Wie sind Nähe und Ferne miteinander verstrickt? Wie leibliche Erfahrungen, meine immer schon eingebundenen, unbeständigen, auch maskierten Konstitutionen mit der malträtierten Erde als Orientierungsgröße verschmolzen? Die planetarische Perspektive und die unmittelbare, ihr Abstand erscheint schimärenhaft, wenn ich mich durch die Sprache bewege. So ragen in den hier versammelten Texten erdbezogene Fragen aus Ich-Details, unumwunden; Sprachverläufe
bilden Amorphes, fädeln sich auf in Sequenzen, springen von Artifiziellem zu Erinnerungen und überpersönlichen Verlusten, sind wechselhaft. Dabei gleiten sie auch in Sagenhaftes und unbewusste Regionen, in denen die Suche nicht mehr trägt. "Großer Ausholversuch fällt zurück in einen Körper." Dieser Körper verwandelt sich zur Pflanze; hält sich schlecht, landet im Matsch. Dort könnte es weitergehen.
- Sonja vom Brocke
bilden Amorphes, fädeln sich auf in Sequenzen, springen von Artifiziellem zu Erinnerungen und überpersönlichen Verlusten, sind wechselhaft. Dabei gleiten sie auch in Sagenhaftes und unbewusste Regionen, in denen die Suche nicht mehr trägt. "Großer Ausholversuch fällt zurück in einen Körper." Dieser Körper verwandelt sich zur Pflanze; hält sich schlecht, landet im Matsch. Dort könnte es weitergehen.
- Sonja vom Brocke
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Christian Metz findet Sonja vom Brockes Langgedichte poetisch bemerkenswert. Immer wieder kann er darin lesen, immer wieder entdeckt er darin das Thema der Verwandlung vom Leben zum Tod oder auch von der Pflanzen- zur digitalen Welt. Wie die Autorin Diskrepantes versammelt, in "dunkle" Verse fasst, scheint Metz nur auf den ersten Blick zufällig. Der zweite Blick offenbart für ihn die Genauigkeit der Komposition und die Luzidität der Beobachtungen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.11.2020Satt werden,
ohne zu begreifen
Magisch: Sonja vom Brockes
neuer Gedichtband „Mush“
Was für eine Vorstellung, man könne auf der Mondoberfläche herumkriechen und in einen Krater rollen. Vielleicht wäre dort „Silberlicht“ zu sehen, „Silberluft“ zu spüren, und „metallene Klappflügler“ schwebten umher. „De-form“ hat Sonja vom Brocke dieses Gedicht genannt. Der Titel deutet schon an, dass sie sich für die Auflösung fester Fügungen interessiert, für Verwandlungsprozesse, in denen alles im Fluss ist, zu denen auch das Ungestalte und Struppige gehören, ein „Ährenclown“ etwa oder eine „Fleddermähne von Wusch“.
Diese Verwandlungen gleichen am ehesten den Metamorphosen, die sich im Inneren eines Insektenkokons vollziehen. „Mush“, der Brei, das Mus (in dem auch die Muse anklingt) ist Sonja vom Brocke dabei wichtiger als der schöne Schmetterling, der am Ende aus dem Kokon hervorgehen könnte. Nicht von ungefähr schreibt sie an einer Stelle vom „Mischmasch“ und führt im Anhang als eine ihrer Quellen die Ovidschen „Metamorphosen“ an, aber auch Bücher über die Entwicklung und Sinnlichkeit der Pflanzen. Immer wieder finden sich in den Versen Verbindungen aus Körper-, „Umwelt“- und Tiermomenten, die zu multisensorischen, gleichsam synästhetischen Sprachfiguren führen: „S und DU / zerschmelzen zu Halmen, die duften, wenn sie krähen.“
Wie schon in ihrem Gedichtband „Venice singt“ (2015) verknüpft vom Brocke eigene Erinnerungssplitter mit Ausflügen in die Bildende Kunst unter Bezugnahmen auf die Zeit. Hier werden Kriege „gelotst“, tauchen Wappen aus „Gestrüpp, Müll“ auf, andernorts reflektiert sie „Grund- und Himmelsgifte“ in den Versen. Regenwürmer lockern den Boden auf und reichern ihn an, ziehen Röhren für Wasser, Luft und Wärme – und die menschlichen Körper und die ganze „Weltkugel“ hängen von dieser „schillernden Vielfachleistung“ ab. Doch die Verbindung wird in den Gedichten schon im Modus des „das war einmal“ aufgerufen. Dabei gelingt es vom Brocke, platte Gegenwartskritik zu umschiffen, vielmehr machen die Gedichte spürbar, dass die stärksten Vorurteile in die Sprache selbst einwandern können, Wertungen eingeschleust werden, ein „Raubbau“, der die Sprache kaum merklich unterhöhlt.
