Die Geschwister Karol und Kandis leben zusammen in Wolfratshausen. Sie erforschen die Umgebung nach den Spuren von D.H. Lawrence und Frieda von Richthofen, Rainer Maria Rilke und Lou Andreas-Salomé. Auch die ehemaligen Dynamit-Werke erregen ihr Interesse.
Karol arbeitet als Flugbegleiter bei der Lufthansa. In seiner Freizeit widmet er sich Resignifizierungen der Musik: wenn leichtverständlicher Swing zu schwierigem Bebop umkodiert wird oder Disco als House Music erneut in den Underground abtaucht. Karol gerät in den süßen Bann der Queer Music und der Ästhetik des Camp, die er mit seinen Kolleginnen und Kollegen in diversen Hotelzimmern der Welt auslotet. Seine heterosexuelle Orientierung erkennt er dabei gleichsam als das Andere der Homosexualität.
Kandis ist Schriftstellerin, zieht sich hin und wieder in eine Almhütte zurück und beschäftigt sich mit historischen Ansätzen zu Weiblichem Schreiben. Die Figuren ihres gerade entstehenden Romans, König Ludwig I. von Bayern, König Ludwig II. von Bayern, Lola Montez, Claudia Schiffer und viele andere mehr, wollen am selben Tag wie sie Geburtstag haben. Der Tag ist gleichzeitig der Todestag von Friedrich Nietzsche und Aaliyah. In wachsender überschneidung ihrer Themen tauschen sich Karol und Kandis aus und landen dabei unweigerlich bei der Frage: Was ist eigentlich ein Mann?
Karol arbeitet als Flugbegleiter bei der Lufthansa. In seiner Freizeit widmet er sich Resignifizierungen der Musik: wenn leichtverständlicher Swing zu schwierigem Bebop umkodiert wird oder Disco als House Music erneut in den Underground abtaucht. Karol gerät in den süßen Bann der Queer Music und der Ästhetik des Camp, die er mit seinen Kolleginnen und Kollegen in diversen Hotelzimmern der Welt auslotet. Seine heterosexuelle Orientierung erkennt er dabei gleichsam als das Andere der Homosexualität.
Kandis ist Schriftstellerin, zieht sich hin und wieder in eine Almhütte zurück und beschäftigt sich mit historischen Ansätzen zu Weiblichem Schreiben. Die Figuren ihres gerade entstehenden Romans, König Ludwig I. von Bayern, König Ludwig II. von Bayern, Lola Montez, Claudia Schiffer und viele andere mehr, wollen am selben Tag wie sie Geburtstag haben. Der Tag ist gleichzeitig der Todestag von Friedrich Nietzsche und Aaliyah. In wachsender überschneidung ihrer Themen tauschen sich Karol und Kandis aus und landen dabei unweigerlich bei der Frage: Was ist eigentlich ein Mann?
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2004Nietzsches Soul
Thomas Meineckes Geschlechtersound / Von Edo Reents
Am 25. August 1900 ist Friedrich Nietzsche gestorben, am 25. August 2000 Jack Nitzsche. Guter Witz, was? Stimmt aber. Was hat der Philosoph mit dem Rockmusiker zu tun, der nur noch einem älteren Publikum bekannt sein dürfte? Die Musik natürlich! Geburtstag haben an einem 25. August: Ludwig I., König von Bayern, Lola Montez, Ludwig II., König von Bayern, Leonard Bernstein sowie Claudia Schiffer. Auch hier hat der eine mit dem anderen das eine oder andere zu tun. Nur was? Aber schon die Frage nach Zusammenhängen ist falsch. Fragen wir lieber so: Was hätte Thomas Meinecke gemacht, wenn er nicht selber auch an einem 25. August geboren worden wäre, sondern, beispielsweise, an einem 26. September, zusammen mit Heidegger, T. S. Eliot, George Gershwin, Bryan Ferry, Olivia Newton-John, Karl Heinz Bohrer, Peter Turrini und Michael Ballack? Das wäre ja noch schöner gewesen!
