Eine pointierte, harte, rhythmische Diktion zeichnet Valzhyna Morts Poesie aus. Ihr Ton hat etwas Unerbittliches. Mit Belarus, dem Land ihrer Herkunft, in dem die Stille auch die Stille ist, die über Gräberfeldern liegt, wird sie nicht fertig. In einer Stadt aufgewachsen zu sein, in der »Straßen die Namen von Mördern« tragen - das kontaminiert die Erinnerung. Nur weil man »sie mal mit einem Skalpell in der Hand gesehen hat, glauben manche schon, dass die Zeit Wunden heilt«.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Nico Bleutge scheint ganz verzaubert von den "wundersamen" Versen von Valzhyna Mort. Wie die belarussische, in den USA lebende, ihre Texte auf Belarussisch wie auch auf Englisch schreibende Dichterin die Gewaltgeschichte ihrer Heimat und ihre eigene Familiengeschichte inventarartig, doch atmosphärisch erkundet, findet Bleutge lesenswert. Die deutsche Übersetzung von Uljana Wolf und Katharina Narbutovic trägt dem doppelten Original laut Bleutge gekonnt Rechnung, indem sie kleinste "Wortverschiebungen" berücksichtigt.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.06.2021Im Natternfeld der Sprache
Valzhyna Morts beeindruckende Lyrik speist sich aus dem heimischen Belarussischen und dem Englischen
Woher komme ich, wer bin ich, wohin gehe ich, und: Was ist der Mensch? Die Grundfragen der Existenz, die nie eine Antwort finden werden und uns daher umso mehr in Bewegung halten und die, da wir alle in eine Gemeinschaft hineingeboren werden, kaum je nur individuell betrachtet werden können - diese Fragen prägen von Anbeginn das Werk der belarussischen Dichterin Valzhyna Mort. 1981 im damals noch sowjetischen Minsk geboren, wuchs sie in einem Sprachgemisch auf - mit Russisch, Belarussisch und dem "Trasianka" ihrer Großmutter. Ein Gleiten zwischen Sprachreichen. Ihre Schriftsprache ist wie bei so vielen Dichterinnen der jüngeren Generation ihres Landes das Belarussische, eine politische und eine poetische Entscheidung. Seit die Gedichtbände "Tränenfabrik" (2009) und "Kreuzwort" (2013) ins Deutsche übersetzt wurden, ist Mort auch hierzulande als herausragende Dichterstimme bekannt.
Soeben ist nun ein dritter Lyrikband erschienen: "Musik für die Toten und Auferstandenen". Darin liest man, wie sie als Kind durch "Straßen mit Mördernamen" lief, umgeben von Heldenepen und Kriegsmythen - und umgeben von den traumatischen Kriegs- und Nachkriegserinnerungen ihrer Großmutter ("Habe ich dir eigentlich schon gesagt, dass ich in deinen Geschichten lebe und nicht in der Wirklichkeit?"). Dank eines Akkordeons fand Mort zur Dichtung: "Auf dem Marterinstrument / griff ich kniffligste Akkorde, / spreizte die Finger / bis zur Spanne einer Hexenhand." Der Blasebalg kenne alle Gefühlswelten, liest man, und Valzhyna Mort bespielt diese in ihrer Dichtung virtuos - schafft Verse und Lieder gegen die Erbschaft der Kriege, gegen die stahlgehärtete Brüderlichkeit des Sozialismus, gegen die neuen Verheerungen heute. Wie findet man nach einem Jahrhundert von Terror und Propaganda Worte der individuellen Trauer? Was vermochte der Einzelne einst gegen den Staat, gegen die Massaker und Arbeitslager des Zweiten Weltkriegs, gegen die Verwüstungen von Tschernobyl? Und: Was vermag der Einzelne heute, in der neuen Eiszeit Lukaschenkos?
