Das Vinyl, auf dem wir kreisen oder: Skepsis gegenüber Tiermusik. Diedrich Diederichsen über: Jimi Hendrix, Duke Ellington, Arnold Schönberg, Fat Boy Slim, Cher, Daft Punk, Courtney Love, Jan Delay, Air, Pink Floyd, Blumfeld, Kevin Rowland, Elvis Presley, New Order, Eric Clapton, John Coltrane, Stanley Kubrick, Björk, Johann Strauß, Wu-Tang Clan, Neil Young, Lou Reed, Fehlfarben, Small Faces, Bob Dylan, Joni Mitchell, Sid Vicious, Johnny Cash, Madonna, Eminem...
Eines der zentralen Stichwörter hier ist Leben. Geht es doch immer wieder darum, das Verhältnis von Pop-Musik und Leben auszuloten. Vom Leben als Musikhörer, Konzertbesucher, Plattensammler über neue Lebensentwürfe zur Idee von einem besseren Leben, wie es die Pop-Musik immer wieder verspricht.
Aber auch Lebensgeschichten werden erzählt, vom Großkosmiker Sun Ra und Funk-Korvettenkapitän George Clinton, von Larry Levan, dem DJ-Heroen aus der legendären New Yorker Paradise Garage, dem es gelang aus vielen einzelnen Schallplatten das dynamische flüssige Gewand einer Nacht zu weben.
»Radikalisiert das Leben!« hieß unerträglicher Weise der Werbespruch für den Musiksender Viva zwei. Zum Leben gehört aber auch der Tod und so ist Viva zwei längst untergegangen.
Das Musikzimmer ist hier mehr als der bürgerliche Salon, wo man sich einst zur Hausmusik versammelte. Natürlich ist es zum Musikhören da, es ist aber auch Disco, Flugzeug, Plattenladen, Konzertbühne und »Listening Space«.
Eines der zentralen Stichwörter hier ist Leben. Geht es doch immer wieder darum, das Verhältnis von Pop-Musik und Leben auszuloten. Vom Leben als Musikhörer, Konzertbesucher, Plattensammler über neue Lebensentwürfe zur Idee von einem besseren Leben, wie es die Pop-Musik immer wieder verspricht.
Aber auch Lebensgeschichten werden erzählt, vom Großkosmiker Sun Ra und Funk-Korvettenkapitän George Clinton, von Larry Levan, dem DJ-Heroen aus der legendären New Yorker Paradise Garage, dem es gelang aus vielen einzelnen Schallplatten das dynamische flüssige Gewand einer Nacht zu weben.
»Radikalisiert das Leben!« hieß unerträglicher Weise der Werbespruch für den Musiksender Viva zwei. Zum Leben gehört aber auch der Tod und so ist Viva zwei längst untergegangen.
Das Musikzimmer ist hier mehr als der bürgerliche Salon, wo man sich einst zur Hausmusik versammelte. Natürlich ist es zum Musikhören da, es ist aber auch Disco, Flugzeug, Plattenladen, Konzertbühne und »Listening Space«.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.10.2005Die Kritik der Kopfhörer ist ein sehr schwieriger Job
Diedrich Diederichsen denkt den Wechselstromkreis zwischen Kunst und Leben / Von Dietmar Dath
Wer's wissen will, kann aus einem vor drei Jahren vom "Eulenspiegel"-Verlag veröffentlichten Briefwechsel erfahren, was verdiente und gescheite Kommunisten zweier deutscher Staaten in den leidigen Jahren 1989 und 1990 im Kulturbereich beschäftigt hat: Der geistreiche Ost-Kommunist Peter Hacks hat damals vor allem versucht, dem verdienten West-Kommunisten André Müller den kommunistischen Schriftsteller Ronald M. Schernikau als einen "sicheren Mann" nahezubringen. Hacks warb, Müller wehrte ab - der Punkt war ein ästhetischer: Dieser Schernikau, schimpfte Müller vergnatzt, neige "sehr zu diesem Konkret-Stil jenes Idioten, der dort immer Schallplatten bespricht".