So heißt es in konsequenter Fortschreibung dieser Reflexionen einmal: „Hier ist keine Botschaft zu erwarten.“ Ein Satz, der selbst ein wenig nach Botschaft klingt. Doch die Gedichte wissen um solche Widersprüche. Und im Nachdenken darüber, wie man die Auflösung des Festen in poetische Form überführen kann, ohne seinerseits im allzu Fixierten zu landen, gelingen vom Brocke immer wieder Versformationen, die hoch beweglich sind und höchste Präsenz erzeugen. Mal verwandelt sie die Wörter über Lautähnlichkeiten, von „erbaut“ zu „braut“ oder von „Suppe“ über „Puppe“ zu „Posse“, mal erfindet sie klangstarke Wörter wie „Schlafsalve“, „Drosselgrube“ oder „Reisegreis“.
In einer Paarung wie „Fontanelle – Fontange“ (die Knochenlücke am Kopf eines Babys und der Frisurenaufbau aus Draht und Haube, wie er Ende des 17. Jahrhunderts getragen wurde) ist der ganze Bewegungsbogen zwischen einem anfänglich pulsierendem Leben und der Erstarrung in sozialen Routinen und Konventionen angedeutet. „Formlos oder geballt“, fragen die Gedichte einmal. Im besten Fall beides. In dem Satz „Sinn erzeugen per Staffelung?“ hat vom Brocke ihr Verfahren der Überlagerung und des Changierens zwischen Sinn und Sinnlichkeit eingefangen. Und das Entscheidende ist das kleine Fragezeichen am Schluss, lässt es doch die Offenheit anklingen, in der die Verse stehen.
Bei alldem spielen die Gedichte sehr wohl mit den magischen Möglichkeiten der Sprache. Es mag sein, dass die Magie bisweilen „fest unter dem Mistkäferpanzer“ klebt. Wenn aber die „Bienenpionierin“ durch die Verse wandert, wenn sie die Klippe hinauftorkelt und ihren Zauber aufsagt, mag es einem beim Lesen ergehen wie der glücklichen Sprecherin eines anderen Gedichts: „Ich werde satt, ohne zu begreifen“.
NICO BLEUTGE
Sonja vom Brocke: Mush. Gedichte. Kookbooks, Berlin 2020, 96 Seiten, 19,90 Euro.
„Hier ist
keine Botschaft
zu erwarten.“
Zwischen pulsierendem
Leben und der Erstarrung
in sozialen Routinen
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
ohne zu begreifen
Magisch: Sonja vom Brockes
neuer Gedichtband „Mush“
Was für eine Vorstellung, man könne auf der Mondoberfläche herumkriechen und in einen Krater rollen. Vielleicht wäre dort „Silberlicht“ zu sehen, „Silberluft“ zu spüren, und „metallene Klappflügler“ schwebten umher. „De-form“ hat Sonja vom Brocke dieses Gedicht genannt. Der Titel deutet schon an, dass sie sich für die Auflösung fester Fügungen interessiert, für Verwandlungsprozesse, in denen alles im Fluss ist, zu denen auch das Ungestalte und Struppige gehören, ein „Ährenclown“ etwa oder eine „Fleddermähne von Wusch“.