Immer wieder die Frage, in welches Gesicht man sich schaut - ins eigene "Laborrattengesicht", sein "Vakuumgesicht", in sein "deaktiviertes", "evakuiertes" oder "entevakuiertes" Gesicht, in das Gesicht einer Wählscheibe, einer Uhr, eines Wandradios oder eben in das "Kamst-durch-Gesicht", das vielleicht das schmachvollste von allen ist?
Schon lange wird Morts Dichtung für die Vielfalt ihrer Motive und die Vielzahl ihrer Register gepriesen: zwischen heiter und melancholisch, zwischen verträumt und schonungslos direkt. Und immer zur surrealen Verwandlung bereit. In jüngster Zeit hat sich ihre Poetik radikalisiert - womöglich als Antwort auf die zugespitzte Lage in Minsk. Die Mittel und Stimmungen variieren weiter, doch stärker noch als früher wählt sie das musikalisch-rhetorische Mittel der Wiederholung, dessen monotone Eindringlichkeit einerseits und dessen Erinnerungsmotivik andererseits. Die Bilder sind dramatischer geworden; Knochen und Gräber sind allgegenwärtig.
Programmatisch beginnt der Band mit einer Anrufung Antigones, einer Schwester im Geiste. Gleich der griechischen Heldin kämpft das lyrische Ich gegen jene Kreon-Herrschaft an, die den Menschen ihr Menschsein auszutreiben trachtet; gleich Antigone ringt das lyrische Ich darum, die Toten zu erinnern und zu bestatten, um "unsere" Geschichte zur Ruhe zu bringen und - zumindest unter Schwestern - einen Neuanfang zu finden. Und weil sich dem Trauma der "Berge von Schädeln" nicht mit Mitteln des Realismus beikommen lässt, greift das Ich zu surrealen Bildern und denkt sich etwa ihr Gesicht als den Spaten Antigones. In einem anderen Gesang, "Psalm" betitelt, werden Wälder, Täler, Felder, Sümpfe angerufen - und Knochen, die sich zu Flechten formen. Tote spuken nicht nur durch Geschichte und Gegenwart, sie sind auch in den Metaphern allgegenwärtig, etwa wenn Dächer "gefaltet" sind "wie Hände von Toten". Selbst die Schönheit glitzernden Schnees hat kein Bleiberecht, sondern wird noch im selben Vers vom "Metzen eines Schweins" eingeholt.
Wie eine poetische Selbstaussage wirkt auch das Bild vom Gipsverband, angelegt, wie es heißt, um "versehrten Verstand" zu heilen und um der "Faust der Ahnenschaft" die Finger zu öffnen. Literatur habe die Möglichkeit, hat Ilse Aichinger einmal gesagt, das Schweigen in Stille zu verwandeln; außerdem hat sie die Kraft, Stille und Schrei in einem zu sein. So hält sich die Hoffnung, sie könne Wunden heilen und geballte Fäuste in Hände verwandeln, die sich dem anderen eines Tages vielleicht entgegenstrecken.
Seit 2005 lebt Valzhyna Mort in den Vereinigten Staaten, wo sie mittlerweile das z mit dem Hácek in ihrem Namen durch ein zh ersetzt hat. Neben dem eigenen Schreiben übersetzt sie russische und belarussische Dichtung ins Englische. Ihr Gedichtband "Factory of Tears", der 2003 zweisprachig erschien, war die erste englisch-belarussische Publikation überhaupt. Ihr Sprachenmix hat sich längst erweitert. Inzwischen denkt und schreibt Mort ihre Gedichte auch auf Englisch, so speisen sich ihre Sprachfantasien aus mindestens drei Sprachbewegungen gleichzeitig. Die englischsprachige Ausgabe, "Music for the Dead and the Resurrected", enthält keinen Hinweis auf andere Versionen; der New York Times galt der Band als "one of the best poetry books of 2020", außerdem steht er auf der Shortlist für den kanadischen Griffin Poetry Prize.