Der hier zu herabsetzenden Vergleichszwecken unter Anspielung auf seine Plattenkolumne in der Zeitschrift "konkret" geschmähte Mann heißt Diedrich Diederichsen. Er ist seit fünfundzwanzig Jahren in exakt dem Sinn der beste deutsch schreibende Popmusikkritiker, in dem Walter Benjamin Deutschlands bester Literaturkritiker sein wollte. Wie Benjamin hat Diederichsen zahlreiche Nachahmer gefunden, in deren Köpfen seine Schriften viel Erfreuliches und manch Fragwürdiges angerichtet haben; wie Benjamin hat er zwischen Solidarität und Kritik viele verschiedene publizistische Sorten schriftstellerischer Bezugnahme auf das, was jeweils "die Linke" war, ausprobiert, verworfen und neu angeknüpft.
1988, als die Zeitschrift "konkret" von Diederichsen noch Theaterrezensionen annahm, schrieb er in einem hinreißenden Artikel über Johannes R. Bechers "Winterschlacht"-Stück zu jenem speziellen Typus Mensch, der von Kommunisten nicht als "sicherer Mann" eingestuft werden kann und zu dem Diederichsen selbst zählt, nämlich zum "Avantgardisten im weitesten Sinne": "Diese extreme Version des bürgerlichen Individuums ist zugleich Revolutionär und Décadent, der beste Sozialist und darum auch sein schlimmster Feind." Daß ein hundertfünfundzwanzigprozentiger Kommunist wie Ronald M. Schernikau sich von einem solchen Avantgardisten und seinen wechselstromstarken Kippschalter-Gedanken beeinflußt zeigen konnte, liegt daran, daß Schernikau sich in einer Welt bewegte, in der man die Popkultur nicht ignorieren konnte. Wer hierzulande so arbeitet, muß Diederichsen gelesen haben und wird ihn weiter lesen müssen, denn was ihn wichtig, wertvoll und manchmal heikel macht, darin läßt er einfach nicht nach, wie sein neues Buch "Musikzimmer" beweist.
Der Diederichsen von heute interessiert sich für weniger breit gefächert verschiedenartige Kunstwerke und Sachverhalte als der von 1988, aber diese weniger gewordenen interessieren ihn dafür eher noch mehr als früher schlicht "alles". "Musikzimmer" sammelt nicht einfach 62 Kolumnen aus dem Berliner " Tagesspiegel". Ein langer einleitender Aufsatz gibt ihnen vielmehr die Art von Halt, die aus ernsthaftester Ablehnung der belehrenden Traktatform stammt. So macht der Autor deutlich, daß er zwar zum Glück nicht mehr gezwungen ist, seine übergreifenden Denkbewegungen und Forschungsprogramme in die mickrigen Portiönchen konventioneller Plattenkritiken zu zerlegen, daß er sich aber von dieser mit den Jahren und dem guten Ruf erworbenen Freiheit vom Formatzwang andererseits nicht dazu verführen läßt, nunmehr umstandslos aufs systematische und dogmatische Ganze zu gehen. Geblitzt und feuilletonisiert wird aber auch kaum: Die kleinen, beweglich rhythmisierten und kantablen Betrachtungen zu Künstlerinnen und Künstlern von Lizzy Mercier Descloux bis Schönberg, Joe Cocker bis Oval, Ligeti bis Eminem werfen ihre treffenden Schilderungen und Einordnungen dessen, was in der populären, antipopulären und solipsistischen Musik los ist, nicht als Bonbons in die Menge, sondern wollen immer auf etwas Allgemeineres, von Lebens- und Politikzusammenhängen gestiftetes und diese selbst Stiftendes hinaus.
