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Wie sind Nähe und Ferne miteinander verstrickt? Wie leibliche Erfahrungen, meine immer schon eingebundenen, unbeständigen, auch maskierten Konstitutionen mit der malträtierten Erde als Orientierungsgröße verschmolzen? Die planetarische Perspektive und die unmittelbare, ihr Abstand erscheint schimärenhaft, wenn ich mich durch die Sprache bewege. So ragen in den hier versammelten Texten erdbezogene Fragen aus Ich-Details, unumwunden; Sprachverläufe bilden Amorphes, fädeln sich auf in Sequenzen, springen von Artifiziellem zu Erinnerungen und überpersönlichen Verlusten, sind wechselhaft. Dabei…mehr

Produktbeschreibung
Wie sind Nähe und Ferne miteinander verstrickt? Wie leibliche Erfahrungen, meine immer schon eingebundenen, unbeständigen, auch maskierten Konstitutionen mit der malträtierten Erde als Orientierungsgröße verschmolzen? Die planetarische Perspektive und die unmittelbare, ihr Abstand erscheint schimärenhaft, wenn ich mich durch die Sprache bewege. So ragen in den hier versammelten Texten erdbezogene Fragen aus Ich-Details, unumwunden; Sprachverläufe
bilden Amorphes, fädeln sich auf in Sequenzen, springen von Artifiziellem zu Erinnerungen und überpersönlichen Verlusten, sind wechselhaft. Dabei gleiten sie auch in Sagenhaftes und unbewusste Regionen, in denen die Suche nicht mehr trägt. "Großer Ausholversuch fällt zurück in einen Körper." Dieser Körper verwandelt sich zur Pflanze; hält sich schlecht, landet im Matsch. Dort könnte es weitergehen.
- Sonja vom Brocke
Autorenporträt
Sonja vom Brocke, geboren 1980 in Hagen, lebt heute in Berlin. Zuletzt veröffentlichte sie die Einzeltitel ¿Venice singt¿, kookbooks 2015, und ¿Düngerkind¿, Verlag Peter Engstler 2018. Gedichte von Sonja vom Brocke wurden in mehrere Sprachen übersetzt.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Christian Metz findet Sonja vom Brockes Langgedichte poetisch bemerkenswert. Immer wieder kann er darin lesen, immer wieder entdeckt er darin das Thema der Verwandlung vom Leben zum Tod oder auch von der Pflanzen- zur digitalen Welt. Wie die Autorin Diskrepantes versammelt, in "dunkle" Verse fasst, scheint Metz nur auf den ersten Blick zufällig. Der zweite Blick offenbart für ihn die Genauigkeit der Komposition und die Luzidität der Beobachtungen.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.03.2021

Begegnungsstätte mit Prügeln und Reisegreis
Sonja vom Brocke pflegt das Langgedicht: Ihr neuer Lyrikband "Mush" ruft die Welt in die Schranken

Es gibt sie immer wieder. Diese Bücher, die einen über lange Zeit begleiten. Zu denen man ein ums andere Mal zurückkehrt. Mitunter nur, um für den Weg zum Einkaufen noch ein paar Verse einzupacken ("weil jener Sinn Ödnis so gut kennt wie das Hin und Her von Flügelsandalen"). Sonja vom Brockes Gedichtband "Mush" ist so ein Buch. Es setzt mit einem knappen Präludium ein, "Heaps" lautet dessen Titel, der seinerseits sofort auf jenes, erst achtzig Seiten später folgende "Buchstabengetümmel, das einen Hügel bildet" vorausgreift. Heaps ist zugleich ein Begriff aus der Informatik, der die Bündelung und Priorisierung von Daten bezeichnet. Und so ist es als programmatisch zu lesen, wenn vom Brockes Band mit einer datenbotanischen Fülle beginnt: "Sie hängt sich einen Kürbisbeutel um / Spaziert über die Wiese / Streift Gänseblümchen, Löwenzahn / Falter hänseln Daten / Sensoren kribbeln, Stempel flickern."

Die Verschränkung von Blumen- und Digitalwelt erlaubt, das zarte Streifen entlang von Gänseblümchen und Datenblüten zu vier Streifzügen durch insgesamt vier Langgedichte zu entfalten. Das long poem spielte in der deutschsprachigen Lyrik lange - sehen wir einmal von der großen (und großartigen) Ausnahme Paulus Böhmer ab - eine untergeordnete Rolle, während es vor allem im amerikanischen Raum in der Nachfolge von Charles Olson, Walt Whitman, Allen Ginsberg oder jüngst Anne Carson stets von größter Bedeutung war. Erst jüngst entdecken es Lyriker wie Oswald Egger, Dieter M. Gräf, Maren Kames oder Levin Westermann auf jeweils eigene Weise für sich. Sonja vom Brocke hatte bereits in ihrem Band "Venice singt" (2015) Anlagen zu dieser Form gezeigt, die sie erstmals in "Düngerkind" (2018) konsequent durchspielte.

