Keine andere Kunst nahm Roger Willemsen so persönlich wie die Musik: Sie war von früh an Komplizin, als es darum ging, das Leben zu verdichten. Willemsens Liebeserklärungen an den Jazz, seine Verbeugungen vor den klassischen Komponisten, seine scharfe Verteidigung der künstlerischen Existenz, vor allem aber sein tiefes Verständnis für die Musiker und ihre Themen sind legendär. Seine einzigartigen Texte "über Musik" sind weit mehr als das: Sie sind Ausdruck eines Lebens "entlang jener Linie, an der man Dinge macht, die aus Freude bestehen oder aus Aufregung, aber nie aus Gleichgültigkeit". Roger Willemsens Hommage an die Musik und ihre Heldinnen und Helden gibt einem das Gefühl, am Leben zu sein.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.12.2018Schwere Abschiede
Ein Nachlass-Band dokumentiert Roger Willemsens Musikleidenschaft
Ein Kommentator beim Online-Händler beklagte sich, der Titel dieses Buches sei falsch gewählt - es heiße "Musik!", müsse aber eigentlich "Jazz!" heißen. Das stimmt insofern, als der Jazz Roger Willemsens erste musikalische Bezugsgröße war und von den rund fünfhundert Seiten dieses Buches mindestens siebzig Prozent beansprucht. Aber es stimmt wieder nicht, wenn man sich die vielen kleinen Radioessays durchliest, die mit "Klassik und Jazz" überschrieben sind: In dieser Sendereihe für den NDR hat Willemsen von 2009 an klassische Komponisten mit Jazzmusikern zusammengespannt, und natürlich sind die Paarungen so gewagt, idiosynkratisch und geglückt , wie man es sich bei diesem außerhalb der Schablonen denkenden Genießer vorstellen kann: Strawinsky hört er mit Sonny Rollins, Domenico Scarlatti mit Art Tatum, Rimski-Korsakow mit Roy Eldridge und Haydn mit Thelonious Monk. Wer mit den meisten dieser Namen nichts anfangen kann, ist hier sowieso falsch und sollte lieber zu Einführungswerken greifen.
Roger Willemsen (1955 bis 2016) hat dieses Buch so nicht konzipiert. Es sind 101 Stücke aus dem Nachlass, die als Sendemanuskripte, Kolumnen, Begleitheft- oder Gelegenheitstexte entstanden. Die Herausgeberin Insa Wilke hat sie gesichtet, redigiert und mit einem ebenso warmherzigen wie nützlichen Nachwort versehen. Was Willemsens Konzept interessant macht, ist nicht der Umstand, dass er so viele Platten gehört hat und so viele Namen aufsagen kann. Sondern eine im Detail immer wieder verblüffende Assoziationslust, die viel weiter springt, als unsere Klassifizierungen oder die Unterscheidung von U- und E-Musik im Allgemeinen erlauben.
Beispiel Beethoven: Den ersten Satz des Es-Dur-Septetts, op. 20, den Willemsen für eine seiner Radiosendungen ausgesucht hat, führt er mit Beobachtungen zur Lebensphase des Komponisten ein: Beethoven ist Anfang dreißig, die Anzeichen seiner Taubheit sind noch gering, er wendet sich der Kammermusik für Streicher zu. Doch schon im Jahr darauf schreibt er das "Heiligenstädter Testament", das Willemsen ausführlich zitiert und in dem Beethoven die "verdoppelte trauerige Erfahrung meines schlechten Gehörs" beklagt - "und doch war's mir noch nicht möglich den / Menschen zu sagen: sprecht lauter, schrejt, denn / ich bin taub".
Nach den 3:21 Minuten, die der Beethoven-Satz dauert, stellt Willemsen dann Jimmy Giuffre vor, den amerikanischen Klarinettisten, Saxophonisten und Trio-Mann, einen der zurückhaltenden und deswegen oft übersehenen Small-group-Musiker, den man sich entweder in der kleinen Combo vorstellen kann oder gar nicht, auch nicht als Solisten. Und hier erwähnt Willemsen, warum Giuffre (unter anderem) wichtig ist: weil er auf das hektische Geräusch der Moderne verzichtet und sich "gegen die Monotonie des durchgehaltenen Beats in den Drums" wandte, indem er den Rhythmus in seinen Gruppen dem Bass überließ; das reichte. Leiser werden, heißt die Botschaft dieser kleinen Sendung, die mit dem ertaubenden Beethoven beginnt und einem bemerkenswert stillen Jazzer ausklingt.