Jede Sprache trägt eigene Stimmungen, Klänge und Assoziationsräume mit sich, und jeder Sprechende ist in den verschiedenen Sprachen immer auch ein Verschiedener. Aus solchem Hin- und Hergleiten zwischen Sprach- und Erfahrungsreichen schöpfe Mort poetische Kraft, sagt sie. Ihre Sprünge sind graziös. Für die deutsche Publikation wurden die Gedichte wechselweise aus beiden Sprachen übersetzt - von Katharina Narbutovic aus dem Belarussischen und von Uljana Wolf aus dem Englischen. Ein großartiges Zusammenspiel. Betrachtet man die Übersetzungen, dann wirken Morts englische Versionen direkter, nüchterner, ja: knochiger, um im Bild zu bleiben. Auch die Assoziationsfelder decken sich nicht. Während beispielsweise in der belarussischen Fassung des Antigone-Gedichts auf Bestattungsrituale gesetzt wird, klingt im englischsprachigen Text mit "Drag, Dig and Sisters" die Schwesternwelt der Judith Butler hinein. Und wo im Belarussischen eine Frau namens Maryja Pjatrouna auftritt, heißt diese in der englischen Fassung Marya Abramovic, als Anspielung an die Performance-Künstlerin Marina Abramovic, jene moderne Antigone, die 1997 aus Protest gegen den Jugoslawienkrieg auf der Documenta in einem stinkend-stickigen Raum saß, vom Rattensterben sprach und Knochen wusch.
In einem dem Band beigefügten kurzen Essay über ihre Zweisprachigkeit sagt Mort, das Belarussische rassele und zischele wie ein Natternfeld. Etwas von diesem Zischeln vermeint man auch in den englischen Texten zu hören. So vermischen sich Klänge und Kulturen. Die gestohlene Jugend, das Vakuum des Plattenbaulebens, die Allgegenwart der Toten - beim Lesen von Morts Gedichten schwingen die Fragen unseres kleinen Daseins immer mit, und irgendwann fragt man sich, ob der Abstand des Exils möglicherweise hilfreich ist, weil man von dort aus vielleicht leichter mit den (Distanz-)Mitteln der Ironie und des Surrealen dem Spuk auf die Spur kommt - zumindest für den Moment des Gedichtes?
MARIE LUISE KNOTT
Valzhyna Mort: "Musik für die Toten und Auferstandenen". Gedichte.
Aus dem Belarussischen von Katharina Narbutovic und aus dem Englischen von Uljana Wolf. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 142 S., br., 15,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Valzhyna Morts beeindruckende Lyrik speist sich aus dem heimischen Belarussischen und dem Englischen
Woher komme ich, wer bin ich, wohin gehe ich, und: Was ist der Mensch? Die Grundfragen der Existenz, die nie eine Antwort finden werden und uns daher umso mehr in Bewegung halten und die, da wir alle in eine Gemeinschaft hineingeboren werden, kaum je nur individuell betrachtet werden können - diese Fragen prägen von Anbeginn das Werk der belarussischen Dichterin Valzhyna Mort. 1981 im damals noch sowjetischen Minsk geboren, wuchs sie in einem Sprachgemisch auf - mit Russisch, Belarussisch und dem "Trasianka" ihrer Großmutter. Ein Gleiten zwischen Sprachreichen. Ihre Schriftsprache ist wie bei so vielen Dichterinnen der jüngeren Generation ihres Landes das Belarussische, eine politische und eine poetische Entscheidung. Seit die Gedichtbände "Tränenfabrik" (2009) und "Kreuzwort" (2013) ins Deutsche übersetzt wurden, ist Mort auch hierzulande als herausragende Dichterstimme bekannt.