Diese Verwandlungen gleichen am ehesten den Metamorphosen, die sich im Inneren eines Insektenkokons vollziehen. „Mush“, der Brei, das Mus (in dem auch die Muse anklingt) ist Sonja vom Brocke dabei wichtiger als der schöne Schmetterling, der am Ende aus dem Kokon hervorgehen könnte. Nicht von ungefähr schreibt sie an einer Stelle vom „Mischmasch“ und führt im Anhang als eine ihrer Quellen die Ovidschen „Metamorphosen“ an, aber auch Bücher über die Entwicklung und Sinnlichkeit der Pflanzen. Immer wieder finden sich in den Versen Verbindungen aus Körper-, „Umwelt“- und Tiermomenten, die zu multisensorischen, gleichsam synästhetischen Sprachfiguren führen: „S und DU / zerschmelzen zu Halmen, die duften, wenn sie krähen.“
Wie schon in ihrem Gedichtband „Venice singt“ (2015) verknüpft vom Brocke eigene Erinnerungssplitter mit Ausflügen in die Bildende Kunst unter Bezugnahmen auf die Zeit. Hier werden Kriege „gelotst“, tauchen Wappen aus „Gestrüpp, Müll“ auf, andernorts reflektiert sie „Grund- und Himmelsgifte“ in den Versen. Regenwürmer lockern den Boden auf und reichern ihn an, ziehen Röhren für Wasser, Luft und Wärme – und die menschlichen Körper und die ganze „Weltkugel“ hängen von dieser „schillernden Vielfachleistung“ ab. Doch die Verbindung wird in den Gedichten schon im Modus des „das war einmal“ aufgerufen. Dabei gelingt es vom Brocke, platte Gegenwartskritik zu umschiffen, vielmehr machen die Gedichte spürbar, dass die stärksten Vorurteile in die Sprache selbst einwandern können, Wertungen eingeschleust werden, ein „Raubbau“, der die Sprache kaum merklich unterhöhlt.
So heißt es in konsequenter Fortschreibung dieser Reflexionen einmal: „Hier ist keine Botschaft zu erwarten.“ Ein Satz, der selbst ein wenig nach Botschaft klingt. Doch die Gedichte wissen um solche Widersprüche. Und im Nachdenken darüber, wie man die Auflösung des Festen in poetische Form überführen kann, ohne seinerseits im allzu Fixierten zu landen, gelingen vom Brocke immer wieder Versformationen, die hoch beweglich sind und höchste Präsenz erzeugen. Mal verwandelt sie die Wörter über Lautähnlichkeiten, von „erbaut“ zu „braut“ oder von „Suppe“ über „Puppe“ zu „Posse“, mal erfindet sie klangstarke Wörter wie „Schlafsalve“, „Drosselgrube“ oder „Reisegreis“.
In einer Paarung wie „Fontanelle – Fontange“ (die Knochenlücke am Kopf eines Babys und der Frisurenaufbau aus Draht und Haube, wie er Ende des 17. Jahrhunderts getragen wurde) ist der ganze Bewegungsbogen zwischen einem anfänglich pulsierendem Leben und der Erstarrung in sozialen Routinen und Konventionen angedeutet. „Formlos oder geballt“, fragen die Gedichte einmal. Im besten Fall beides. In dem Satz „Sinn erzeugen per Staffelung?“ hat vom Brocke ihr Verfahren der Überlagerung und des Changierens zwischen Sinn und Sinnlichkeit eingefangen. Und das Entscheidende ist das kleine Fragezeichen am Schluss, lässt es doch die Offenheit anklingen, in der die Verse stehen.
Bei alldem spielen die Gedichte sehr wohl mit den magischen Möglichkeiten der Sprache. Es mag sein, dass die Magie bisweilen „fest unter dem Mistkäferpanzer“ klebt. Wenn aber die „Bienenpionierin“ durch die Verse wandert, wenn sie die Klippe hinauftorkelt und ihren Zauber aufsagt, mag es einem beim Lesen ergehen wie der glücklichen Sprecherin eines anderen Gedichts: „Ich werde satt, ohne zu begreifen“.
NICO BLEUTGE
Sonja vom Brocke: Mush. Gedichte. Kookbooks, Berlin 2020, 96 Seiten, 19,90 Euro.