Der Stille ist auch die vierseitige Vorbemerkung (hervorgegangen aus dem Begleitheft zur CD-Produktion mit der Geigerin Isabelle Faust) gewidmet, die fast einer Meditation gleichkommt. Das Wort ist bewusst gewählt. Meditation, Geheimnis und Offenbarung sind Begriffe der Transzendenz und gehören für Willemsen zum Kern des musikalischen Erlebens. Deswegen fiel es ihm leicht, sich für Fremdes zu öffnen, etwa für Musik aus Afghanistan, Äthiopien und Mali; deswegen hat er so vehement gegen "Muzak", Fahrstuhl-Pop und öffentliche Dauerberieselung gekämpft. Willemsen hasste das Ungefähre, Gefühlsfaule, er forderte Ernst und Aufmerksamkeit. Nur vor diesem Hintergrund konnte er sogar ein Plädoyer für das Harmlose und Niedliche in der Musik schreiben - weil er wusste, dass die Seele Ruhepausen braucht.
Seinen Sendungen zum Jazz, die knapp zweihundert Seiten des Buches ausmachen, unterlegt er schon im Titel ein Raster von Emotionen, das uns erlaubt, die anschließend vorgestellte Musik neu zu hören: "Schwere Abschiede" heißt so ein Kapitel zum Beispiel. Oder "Heimweh", "Nachtstimmungen", "Vor Tagesanbruch" und "Die große Ruhe".
Einen seiner Hausgötter, Bill Evans, zitiert er mit dem Satz, Jazz sei kein "intellektuelles Theorem", sondern "ein Gefühl". Aus dieser Empfänglichkeit heraus schreibt Willemsen besonders eindringlich über Einzelgänger, Außenseiter, Gefährdete oder Abgestürzte - von Art Pepper bis Helen Merrill, von Bill Evans über Clifford Brown bis zu Michel Petrucciani. Reflexionen über Stücke wie Evans' "Peace Piece" sind eine andere Art, um zu sagen, dass sich nur das Traurige, Schwermütige in der Kunst lohnt - eben das, "was nicht in den Noten steht", wie er in einem Porträt der Pianistin Anna Gourari schreibt. Dass er dabei gelegentlich den Kitsch streift, gehört zum Risiko, wenn man die Sprache nach frischen Begriffen für das Persönliche, Unsagbare umgräbt.
Als Roger Willemsen 2016 starb, nahmen Freunde und Kollegen von einem der vielseitigsten Intellektuellen des Landes Abschied - vielleicht dem einzigen, der das Fernsehen zur Bühne gemacht hatte, ohne sich von ihm dauerhaft beschädigen zu lassen. Den Großteil der hier versammelten Texte fürs Radio muss man sich gesprochen vorstellen, weil sie so geschrieben sind: für die eigene Stimme und ihre Flexionen, für die eigenen Stimmungen, also oft für die tiefe Nacht, wenn Hörer im Minderheitenprogramm die wahren Entdeckungen machen.
Seine Polemiken gegen Helene Fischer und andere Vertreter der Abteilung Pop & Schnulze braucht man eigentlich nicht. Einmal, weil die Fans eh unbelehrbar sind; und dann auch, weil Willemsens Feuilletons etwas zu angestrengt, zu kalauernd auftreten. Hier hat der große Liebende der vorangegangenen Kapitel seine profane B-Seite.
Der längste Text des Bandes, ein ausgewachsener Essay, gilt John Coltrane, und auch das hat seine Richtigkeit. Vor der Besessenheit, vor künstlerischer Unbedingheit, schöpferischem Furor und - noch einmal - dem Geheimnis hatte Roger Willemsen größten Respekt. Das macht viele dieser Stücke zu Verteidigungsreden und Liebeserklärungen in einem. Wenn nur eine Handvoll Leser sich mit Musik beschäftigt, wie Willemsen sie verstand, nämlich als Forderung an alle Sinne, an Herz und Verstand, dann hat sich dieses Buch schon gelohnt.