Soeben ist nun ein dritter Lyrikband erschienen: "Musik für die Toten und Auferstandenen". Darin liest man, wie sie als Kind durch "Straßen mit Mördernamen" lief, umgeben von Heldenepen und Kriegsmythen - und umgeben von den traumatischen Kriegs- und Nachkriegserinnerungen ihrer Großmutter ("Habe ich dir eigentlich schon gesagt, dass ich in deinen Geschichten lebe und nicht in der Wirklichkeit?"). Dank eines Akkordeons fand Mort zur Dichtung: "Auf dem Marterinstrument / griff ich kniffligste Akkorde, / spreizte die Finger / bis zur Spanne einer Hexenhand." Der Blasebalg kenne alle Gefühlswelten, liest man, und Valzhyna Mort bespielt diese in ihrer Dichtung virtuos - schafft Verse und Lieder gegen die Erbschaft der Kriege, gegen die stahlgehärtete Brüderlichkeit des Sozialismus, gegen die neuen Verheerungen heute. Wie findet man nach einem Jahrhundert von Terror und Propaganda Worte der individuellen Trauer? Was vermochte der Einzelne einst gegen den Staat, gegen die Massaker und Arbeitslager des Zweiten Weltkriegs, gegen die Verwüstungen von Tschernobyl? Und: Was vermag der Einzelne heute, in der neuen Eiszeit Lukaschenkos?
Immer wieder die Frage, in welches Gesicht man sich schaut - ins eigene "Laborrattengesicht", sein "Vakuumgesicht", in sein "deaktiviertes", "evakuiertes" oder "entevakuiertes" Gesicht, in das Gesicht einer Wählscheibe, einer Uhr, eines Wandradios oder eben in das "Kamst-durch-Gesicht", das vielleicht das schmachvollste von allen ist?
Schon lange wird Morts Dichtung für die Vielfalt ihrer Motive und die Vielzahl ihrer Register gepriesen: zwischen heiter und melancholisch, zwischen verträumt und schonungslos direkt. Und immer zur surrealen Verwandlung bereit. In jüngster Zeit hat sich ihre Poetik radikalisiert - womöglich als Antwort auf die zugespitzte Lage in Minsk. Die Mittel und Stimmungen variieren weiter, doch stärker noch als früher wählt sie das musikalisch-rhetorische Mittel der Wiederholung, dessen monotone Eindringlichkeit einerseits und dessen Erinnerungsmotivik andererseits. Die Bilder sind dramatischer geworden; Knochen und Gräber sind allgegenwärtig.
Programmatisch beginnt der Band mit einer Anrufung Antigones, einer Schwester im Geiste. Gleich der griechischen Heldin kämpft das lyrische Ich gegen jene Kreon-Herrschaft an, die den Menschen ihr Menschsein auszutreiben trachtet; gleich Antigone ringt das lyrische Ich darum, die Toten zu erinnern und zu bestatten, um "unsere" Geschichte zur Ruhe zu bringen und - zumindest unter Schwestern - einen Neuanfang zu finden. Und weil sich dem Trauma der "Berge von Schädeln" nicht mit Mitteln des Realismus beikommen lässt, greift das Ich zu surrealen Bildern und denkt sich etwa ihr Gesicht als den Spaten Antigones. In einem anderen Gesang, "Psalm" betitelt, werden Wälder, Täler, Felder, Sümpfe angerufen - und Knochen, die sich zu Flechten formen. Tote spuken nicht nur durch Geschichte und Gegenwart, sie sind auch in den Metaphern allgegenwärtig, etwa wenn Dächer "gefaltet" sind "wie Hände von Toten". Selbst die Schönheit glitzernden Schnees hat kein Bleiberecht, sondern wird noch im selben Vers vom "Metzen eines Schweins" eingeholt.
Wie eine poetische Selbstaussage wirkt auch das Bild vom Gipsverband, angelegt, wie es heißt, um "versehrten Verstand" zu heilen und um der "Faust der Ahnenschaft" die Finger zu öffnen. Literatur habe die Möglichkeit, hat Ilse Aichinger einmal gesagt, das Schweigen in Stille zu verwandeln; außerdem hat sie die Kraft, Stille und Schrei in einem zu sein. So hält sich die Hoffnung, sie könne Wunden heilen und geballte Fäuste in Hände verwandeln, die sich dem anderen eines Tages vielleicht entgegenstrecken.