„Hier ist
keine Botschaft
zu erwarten.“
Zwischen pulsierendem
Leben und der Erstarrung
in sozialen Routinen
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.03.2021Begegnungsstätte mit Prügeln und Reisegreis
Sonja vom Brocke pflegt das Langgedicht: Ihr neuer Lyrikband "Mush" ruft die Welt in die Schranken
Es gibt sie immer wieder. Diese Bücher, die einen über lange Zeit begleiten. Zu denen man ein ums andere Mal zurückkehrt. Mitunter nur, um für den Weg zum Einkaufen noch ein paar Verse einzupacken ("weil jener Sinn Ödnis so gut kennt wie das Hin und Her von Flügelsandalen"). Sonja vom Brockes Gedichtband "Mush" ist so ein Buch. Es setzt mit einem knappen Präludium ein, "Heaps" lautet dessen Titel, der seinerseits sofort auf jenes, erst achtzig Seiten später folgende "Buchstabengetümmel, das einen Hügel bildet" vorausgreift. Heaps ist zugleich ein Begriff aus der Informatik, der die Bündelung und Priorisierung von Daten bezeichnet. Und so ist es als programmatisch zu lesen, wenn vom Brockes Band mit einer datenbotanischen Fülle beginnt: "Sie hängt sich einen Kürbisbeutel um / Spaziert über die Wiese / Streift Gänseblümchen, Löwenzahn / Falter hänseln Daten / Sensoren kribbeln, Stempel flickern."
Die Verschränkung von Blumen- und Digitalwelt erlaubt, das zarte Streifen entlang von Gänseblümchen und Datenblüten zu vier Streifzügen durch insgesamt vier Langgedichte zu entfalten. Das long poem spielte in der deutschsprachigen Lyrik lange - sehen wir einmal von der großen (und großartigen) Ausnahme Paulus Böhmer ab - eine untergeordnete Rolle, während es vor allem im amerikanischen Raum in der Nachfolge von Charles Olson, Walt Whitman, Allen Ginsberg oder jüngst Anne Carson stets von größter Bedeutung war. Erst jüngst entdecken es Lyriker wie Oswald Egger, Dieter M. Gräf, Maren Kames oder Levin Westermann auf jeweils eigene Weise für sich. Sonja vom Brocke hatte bereits in ihrem Band "Venice singt" (2015) Anlagen zu dieser Form gezeigt, die sie erstmals in "Düngerkind" (2018) konsequent durchspielte.
Ihre Langgedichte in "Mush" bestehen nun nicht mehr - wie noch das Präludium - aus dem Zyklus einzelner klar voneinander abgetrennter Gedichte. Sie werden auch nur kurzzeitig von erzählerischen Sequenzen getragen. Vielmehr erweisen sie sich als Archipel aus Versen, bei dem die einzelnen Textinseln in je eigener Gestalt aus dem rauschenden Weiß des Papiers herausragen. Wobei diese Komposition mitunter so diskrepantes, vielseitiges, vielschichtiges Material anhäuft, dass sie ins Unüberschaubare kippt. Geheimnisvoll, dunkel wirken ihre Verse. Jederzeit geneigt, in pures Getümmel, in "Mush", also Brei, Matsch oder Mus zu kippen - "it's a mess", könnte man mit Bruno Latour sagen, aus dem das neue Leben entsteht.
Im Kleinen verdichtet sich diese Poetik zu Versen wie: "Wäldchen, Schlafsalve, zerlumpte Erdhügel / Begegnungsstätte mit Prügeln und Reisegreis/ um den Globus, das heißt: Rad- für Raddrehung? / Nein, Sicht für Sicht allein schon ein Vernähen / zu fabulieren, der Reisegreis um den Globus / trat gedankenverloren Pedale / atmete aus / Turbinen / heut hellwach auf . . ." Das wirkt wie eine zufällige Häufung - durch die Verkehrung der Satzordnung? Etwa aufgrund semantischer Fremdkörper in der Aufzählung? Etwa wegen des Reisegreises? Doch zugleich erscheinen alle Elemente exakt am für sie vorgesehenen Platz. Und sie konstituieren durchaus Kohärenz und stellen in diesem Fall etwa das Verfahren der zu Hügeln aufgeschobenen, aus allen Ecken und Enden zusammengetümmelten Buchstaben selbst vor. Sonja vom Brockes De-Komposition erscheint als Teil jener Formsuche, mit der sich die Lyrik in einer Welt zu behaupten sucht, deren globale und lokale Dimensionen sich zunehmend ineinander verschränken. Hier muss Um-Welt neu erprobt und herausgefordert werden.