Aber auch so reicht es: "Musik", Meineckes ambitioniertes neues Buch, handelt, wovon im Titel die Rede ist, preßt aber der avancierten Form eine im Grunde altmodische Frage ab: die nach der allmählichen Verfertigung von Gedanken, postmodern und poststrukturalistisch gesagt: von Text. Daß es dabei hauptsächlich um moderne gender studies geht, weitet den Horizont über die klassische Epoche hinaus: Kleist hatte keinen Anlaß, über den Unterschied zwischen biologischem und sozialem Geschlecht nachzudenken. Meinecke läßt seine Helden so tun, als glaubten sie gar nicht an ein biologisches Geschlecht - zu irgend etwas muß die Lektüre von Judith Butler und Silvia Bovenschen ja führen. Der Autor als manischer Leser: das ist Meineckes Lesern eine vertraute und meistens auch angenehme Vorstellung, ein Ideal geradezu. Meinecke sprengt es recht gewalttätig. Was in seinen Text, den man nicht zwingend einen Roman nennen muß - aber was er sonst ist, läßt sich auch schwer sagen -, eingeht, geht gewissermaßen auf keine Kuhhaut. Meinecke, der wirklich ein manischer Leser ist, scannt alles ein und bringt es trotzdem fertig, daß seine beiden Protagonisten unter der Last nicht zusammenbrechen.
Die so gut wie handlungsfreie Geschichte eines in Wolfratshausen beheimateten Geschwisterpaars ist ein raffiniertes Stück Popsoziologie, das sich nicht nacherzählen läßt und vielleicht als hochartifizielle Literarisierung des Kinofilms "Pulp Fiction" durchgehen könnte, wenn nur etwas mehr passierte. Karol verbringt die viele freie Zeit, die er als Flugbegleiter der Lufthansa hat, mit dem Hören von und vor allem dem Nachdenken über schwarze Musik: Jazz / Swing, Rhythm & Blues, Soul, Hip-Hop. Das klingt als Romanplot zugänglicher, als es ist. Hier schreibt kein oberbayerischer Nick Hornby gemütlich über Lieblingsplatten; hier geht es innerhalb eines vermutlich absichtlich aseptisch gehaltenen und extrem weiten, atemraubend kundig und ohne erkennbare Emotion ausgeleuchteten Referenzrahmens zuerst und zuletzt um sexuelle Orientierungen und Identitäten und deren Ausdruck oder Verschleierung in populärer Musik - Meineckes Leib- und-Magen-Thema. Michael Jackson, um aus der Vielzahl eher abgelegener Namen einen bekannten zu nennen, erscheint als ein moderner und nicht weniger tragischer Ludwig II., der wiederum - und hier kommen die beiden Perspektiven annähernd zur Deckung - zum Personal eines historischen Romans gehört, den Karols Schwester Kandis schreibt und in dem die obenerwähnten August-Geburtstagskinder alle vorkommen sollen. Das Ganze ist ein Dauergespräch, mal mit sich selbst, mal im Dialog, immer zu dem Zweck, daß daraus etwas werde, nämlich ein Buch.
Mit virtuoser, zitatlastiger Geschwätzigkeit wird hier an der Auflösung des Unterschieds zwischen "männlich" und "weiblich" gearbeitet, dem die allmähliche Preisgabe der beiden Erzählerperspektiven auf so unaufdringliche wie kunstvolle Weise korrespondiert. Sprechen und Denken sind dabei als Schreibvorgang gekennzeichnet, Satzzeichen werden mitgesprochen: die spontane Verfertigung der Gedanken beim Reden. Aber nicht die macht die Lektüre extrem sperrig. Es sind die Inhaltsstoffe, wahre Ballaststoffe, die Meinecke so großzügig verabreicht, daß Leser mit empfindlichem Magen schnell zuviel kriegen können. Natürlich ist es interessant zu sehen, wie sich Imagefragen durch die Epochen hindurch gleichen, ob zu Zeiten des legendären Filmdarstellers Al Jolson ("The Jazz Singer") oder bei einer jungen Rhythm & Blues-Interpretin wie der, Achtung: am 25. August 2001 tödlich verunglückten Aaliyah - Meinecke erscheint alles bedenkenswert, und er hat ein Gespür für die Bedeutung des scheinbar Oberflächlichen. So bringt er es auch fertig, Nietzsche als einen Wegbereiter wider Willen für den Feminismus auszuweisen. Ob aber D. H. Lawrence, Lou Andreas-Salomé, dekadente Popgruppen wie "Roxy Music" und der deutsche Herbst 1977 auch für weniger spezialisierte Leser unter einen Hut zu bringen sind, das ist die Frage. Vielleicht war es auch gar nicht beabsichtigt? Thomas Meinecke ist zu intelligent, als daß er sich von der Sorge um Anschlußfähigkeit leiten ließe. Leser, die der Popkultur nur ein freundliches, durchschnittlich konsumorientiertes Interesse entgegenbringen, werden das vermutlich bedauern und das Buch vor dessen lässigem Ende aus der Hand legen. Für die informierten Fanatiker gilt: lesen!