Seit 2005 lebt Valzhyna Mort in den Vereinigten Staaten, wo sie mittlerweile das z mit dem Hácek in ihrem Namen durch ein zh ersetzt hat. Neben dem eigenen Schreiben übersetzt sie russische und belarussische Dichtung ins Englische. Ihr Gedichtband "Factory of Tears", der 2003 zweisprachig erschien, war die erste englisch-belarussische Publikation überhaupt. Ihr Sprachenmix hat sich längst erweitert. Inzwischen denkt und schreibt Mort ihre Gedichte auch auf Englisch, so speisen sich ihre Sprachfantasien aus mindestens drei Sprachbewegungen gleichzeitig. Die englischsprachige Ausgabe, "Music for the Dead and the Resurrected", enthält keinen Hinweis auf andere Versionen; der New York Times galt der Band als "one of the best poetry books of 2020", außerdem steht er auf der Shortlist für den kanadischen Griffin Poetry Prize.
Jede Sprache trägt eigene Stimmungen, Klänge und Assoziationsräume mit sich, und jeder Sprechende ist in den verschiedenen Sprachen immer auch ein Verschiedener. Aus solchem Hin- und Hergleiten zwischen Sprach- und Erfahrungsreichen schöpfe Mort poetische Kraft, sagt sie. Ihre Sprünge sind graziös. Für die deutsche Publikation wurden die Gedichte wechselweise aus beiden Sprachen übersetzt - von Katharina Narbutovic aus dem Belarussischen und von Uljana Wolf aus dem Englischen. Ein großartiges Zusammenspiel. Betrachtet man die Übersetzungen, dann wirken Morts englische Versionen direkter, nüchterner, ja: knochiger, um im Bild zu bleiben. Auch die Assoziationsfelder decken sich nicht. Während beispielsweise in der belarussischen Fassung des Antigone-Gedichts auf Bestattungsrituale gesetzt wird, klingt im englischsprachigen Text mit "Drag, Dig and Sisters" die Schwesternwelt der Judith Butler hinein. Und wo im Belarussischen eine Frau namens Maryja Pjatrouna auftritt, heißt diese in der englischen Fassung Marya Abramovic, als Anspielung an die Performance-Künstlerin Marina Abramovic, jene moderne Antigone, die 1997 aus Protest gegen den Jugoslawienkrieg auf der Documenta in einem stinkend-stickigen Raum saß, vom Rattensterben sprach und Knochen wusch.
In einem dem Band beigefügten kurzen Essay über ihre Zweisprachigkeit sagt Mort, das Belarussische rassele und zischele wie ein Natternfeld. Etwas von diesem Zischeln vermeint man auch in den englischen Texten zu hören. So vermischen sich Klänge und Kulturen. Die gestohlene Jugend, das Vakuum des Plattenbaulebens, die Allgegenwart der Toten - beim Lesen von Morts Gedichten schwingen die Fragen unseres kleinen Daseins immer mit, und irgendwann fragt man sich, ob der Abstand des Exils möglicherweise hilfreich ist, weil man von dort aus vielleicht leichter mit den (Distanz-)Mitteln der Ironie und des Surrealen dem Spuk auf die Spur kommt - zumindest für den Moment des Gedichtes?
MARIE LUISE KNOTT
Valzhyna Mort: "Musik für die Toten und Auferstandenen". Gedichte.