PAUL INGENDAAY
Roger Willemsen: "Musik!" Über ein Lebensgefühl.
Herausgegeben von Insa
Wilke. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018. 512 S., geb., 24, - [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Nachlass-Band dokumentiert Roger Willemsens Musikleidenschaft
Ein Kommentator beim Online-Händler beklagte sich, der Titel dieses Buches sei falsch gewählt - es heiße "Musik!", müsse aber eigentlich "Jazz!" heißen. Das stimmt insofern, als der Jazz Roger Willemsens erste musikalische Bezugsgröße war und von den rund fünfhundert Seiten dieses Buches mindestens siebzig Prozent beansprucht. Aber es stimmt wieder nicht, wenn man sich die vielen kleinen Radioessays durchliest, die mit "Klassik und Jazz" überschrieben sind: In dieser Sendereihe für den NDR hat Willemsen von 2009 an klassische Komponisten mit Jazzmusikern zusammengespannt, und natürlich sind die Paarungen so gewagt, idiosynkratisch und geglückt , wie man es sich bei diesem außerhalb der Schablonen denkenden Genießer vorstellen kann: Strawinsky hört er mit Sonny Rollins, Domenico Scarlatti mit Art Tatum, Rimski-Korsakow mit Roy Eldridge und Haydn mit Thelonious Monk. Wer mit den meisten dieser Namen nichts anfangen kann, ist hier sowieso falsch und sollte lieber zu Einführungswerken greifen.
Roger Willemsen (1955 bis 2016) hat dieses Buch so nicht konzipiert. Es sind 101 Stücke aus dem Nachlass, die als Sendemanuskripte, Kolumnen, Begleitheft- oder Gelegenheitstexte entstanden. Die Herausgeberin Insa Wilke hat sie gesichtet, redigiert und mit einem ebenso warmherzigen wie nützlichen Nachwort versehen. Was Willemsens Konzept interessant macht, ist nicht der Umstand, dass er so viele Platten gehört hat und so viele Namen aufsagen kann. Sondern eine im Detail immer wieder verblüffende Assoziationslust, die viel weiter springt, als unsere Klassifizierungen oder die Unterscheidung von U- und E-Musik im Allgemeinen erlauben.
Beispiel Beethoven: Den ersten Satz des Es-Dur-Septetts, op. 20, den Willemsen für eine seiner Radiosendungen ausgesucht hat, führt er mit Beobachtungen zur Lebensphase des Komponisten ein: Beethoven ist Anfang dreißig, die Anzeichen seiner Taubheit sind noch gering, er wendet sich der Kammermusik für Streicher zu. Doch schon im Jahr darauf schreibt er das "Heiligenstädter Testament", das Willemsen ausführlich zitiert und in dem Beethoven die "verdoppelte trauerige Erfahrung meines schlechten Gehörs" beklagt - "und doch war's mir noch nicht möglich den / Menschen zu sagen: sprecht lauter, schrejt, denn / ich bin taub".
Nach den 3:21 Minuten, die der Beethoven-Satz dauert, stellt Willemsen dann Jimmy Giuffre vor, den amerikanischen Klarinettisten, Saxophonisten und Trio-Mann, einen der zurückhaltenden und deswegen oft übersehenen Small-group-Musiker, den man sich entweder in der kleinen Combo vorstellen kann oder gar nicht, auch nicht als Solisten. Und hier erwähnt Willemsen, warum Giuffre (unter anderem) wichtig ist: weil er auf das hektische Geräusch der Moderne verzichtet und sich "gegen die Monotonie des durchgehaltenen Beats in den Drums" wandte, indem er den Rhythmus in seinen Gruppen dem Bass überließ; das reichte. Leiser werden, heißt die Botschaft dieser kleinen Sendung, die mit dem ertaubenden Beethoven beginnt und einem bemerkenswert stillen Jazzer ausklingt.