Kann man aber in diesen Langgedichten gar nicht mehr sagen, um was es geht? Doch: Alle vier thematisieren auf ihre Weise die sogenannte Mystik der Verwandlung, den Übergang von Leben zum Tod - und umgekehrt: "Laichen, nehmen, Leichnam, Anbau", heißt es formelhaft im titelgebenden Gedicht "Mush", das in stroboskopischer Höchstgeschwindigkeit kleinste Eindrücke aufruft. "Fontanelle / Fontage" verschränkt dann die Familiengeschichte - "Palmen auf Strickpullover, ein Elefant, Kordelschwanz. Auf der Treppe die Mutter, der Vater oben?" -, ausgehend von einer Fotografie mit Gedeih und Verderb bei der industriellen "Gockelselektion" und der Frage, wer zuerst da war: Henne, Ei oder Mush ("Gooaack / Goodness / ovus ovus omne vive"). Das Gedicht "Wenn ich die Nieswurz bin, wer ist mein Pflücker" wiederum ist die ironische Antwort auf: "Sah ein Knab ein Röslein stehen". Denn hätte der Knabe die giftige Nieswurz statt des heidehübschen Rösleins zu brechen versucht, dann wäre es wohl nicht beim harmlosen Hatschi geblieben. Und "Makrelenwissen" lotet die Eindrücke einer sozialen Verpuppung aus.
Der Band ist gefüllt mit luziden Beobachtungen wie der "Karnevalständelei zwischen Gedanke und Ausspruch". Wenn es einmal heißt, es gehe stets auch darum, "nicht zu sehen. Sich umzuwenden, informationslos", dann trifft das sicher nicht auf diesen Lyrikband zu. Sonja vom Brocke legt mit "Mush" poetisch Außergewöhnliches, unbedingt Bemerkenswertes vor.
CHRISTIAN METZ
Sonja vom Brocke: "Mush". Gedichte.
Kookbooks, Berlin 2020. 97 S., br., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sonja vom Brocke pflegt das Langgedicht: Ihr neuer Lyrikband "Mush" ruft die Welt in die Schranken
Es gibt sie immer wieder. Diese Bücher, die einen über lange Zeit begleiten. Zu denen man ein ums andere Mal zurückkehrt. Mitunter nur, um für den Weg zum Einkaufen noch ein paar Verse einzupacken ("weil jener Sinn Ödnis so gut kennt wie das Hin und Her von Flügelsandalen"). Sonja vom Brockes Gedichtband "Mush" ist so ein Buch. Es setzt mit einem knappen Präludium ein, "Heaps" lautet dessen Titel, der seinerseits sofort auf jenes, erst achtzig Seiten später folgende "Buchstabengetümmel, das einen Hügel bildet" vorausgreift. Heaps ist zugleich ein Begriff aus der Informatik, der die Bündelung und Priorisierung von Daten bezeichnet. Und so ist es als programmatisch zu lesen, wenn vom Brockes Band mit einer datenbotanischen Fülle beginnt: "Sie hängt sich einen Kürbisbeutel um / Spaziert über die Wiese / Streift Gänseblümchen, Löwenzahn / Falter hänseln Daten / Sensoren kribbeln, Stempel flickern."
Die Verschränkung von Blumen- und Digitalwelt erlaubt, das zarte Streifen entlang von Gänseblümchen und Datenblüten zu vier Streifzügen durch insgesamt vier Langgedichte zu entfalten. Das long poem spielte in der deutschsprachigen Lyrik lange - sehen wir einmal von der großen (und großartigen) Ausnahme Paulus Böhmer ab - eine untergeordnete Rolle, während es vor allem im amerikanischen Raum in der Nachfolge von Charles Olson, Walt Whitman, Allen Ginsberg oder jüngst Anne Carson stets von größter Bedeutung war. Erst jüngst entdecken es Lyriker wie Oswald Egger, Dieter M. Gräf, Maren Kames oder Levin Westermann auf jeweils eigene Weise für sich. Sonja vom Brocke hatte bereits in ihrem Band "Venice singt" (2015) Anlagen zu dieser Form gezeigt, die sie erstmals in "Düngerkind" (2018) konsequent durchspielte.