Aus dem Belarussischen von Katharina Narbutovic und aus dem Englischen von Uljana Wolf. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 142 S., br., 15,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.07.2021Vom Vorgang
des Benennens
Neue Gedichte von
Valzhyna Mort
Die Wiederholung ist ein zwiespältiges Phänomen. Sie kann die Macht der Sprache zeigen und die Ohnmacht der Sprechenden, die Unfähigkeit, Kreisläufe von Gewalt oder in die Sprache eingelagerte Ressentiments aufzubrechen. Sie verleiht aber auch der Hoffnung Ausdruck, man könne so lange an den Wörtern rütteln, bis sie nachgeben und sich verwandeln. Oder wenigstens die Erinnerung in sich verwahren. Für die Dichterin Valzhyna Mort gleicht das Schreiben einem Akt sprachlicher Gewalt. Wer dichte, zwinge die Sprache, etwas zu tun, was sie nicht tun will, etwas zu sehen, was sie nicht sehen will. Seit vielen Jahren geht Mort der Geschichte der Gewalt in Belarus nach, ihre Erkundungen zwischen den Sprachen sind dabei immer an die eigene Familiengeschichte geknüpft. So hat sie sich nach und nach eine eigene Kammer eingerichtet, einen Raum in sich selbst, „dort räumt die Erinnerung – / illegale Zeitmigrantin – / fleißig auf hinter der Einbildungskraft“. Was die Sprecherin der Gedichte findet, sind Spuren der Großelterngeneration und Spuren ihrer eigenen Kindheit, Gedächtnissplitter, zu denen die Stimmen der Toten genauso gehören wie der Geruch von Äpfeln und Schokolade oder Reste der Imagination. Hier kann eine „Mondrippe“ auf dem Küchentisch ruhen oder das Herz ein Oktopus sein.
Einiges davon konnte man schon in Büchern wie „Tränenfabrik“ (2009) und „Kreuzwort“ (2013) entdecken, Auswahlbänden aus Morts bisherigem Schreiben, die Gedichte und Prosa gekonnt nebeneinander stellen. Nun hat sie ihre „Versuche in Ahnenforschung“ noch einmal zugespitzt. Oft sind es kleine, bruchstückhafte Szenen, die etwas Inventarartiges haben. „Hier ist Grammatik, hier Orthographie / hier ein Fetzen Papier, ,Brot, Butter, Milch’“. Valzhyna Mort lässt die Momente jedoch nicht für sich stehen, sondern arrangiert sie zu längeren Formationen. So gelingt es ihr, ganze Kindheitsatmosphären aufzuspannen – ohne je der Illusion von Unmittelbarkeit zu verfallen, vielmehr halten die Verse das labile Verhältnis von Nähe und Distanz bewusst. Dabei denken sie stets über den Vorgang des Benennens nach.
Valzhyna Mort wurde 1981 in Minsk geboren, in eine Familie, in der russisch gesprochen wurde. Das Belarussische, die in der Sowjetunion unterdrückte Volkssprache, lernte sie erst, als sie in die Schule kam. Umso intensiver setzten sich die Wörter in jeder Faser des Körpers fest. „Die belarussische Sprache ist reich und voller klangvoller Texturen“, notiert sie in einem der kurzen Prosatexte, die den Gedichten angefügt sind, „sie rasselt und zischelt wie ein Natternfeld. Sie hat Laute, die man mit keinem anderen Alphabet ausdrücken kann“. Trotzdem schreibt Mort, die seit vielen Jahren in den USA lebt und lehrt, ihre Gedichte stets parallel auf Belarussisch und auf Englisch. Das macht die Übersetzung zu einer großen Herausforderung. „Hier ist ein Korridor zwischen den Sprachen“, heißt es in einem Vers. Und tatsächlich ist dieses Wandern von einer Sprache zur anderen immer wieder in den deutschen Übersetzungen spürbar. Die beiden Übersetzerinnen Katharina Narbutovič und Uljana Wolf zeigen es an einer Stelle sogar, indem sie die Übertragung aus dem Belarussischen neben die Übertragung aus dem Englischen setzen. Kleine Varianten – hier „Roggenbrot“, dort „Graubrot“, hier „die immerroten Kiefern“, dort „ewig rote“ – verdeutlichen die genaue Arbeit der Übersetzung.