Der Stille ist auch die vierseitige Vorbemerkung (hervorgegangen aus dem Begleitheft zur CD-Produktion mit der Geigerin Isabelle Faust) gewidmet, die fast einer Meditation gleichkommt. Das Wort ist bewusst gewählt. Meditation, Geheimnis und Offenbarung sind Begriffe der Transzendenz und gehören für Willemsen zum Kern des musikalischen Erlebens. Deswegen fiel es ihm leicht, sich für Fremdes zu öffnen, etwa für Musik aus Afghanistan, Äthiopien und Mali; deswegen hat er so vehement gegen "Muzak", Fahrstuhl-Pop und öffentliche Dauerberieselung gekämpft. Willemsen hasste das Ungefähre, Gefühlsfaule, er forderte Ernst und Aufmerksamkeit. Nur vor diesem Hintergrund konnte er sogar ein Plädoyer für das Harmlose und Niedliche in der Musik schreiben - weil er wusste, dass die Seele Ruhepausen braucht.
Seinen Sendungen zum Jazz, die knapp zweihundert Seiten des Buches ausmachen, unterlegt er schon im Titel ein Raster von Emotionen, das uns erlaubt, die anschließend vorgestellte Musik neu zu hören: "Schwere Abschiede" heißt so ein Kapitel zum Beispiel. Oder "Heimweh", "Nachtstimmungen", "Vor Tagesanbruch" und "Die große Ruhe".
Einen seiner Hausgötter, Bill Evans, zitiert er mit dem Satz, Jazz sei kein "intellektuelles Theorem", sondern "ein Gefühl". Aus dieser Empfänglichkeit heraus schreibt Willemsen besonders eindringlich über Einzelgänger, Außenseiter, Gefährdete oder Abgestürzte - von Art Pepper bis Helen Merrill, von Bill Evans über Clifford Brown bis zu Michel Petrucciani. Reflexionen über Stücke wie Evans' "Peace Piece" sind eine andere Art, um zu sagen, dass sich nur das Traurige, Schwermütige in der Kunst lohnt - eben das, "was nicht in den Noten steht", wie er in einem Porträt der Pianistin Anna Gourari schreibt. Dass er dabei gelegentlich den Kitsch streift, gehört zum Risiko, wenn man die Sprache nach frischen Begriffen für das Persönliche, Unsagbare umgräbt.
Als Roger Willemsen 2016 starb, nahmen Freunde und Kollegen von einem der vielseitigsten Intellektuellen des Landes Abschied - vielleicht dem einzigen, der das Fernsehen zur Bühne gemacht hatte, ohne sich von ihm dauerhaft beschädigen zu lassen. Den Großteil der hier versammelten Texte fürs Radio muss man sich gesprochen vorstellen, weil sie so geschrieben sind: für die eigene Stimme und ihre Flexionen, für die eigenen Stimmungen, also oft für die tiefe Nacht, wenn Hörer im Minderheitenprogramm die wahren Entdeckungen machen.
Seine Polemiken gegen Helene Fischer und andere Vertreter der Abteilung Pop & Schnulze braucht man eigentlich nicht. Einmal, weil die Fans eh unbelehrbar sind; und dann auch, weil Willemsens Feuilletons etwas zu angestrengt, zu kalauernd auftreten. Hier hat der große Liebende der vorangegangenen Kapitel seine profane B-Seite.
Der längste Text des Bandes, ein ausgewachsener Essay, gilt John Coltrane, und auch das hat seine Richtigkeit. Vor der Besessenheit, vor künstlerischer Unbedingheit, schöpferischem Furor und - noch einmal - dem Geheimnis hatte Roger Willemsen größten Respekt. Das macht viele dieser Stücke zu Verteidigungsreden und Liebeserklärungen in einem. Wenn nur eine Handvoll Leser sich mit Musik beschäftigt, wie Willemsen sie verstand, nämlich als Forderung an alle Sinne, an Herz und Verstand, dann hat sich dieses Buch schon gelohnt.
PAUL INGENDAAY
Roger Willemsen: "Musik!" Über ein Lebensgefühl.
Herausgegeben von Insa
Wilke. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018. 512 S., geb., 24, - [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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