Thomas Meinecke: "Musik". Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 370 S., geb., 19,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Thomas Meineckes Geschlechtersound / Von Edo Reents
Am 25. August 1900 ist Friedrich Nietzsche gestorben, am 25. August 2000 Jack Nitzsche. Guter Witz, was? Stimmt aber. Was hat der Philosoph mit dem Rockmusiker zu tun, der nur noch einem älteren Publikum bekannt sein dürfte? Die Musik natürlich! Geburtstag haben an einem 25. August: Ludwig I., König von Bayern, Lola Montez, Ludwig II., König von Bayern, Leonard Bernstein sowie Claudia Schiffer. Auch hier hat der eine mit dem anderen das eine oder andere zu tun. Nur was? Aber schon die Frage nach Zusammenhängen ist falsch. Fragen wir lieber so: Was hätte Thomas Meinecke gemacht, wenn er nicht selber auch an einem 25. August geboren worden wäre, sondern, beispielsweise, an einem 26. September, zusammen mit Heidegger, T. S. Eliot, George Gershwin, Bryan Ferry, Olivia Newton-John, Karl Heinz Bohrer, Peter Turrini und Michael Ballack? Das wäre ja noch schöner gewesen!
Aber auch so reicht es: "Musik", Meineckes ambitioniertes neues Buch, handelt, wovon im Titel die Rede ist, preßt aber der avancierten Form eine im Grunde altmodische Frage ab: die nach der allmählichen Verfertigung von Gedanken, postmodern und poststrukturalistisch gesagt: von Text. Daß es dabei hauptsächlich um moderne gender studies geht, weitet den Horizont über die klassische Epoche hinaus: Kleist hatte keinen Anlaß, über den Unterschied zwischen biologischem und sozialem Geschlecht nachzudenken. Meinecke läßt seine Helden so tun, als glaubten sie gar nicht an ein biologisches Geschlecht - zu irgend etwas muß die Lektüre von Judith Butler und Silvia Bovenschen ja führen. Der Autor als manischer Leser: das ist Meineckes Lesern eine vertraute und meistens auch angenehme Vorstellung, ein Ideal geradezu. Meinecke sprengt es recht gewalttätig. Was in seinen Text, den man nicht zwingend einen Roman nennen muß - aber was er sonst ist, läßt sich auch schwer sagen -, eingeht, geht gewissermaßen auf keine Kuhhaut. Meinecke, der wirklich ein manischer Leser ist, scannt alles ein und bringt es trotzdem fertig, daß seine beiden Protagonisten unter der Last nicht zusammenbrechen.