Sowenig man also die vielen deskriptiven und analytischen Punktschweißnahtstellen zitieren sollte, damit man nicht den falschen Eindruck erzeugt, es ginge hier um die Sorte Service, die CD-Begleithefte bieten, so bereitwillig möchte man sich in Anführungen und Paraphrasen der vielen Sentenzen verlieren, die das besagte allgemeinere und programmatische Moment an der Arbeit dieses Kritikers behaupten und ausstellen. Es sind Epiphanien von erheblicher Dignität und Übersichtsförderlichkeit darunter wie "Wenn man Nonkonformismus entwickelt, sollte man wenigstens wissen, was der aktuelle Konformismus geschlagen hat", "Nehmt euch vor Leuten in acht, die die Musik ,lieben'" oder "Die Aggression des Punk bedurfte gar nicht der Legitimation durch blöde oder böse Gegner. Die Aggression hatte recht, weil sie die Sprache der Pop-Musik erneuerte, in eine neue Verbindlichkeitsspirale einspeiste."
Auch rein stilistisch ist in der Umgebung von derlei "großen Ansichten" (Goethe über Lessing) einiges zu holen und zu genießen; der mittelspäte Diederichsen scheint sich am Schreibtisch auf eine Edmund-Wilson-hafte, sehr literaturkritikereske Weise wohl zu fühlen und kann milde abwägend, unaufgeregt weltbezweifelnd formulieren: Kadenzen wie "Mit dem Punk-Revival sollte es langsam genug sein. Denkt man" oder ein Satzanfang wie "Der Zeitschrift ,De-Bug' entnehme ich" klingen nach geruhsamer Überprüfung des von einer geschäftigen Welt Veranstalteten und wecken im Leser die Phantasie, daß ein Benjamin, der den Krieg überlebt hätte, nicht unbedingt weniger entschieden, aber womöglich heiterer argumentiert und formuliert hätte als zu wilden Weimarer-Republik-New-Wave-Zeiten.
Diese unmuffige Gesetztheit und ihr Hochsympathisches sollen freilich nicht die Ausrede des Rezensenten dafür sein, zu ignorieren oder zu verschweigen, daß Diederichsen auch in diesem Buch an Prämissen seiner spezifischen Art und Weise, aus Platten Erkenntnisse zu schneiden, festhält, die der Rezensent, der eine Weile in denselben Arbeitszusammenhängen stand wie der Rezensierte, einmal geteilt hat und heute nur sehr eingeschränkt noch teilen will. Es geht dabei um den Gedanken, der aufscheint in Wendungen wie jener von der "Übertragung von an Musik gebundener Lebenssubstanz in tote Film-Erzählungen", die auf schlechten Soundtracks passiere, oder in der Feststellung, daß aus dem Leben mit Pop-Musik im günstigsten Fall - Diederichsen ist weit entfernt von einem Optimismus, der darin den Normalfall sieht - immer wieder "reale Inseln aus sozialer Energie, Kontakt, Praxis entstehen". Die da umspielte These lautet wohl, daß die Beschäftigung mit bestimmten Künsten für linke Kulturkritik ergiebiger ist als das Urteilen und Agitieren entlang anderswo als im Kulturleben gewonnener theoretischer Einsichten. Diese Sicht ist kein Spezifikum von Diederichsens Theorie: Auch Adorno hat so etwas geglaubt; er hat es nur anders begründet. Denn die von ihm für solche kulturkritischen Exerzitien bevorzugte moderne Avantgardekunst schien ihm gefeit gegen die Verschweinung des Lebens durch die Kulturindustrie. Diederichsens Argument geht anders: Je mehr "soziale Energie, Kontakt, Praxis" eine Kunst erzeugt, desto richtiger ist sie als Gegenstand linker Kulturkritik und -analyse. Das hat ihn in genau die Musikzimmer und Konzertsäle geführt, die Adorno entsetzt gemieden hätte. Gemeinsam bleibt ihnen aber, daß sie als Kulturktiker schreiben und eben nicht als, zum Beispiel, Kommunisten: als Leute also, die sich über den erarbeiteten und erlebten Zusammenhang mit Kultur definieren, nicht über eine Parteizugehörigkeit oder Gesinnung. Letztere direkt mit Sozialem kurzzuschließen wäre beiden freilich auch aufgrund der historischen Situation - welche Partei hätte das sein sollen, die SPD? Eine K-Gruppe? - nicht möglich gewesen. Es ist auch heute nicht drin.