Die Verstorbenen streunen derweil durch die Verse und machen durch kleine Wahrnehmungsmomente auf sich aufmerksam. Augenblickshaft kann die ganze Welt der „rundgesichtigen Vorfahren“ lebendig werden. Es genügen eine Wählscheibe, eine Uhr, ein Wandradio, die in die Sprache geholt werden, und schon befindet sich die Sprecherin wieder in einer Plattenbausiedlung am Rand von Minsk. Man riecht den Chlor in den Schulfluren oder den Leim in den Amtsstuben. Manchmal streifen die Verse allzu bekannte Vorstellungen, etwa wenn die Wörter „als stumme Herde“ am Rand des Gedichtes vorbeiziehen. Immer aber schafft es Valzhyna Mort, ihrer Sprache jene Mischung aus Härte und Leichtigkeit einzuschreiben, die ihr die vielen liedhaften Formen an die Hand geben, auf die sie sich beruft. „Wo stamme ich her?“, fragt die Sprecherin einmal. Doch statt erwartbare Begriffe wie „Heimat“ und „Herkunft“ zu verwenden, übersetzt das Gedicht die Frage in ein Geflecht aus Wiederholungen und Variationen. Das „Mutterland“ ist hier ein „roher Dotter in einem Fabergé-Ei“, während im Inneren der Zeilen Wortverschiebungen die Bewegung des Gedichtes vorantreiben. Aus der „Mutter“ wird die „Motte“ – aus dem „Geist“ der „Gast“. Und im Hintergrund dieser wundersam brüchigen Verse hört man die Stimmen anderer Dichterinnen und Dichter.
NICO BLEUTGE
Die Verstorbenen streunen
durch die Verse und
machen auf sich aufmerksam
Valzhyna Mort: Musik für die Toten und Auferstandenen. Gedichte. Deutsch von Katharina Narbutovič und Uljana Wolf. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.
142 Seiten, 15 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
des Benennens
Neue Gedichte von
Valzhyna Mort
Die Wiederholung ist ein zwiespältiges Phänomen. Sie kann die Macht der Sprache zeigen und die Ohnmacht der Sprechenden, die Unfähigkeit, Kreisläufe von Gewalt oder in die Sprache eingelagerte Ressentiments aufzubrechen. Sie verleiht aber auch der Hoffnung Ausdruck, man könne so lange an den Wörtern rütteln, bis sie nachgeben und sich verwandeln. Oder wenigstens die Erinnerung in sich verwahren. Für die Dichterin Valzhyna Mort gleicht das Schreiben einem Akt sprachlicher Gewalt. Wer dichte, zwinge die Sprache, etwas zu tun, was sie nicht tun will, etwas zu sehen, was sie nicht sehen will. Seit vielen Jahren geht Mort der Geschichte der Gewalt in Belarus nach, ihre Erkundungen zwischen den Sprachen sind dabei immer an die eigene Familiengeschichte geknüpft. So hat sie sich nach und nach eine eigene Kammer eingerichtet, einen Raum in sich selbst, „dort räumt die Erinnerung – / illegale Zeitmigrantin – / fleißig auf hinter der Einbildungskraft“. Was die Sprecherin der Gedichte findet, sind Spuren der Großelterngeneration und Spuren ihrer eigenen Kindheit, Gedächtnissplitter, zu denen die Stimmen der Toten genauso gehören wie der Geruch von Äpfeln und Schokolade oder Reste der Imagination. Hier kann eine „Mondrippe“ auf dem Küchentisch ruhen oder das Herz ein Oktopus sein.
Einiges davon konnte man schon in Büchern wie „Tränenfabrik“ (2009) und „Kreuzwort“ (2013) entdecken, Auswahlbänden aus Morts bisherigem Schreiben, die Gedichte und Prosa gekonnt nebeneinander stellen. Nun hat sie ihre „Versuche in Ahnenforschung“ noch einmal zugespitzt. Oft sind es kleine, bruchstückhafte Szenen, die etwas Inventarartiges haben. „Hier ist Grammatik, hier Orthographie / hier ein Fetzen Papier, ,Brot, Butter, Milch’“. Valzhyna Mort lässt die Momente jedoch nicht für sich stehen, sondern arrangiert sie zu längeren Formationen. So gelingt es ihr, ganze Kindheitsatmosphären aufzuspannen – ohne je der Illusion von Unmittelbarkeit zu verfallen, vielmehr halten die Verse das labile Verhältnis von Nähe und Distanz bewusst. Dabei denken sie stets über den Vorgang des Benennens nach.