Die so gut wie handlungsfreie Geschichte eines in Wolfratshausen beheimateten Geschwisterpaars ist ein raffiniertes Stück Popsoziologie, das sich nicht nacherzählen läßt und vielleicht als hochartifizielle Literarisierung des Kinofilms "Pulp Fiction" durchgehen könnte, wenn nur etwas mehr passierte. Karol verbringt die viele freie Zeit, die er als Flugbegleiter der Lufthansa hat, mit dem Hören von und vor allem dem Nachdenken über schwarze Musik: Jazz / Swing, Rhythm & Blues, Soul, Hip-Hop. Das klingt als Romanplot zugänglicher, als es ist. Hier schreibt kein oberbayerischer Nick Hornby gemütlich über Lieblingsplatten; hier geht es innerhalb eines vermutlich absichtlich aseptisch gehaltenen und extrem weiten, atemraubend kundig und ohne erkennbare Emotion ausgeleuchteten Referenzrahmens zuerst und zuletzt um sexuelle Orientierungen und Identitäten und deren Ausdruck oder Verschleierung in populärer Musik - Meineckes Leib- und-Magen-Thema. Michael Jackson, um aus der Vielzahl eher abgelegener Namen einen bekannten zu nennen, erscheint als ein moderner und nicht weniger tragischer Ludwig II., der wiederum - und hier kommen die beiden Perspektiven annähernd zur Deckung - zum Personal eines historischen Romans gehört, den Karols Schwester Kandis schreibt und in dem die obenerwähnten August-Geburtstagskinder alle vorkommen sollen. Das Ganze ist ein Dauergespräch, mal mit sich selbst, mal im Dialog, immer zu dem Zweck, daß daraus etwas werde, nämlich ein Buch.
Mit virtuoser, zitatlastiger Geschwätzigkeit wird hier an der Auflösung des Unterschieds zwischen "männlich" und "weiblich" gearbeitet, dem die allmähliche Preisgabe der beiden Erzählerperspektiven auf so unaufdringliche wie kunstvolle Weise korrespondiert. Sprechen und Denken sind dabei als Schreibvorgang gekennzeichnet, Satzzeichen werden mitgesprochen: die spontane Verfertigung der Gedanken beim Reden. Aber nicht die macht die Lektüre extrem sperrig. Es sind die Inhaltsstoffe, wahre Ballaststoffe, die Meinecke so großzügig verabreicht, daß Leser mit empfindlichem Magen schnell zuviel kriegen können. Natürlich ist es interessant zu sehen, wie sich Imagefragen durch die Epochen hindurch gleichen, ob zu Zeiten des legendären Filmdarstellers Al Jolson ("The Jazz Singer") oder bei einer jungen Rhythm & Blues-Interpretin wie der, Achtung: am 25. August 2001 tödlich verunglückten Aaliyah - Meinecke erscheint alles bedenkenswert, und er hat ein Gespür für die Bedeutung des scheinbar Oberflächlichen. So bringt er es auch fertig, Nietzsche als einen Wegbereiter wider Willen für den Feminismus auszuweisen. Ob aber D. H. Lawrence, Lou Andreas-Salomé, dekadente Popgruppen wie "Roxy Music" und der deutsche Herbst 1977 auch für weniger spezialisierte Leser unter einen Hut zu bringen sind, das ist die Frage. Vielleicht war es auch gar nicht beabsichtigt? Thomas Meinecke ist zu intelligent, als daß er sich von der Sorge um Anschlußfähigkeit leiten ließe. Leser, die der Popkultur nur ein freundliches, durchschnittlich konsumorientiertes Interesse entgegenbringen, werden das vermutlich bedauern und das Buch vor dessen lässigem Ende aus der Hand legen. Für die informierten Fanatiker gilt: lesen!
Thomas Meinecke: "Musik". Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 370 S., geb., 19,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Als "raffiniertes Stück Popsoziologie" beschreibt Rezensent Edo Reents Thomas Meineckes Geschichte über ein Geschwisterpaar, auch wenn der Rezensent die handlungsarme Geschichte manchmal sperrig fand. Für ein literarisches "Pulp Fiction" passiert dann doch zu wenig, meint er. Es geht ihm zufolge um sexuelle Orientierung und Identität sowie deren Ausdruck oder "Verschleierung" in populärer Musik. Virtuos, wenn auch geschwätzig arbeitet Meinecke an der Auflösung des Unterschieds zwischen männlich und weiblich, stellt der Rezensent fest. Trotz einiger Einwände legt er das Buch besonders Lesern ans Herz, die sich für die Tiefe des scheinbar Oberflächlichen interessieren.
© Perlentaucher Medien GmbH
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