Diederichsens programmatischer Ausweg hieraus ist ein letztlich ethisch gedachter: Lieber die problematischste Solidarität mit irgendwelchen real ringenden Menschen im Plattenkaufhaus, im Ghetto von Los Angeles oder im Studentenwohnheim als die richtigste rein theoretische Wahrheit oder Schönheit. Weil er klug ist, sieht er wohl auch ein Problem an diesem Programm, nämlich, daß die Pop-Musik (oder irgendeine andere Welttatsache der genannten sozial-praktischen Art), während sie solche sozialen "Denkräume und Imaginationsvitrinen" bereitstellt, auch etwas kaputtmacht, daß also, "je erfolgreicher sie dabei ist, diese Räume immer mehr zu traurigen Kopien der gesellschaftlichen Verhältnisse von Ausschluß und Hierarchie werden: zu Bibliotheken, in denen sich Spezialisten treffen, zu Vernissagen, auf denen sich traditionelle kulturelle Eliten begegnen, zu Clubs, zu denen man sich gegenseitig den Einlaß verwehrt". Das ist primär ein historisches Problem, wenn man so will: die Dekadenz der Décadence. Es gibt aber auch ein logisches: Die Idee, daß ein sozialer Raum an sich wahrer, weil wirklicher ist als selbst die wahrste Idee, muß nicht stimmen. Es wäre nämlich auch möglich, daß schon der empirische Zusammenhang solcher Räume und Sozialtatsachen eben nicht von einer Praxis gestiftet wird, die das Leben verbessert, sondern vom falschen Bewußtsein derjenigen, die glauben, sie hätten Teil an diesem Zusammenhang. Bist du Deutscher oder Arbeitsloser? Welches Kollektiv ist dasjenige, auf das sich dein Handeln bezieht? Je nachdem, wie dies im Kopf gewichtet ist, wählt man als deutscher Arbeitsloser oder arbeitsloser Deutscher dann NPD oder nicht. Daß das Kollektiv, dessen Praxis er vorfindet, mit der er sich solidarisiert, kein praktisches, sondern ein ideologisches ist, sieht der Kritiker nicht, wenn er gerade dabei ist, diesem Kollektiv ein richtiges Bewußtsein zu basteln und anzudrehen.
Zu Zeiten, da so einer das noch sehen konnte, hieß er nicht Kritiker, sondern Aufklärer. Die sind lange vorbei. Aber was man jetzt tun muß, damit das, was seither schlechter wurde, nicht noch schlechter werde, erfährt man nicht von Kunst.
Diedrich Diederichsen: "Musikzimmer". Avantgarde und Alltag. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005. 239 S., br., 9,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main KTX: Wenn man den Zugang zu einer Kunst sucht, die wie die Popmusik oder die Avantgarde vor allem anhand der Leute zu verstehen ist, die sie mögen, wird man Praxis wichtiger finden als Überzeugungen. Aber woher kommen dann die richtigen Ideen?
Diedrich Diederichsen denkt den Wechselstromkreis zwischen Kunst und Leben / Von Dietmar Dath
Wer's wissen will, kann aus einem vor drei Jahren vom "Eulenspiegel"-Verlag veröffentlichten Briefwechsel erfahren, was verdiente und gescheite Kommunisten zweier deutscher Staaten in den leidigen Jahren 1989 und 1990 im Kulturbereich beschäftigt hat: Der geistreiche Ost-Kommunist Peter Hacks hat damals vor allem versucht, dem verdienten West-Kommunisten André Müller den kommunistischen Schriftsteller Ronald M. Schernikau als einen "sicheren Mann" nahezubringen. Hacks warb, Müller wehrte ab - der Punkt war ein ästhetischer: Dieser Schernikau, schimpfte Müller vergnatzt, neige "sehr zu diesem Konkret-Stil jenes Idioten, der dort immer Schallplatten bespricht".