Valzhyna Mort wurde 1981 in Minsk geboren, in eine Familie, in der russisch gesprochen wurde. Das Belarussische, die in der Sowjetunion unterdrückte Volkssprache, lernte sie erst, als sie in die Schule kam. Umso intensiver setzten sich die Wörter in jeder Faser des Körpers fest. „Die belarussische Sprache ist reich und voller klangvoller Texturen“, notiert sie in einem der kurzen Prosatexte, die den Gedichten angefügt sind, „sie rasselt und zischelt wie ein Natternfeld. Sie hat Laute, die man mit keinem anderen Alphabet ausdrücken kann“. Trotzdem schreibt Mort, die seit vielen Jahren in den USA lebt und lehrt, ihre Gedichte stets parallel auf Belarussisch und auf Englisch. Das macht die Übersetzung zu einer großen Herausforderung. „Hier ist ein Korridor zwischen den Sprachen“, heißt es in einem Vers. Und tatsächlich ist dieses Wandern von einer Sprache zur anderen immer wieder in den deutschen Übersetzungen spürbar. Die beiden Übersetzerinnen Katharina Narbutovič und Uljana Wolf zeigen es an einer Stelle sogar, indem sie die Übertragung aus dem Belarussischen neben die Übertragung aus dem Englischen setzen. Kleine Varianten – hier „Roggenbrot“, dort „Graubrot“, hier „die immerroten Kiefern“, dort „ewig rote“ – verdeutlichen die genaue Arbeit der Übersetzung.
Die Verstorbenen streunen derweil durch die Verse und machen durch kleine Wahrnehmungsmomente auf sich aufmerksam. Augenblickshaft kann die ganze Welt der „rundgesichtigen Vorfahren“ lebendig werden. Es genügen eine Wählscheibe, eine Uhr, ein Wandradio, die in die Sprache geholt werden, und schon befindet sich die Sprecherin wieder in einer Plattenbausiedlung am Rand von Minsk. Man riecht den Chlor in den Schulfluren oder den Leim in den Amtsstuben. Manchmal streifen die Verse allzu bekannte Vorstellungen, etwa wenn die Wörter „als stumme Herde“ am Rand des Gedichtes vorbeiziehen. Immer aber schafft es Valzhyna Mort, ihrer Sprache jene Mischung aus Härte und Leichtigkeit einzuschreiben, die ihr die vielen liedhaften Formen an die Hand geben, auf die sie sich beruft. „Wo stamme ich her?“, fragt die Sprecherin einmal. Doch statt erwartbare Begriffe wie „Heimat“ und „Herkunft“ zu verwenden, übersetzt das Gedicht die Frage in ein Geflecht aus Wiederholungen und Variationen. Das „Mutterland“ ist hier ein „roher Dotter in einem Fabergé-Ei“, während im Inneren der Zeilen Wortverschiebungen die Bewegung des Gedichtes vorantreiben. Aus der „Mutter“ wird die „Motte“ – aus dem „Geist“ der „Gast“. Und im Hintergrund dieser wundersam brüchigen Verse hört man die Stimmen anderer Dichterinnen und Dichter.
NICO BLEUTGE
Die Verstorbenen streunen
durch die Verse und
machen auf sich aufmerksam
Valzhyna Mort: Musik für die Toten und Auferstandenen. Gedichte. Deutsch von Katharina Narbutovič und Uljana Wolf. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.
142 Seiten, 15 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Gedichte, die sich einem einschreiben, unter die Haut gehen bis ins Mark.« Ronya Othmann Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 20220710