Ihre Langgedichte in "Mush" bestehen nun nicht mehr - wie noch das Präludium - aus dem Zyklus einzelner klar voneinander abgetrennter Gedichte. Sie werden auch nur kurzzeitig von erzählerischen Sequenzen getragen. Vielmehr erweisen sie sich als Archipel aus Versen, bei dem die einzelnen Textinseln in je eigener Gestalt aus dem rauschenden Weiß des Papiers herausragen. Wobei diese Komposition mitunter so diskrepantes, vielseitiges, vielschichtiges Material anhäuft, dass sie ins Unüberschaubare kippt. Geheimnisvoll, dunkel wirken ihre Verse. Jederzeit geneigt, in pures Getümmel, in "Mush", also Brei, Matsch oder Mus zu kippen - "it's a mess", könnte man mit Bruno Latour sagen, aus dem das neue Leben entsteht.

Im Kleinen verdichtet sich diese Poetik zu Versen wie: "Wäldchen, Schlafsalve, zerlumpte Erdhügel / Begegnungsstätte mit Prügeln und Reisegreis/ um den Globus, das heißt: Rad- für Raddrehung? / Nein, Sicht für Sicht allein schon ein Vernähen / zu fabulieren, der Reisegreis um den Globus / trat gedankenverloren Pedale / atmete aus / Turbinen / heut hellwach auf . . ." Das wirkt wie eine zufällige Häufung - durch die Verkehrung der Satzordnung? Etwa aufgrund semantischer Fremdkörper in der Aufzählung? Etwa wegen des Reisegreises? Doch zugleich erscheinen alle Elemente exakt am für sie vorgesehenen Platz. Und sie konstituieren durchaus Kohärenz und stellen in diesem Fall etwa das Verfahren der zu Hügeln aufgeschobenen, aus allen Ecken und Enden zusammengetümmelten Buchstaben selbst vor. Sonja vom Brockes De-Komposition erscheint als Teil jener Formsuche, mit der sich die Lyrik in einer Welt zu behaupten sucht, deren globale und lokale Dimensionen sich zunehmend ineinander verschränken. Hier muss Um-Welt neu erprobt und herausgefordert werden.

Kann man aber in diesen Langgedichten gar nicht mehr sagen, um was es geht? Doch: Alle vier thematisieren auf ihre Weise die sogenannte Mystik der Verwandlung, den Übergang von Leben zum Tod - und umgekehrt: "Laichen, nehmen, Leichnam, Anbau", heißt es formelhaft im titelgebenden Gedicht "Mush", das in stroboskopischer Höchstgeschwindigkeit kleinste Eindrücke aufruft. "Fontanelle / Fontage" verschränkt dann die Familiengeschichte - "Palmen auf Strickpullover, ein Elefant, Kordelschwanz. Auf der Treppe die Mutter, der Vater oben?" -, ausgehend von einer Fotografie mit Gedeih und Verderb bei der industriellen "Gockelselektion" und der Frage, wer zuerst da war: Henne, Ei oder Mush ("Gooaack / Goodness / ovus ovus omne vive"). Das Gedicht "Wenn ich die Nieswurz bin, wer ist mein Pflücker" wiederum ist die ironische Antwort auf: "Sah ein Knab ein Röslein stehen". Denn hätte der Knabe die giftige Nieswurz statt des heidehübschen Rösleins zu brechen versucht, dann wäre es wohl nicht beim harmlosen Hatschi geblieben. Und "Makrelenwissen" lotet die Eindrücke einer sozialen Verpuppung aus.

Der Band ist gefüllt mit luziden Beobachtungen wie der "Karnevalständelei zwischen Gedanke und Ausspruch". Wenn es einmal heißt, es gehe stets auch darum, "nicht zu sehen. Sich umzuwenden, informationslos", dann trifft das sicher nicht auf diesen Lyrikband zu. Sonja vom Brocke legt mit "Mush" poetisch Außergewöhnliches, unbedingt Bemerkenswertes vor.

CHRISTIAN METZ

Sonja vom Brocke: "Mush". Gedichte.

Kookbooks, Berlin 2020. 97 S., br., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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