Ihre Langgedichte in "Mush" bestehen nun nicht mehr - wie noch das Präludium - aus dem Zyklus einzelner klar voneinander abgetrennter Gedichte. Sie werden auch nur kurzzeitig von erzählerischen Sequenzen getragen. Vielmehr erweisen sie sich als Archipel aus Versen, bei dem die einzelnen Textinseln in je eigener Gestalt aus dem rauschenden Weiß des Papiers herausragen. Wobei diese Komposition mitunter so diskrepantes, vielseitiges, vielschichtiges Material anhäuft, dass sie ins Unüberschaubare kippt. Geheimnisvoll, dunkel wirken ihre Verse. Jederzeit geneigt, in pures Getümmel, in "Mush", also Brei, Matsch oder Mus zu kippen - "it's a mess", könnte man mit Bruno Latour sagen, aus dem das neue Leben entsteht.
Im Kleinen verdichtet sich diese Poetik zu Versen wie: "Wäldchen, Schlafsalve, zerlumpte Erdhügel / Begegnungsstätte mit Prügeln und Reisegreis/ um den Globus, das heißt: Rad- für Raddrehung? / Nein, Sicht für Sicht allein schon ein Vernähen / zu fabulieren, der Reisegreis um den Globus / trat gedankenverloren Pedale / atmete aus / Turbinen / heut hellwach auf . . ." Das wirkt wie eine zufällige Häufung - durch die Verkehrung der Satzordnung? Etwa aufgrund semantischer Fremdkörper in der Aufzählung? Etwa wegen des Reisegreises? Doch zugleich erscheinen alle Elemente exakt am für sie vorgesehenen Platz. Und sie konstituieren durchaus Kohärenz und stellen in diesem Fall etwa das Verfahren der zu Hügeln aufgeschobenen, aus allen Ecken und Enden zusammengetümmelten Buchstaben selbst vor. Sonja vom Brockes De-Komposition erscheint als Teil jener Formsuche, mit der sich die Lyrik in einer Welt zu behaupten sucht, deren globale und lokale Dimensionen sich zunehmend ineinander verschränken. Hier muss Um-Welt neu erprobt und herausgefordert werden.
Kann man aber in diesen Langgedichten gar nicht mehr sagen, um was es geht? Doch: Alle vier thematisieren auf ihre Weise die sogenannte Mystik der Verwandlung, den Übergang von Leben zum Tod - und umgekehrt: "Laichen, nehmen, Leichnam, Anbau", heißt es formelhaft im titelgebenden Gedicht "Mush", das in stroboskopischer Höchstgeschwindigkeit kleinste Eindrücke aufruft. "Fontanelle / Fontage" verschränkt dann die Familiengeschichte - "Palmen auf Strickpullover, ein Elefant, Kordelschwanz. Auf der Treppe die Mutter, der Vater oben?" -, ausgehend von einer Fotografie mit Gedeih und Verderb bei der industriellen "Gockelselektion" und der Frage, wer zuerst da war: Henne, Ei oder Mush ("Gooaack / Goodness / ovus ovus omne vive"). Das Gedicht "Wenn ich die Nieswurz bin, wer ist mein Pflücker" wiederum ist die ironische Antwort auf: "Sah ein Knab ein Röslein stehen". Denn hätte der Knabe die giftige Nieswurz statt des heidehübschen Rösleins zu brechen versucht, dann wäre es wohl nicht beim harmlosen Hatschi geblieben. Und "Makrelenwissen" lotet die Eindrücke einer sozialen Verpuppung aus.
Der Band ist gefüllt mit luziden Beobachtungen wie der "Karnevalständelei zwischen Gedanke und Ausspruch". Wenn es einmal heißt, es gehe stets auch darum, "nicht zu sehen. Sich umzuwenden, informationslos", dann trifft das sicher nicht auf diesen Lyrikband zu. Sonja vom Brocke legt mit "Mush" poetisch Außergewöhnliches, unbedingt Bemerkenswertes vor.
CHRISTIAN METZ
Sonja vom Brocke: "Mush". Gedichte.
Kookbooks, Berlin 2020. 97 S., br., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main