkehr aus dem Exil verarbeitet hat.«Peter Zimmermann, Ex libris (ORF, Ö1)»Jetzt ist Becher wieder da. Und bekommt auch endlich den Platz, den er verdient: den als einer aus der ersten Garde der deutschsprachigen Exilliteratur.«Michael Luisier, Kontext (SRF 2 Kultur)…mehr