Der hier zu herabsetzenden Vergleichszwecken unter Anspielung auf seine Plattenkolumne in der Zeitschrift "konkret" geschmähte Mann heißt Diedrich Diederichsen. Er ist seit fünfundzwanzig Jahren in exakt dem Sinn der beste deutsch schreibende Popmusikkritiker, in dem Walter Benjamin Deutschlands bester Literaturkritiker sein wollte. Wie Benjamin hat Diederichsen zahlreiche Nachahmer gefunden, in deren Köpfen seine Schriften viel Erfreuliches und manch Fragwürdiges angerichtet haben; wie Benjamin hat er zwischen Solidarität und Kritik viele verschiedene publizistische Sorten schriftstellerischer Bezugnahme auf das, was jeweils "die Linke" war, ausprobiert, verworfen und neu angeknüpft.
1988, als die Zeitschrift "konkret" von Diederichsen noch Theaterrezensionen annahm, schrieb er in einem hinreißenden Artikel über Johannes R. Bechers "Winterschlacht"-Stück zu jenem speziellen Typus Mensch, der von Kommunisten nicht als "sicherer Mann" eingestuft werden kann und zu dem Diederichsen selbst zählt, nämlich zum "Avantgardisten im weitesten Sinne": "Diese extreme Version des bürgerlichen Individuums ist zugleich Revolutionär und Décadent, der beste Sozialist und darum auch sein schlimmster Feind." Daß ein hundertfünfundzwanzigprozentiger Kommunist wie Ronald M. Schernikau sich von einem solchen Avantgardisten und seinen wechselstromstarken Kippschalter-Gedanken beeinflußt zeigen konnte, liegt daran, daß Schernikau sich in einer Welt bewegte, in der man die Popkultur nicht ignorieren konnte. Wer hierzulande so arbeitet, muß Diederichsen gelesen haben und wird ihn weiter lesen müssen, denn was ihn wichtig, wertvoll und manchmal heikel macht, darin läßt er einfach nicht nach, wie sein neues Buch "Musikzimmer" beweist.
Der Diederichsen von heute interessiert sich für weniger breit gefächert verschiedenartige Kunstwerke und Sachverhalte als der von 1988, aber diese weniger gewordenen interessieren ihn dafür eher noch mehr als früher schlicht "alles". "Musikzimmer" sammelt nicht einfach 62 Kolumnen aus dem Berliner " Tagesspiegel". Ein langer einleitender Aufsatz gibt ihnen vielmehr die Art von Halt, die aus ernsthaftester Ablehnung der belehrenden Traktatform stammt. So macht der Autor deutlich, daß er zwar zum Glück nicht mehr gezwungen ist, seine übergreifenden Denkbewegungen und Forschungsprogramme in die mickrigen Portiönchen konventioneller Plattenkritiken zu zerlegen, daß er sich aber von dieser mit den Jahren und dem guten Ruf erworbenen Freiheit vom Formatzwang andererseits nicht dazu verführen läßt, nunmehr umstandslos aufs systematische und dogmatische Ganze zu gehen. Geblitzt und feuilletonisiert wird aber auch kaum: Die kleinen, beweglich rhythmisierten und kantablen Betrachtungen zu Künstlerinnen und Künstlern von Lizzy Mercier Descloux bis Schönberg, Joe Cocker bis Oval, Ligeti bis Eminem werfen ihre treffenden Schilderungen und Einordnungen dessen, was in der populären, antipopulären und solipsistischen Musik los ist, nicht als Bonbons in die Menge, sondern wollen immer auf etwas Allgemeineres, von Lebens- und Politikzusammenhängen gestiftetes und diese selbst Stiftendes hinaus.
Sowenig man also die vielen deskriptiven und analytischen Punktschweißnahtstellen zitieren sollte, damit man nicht den falschen Eindruck erzeugt, es ginge hier um die Sorte Service, die CD-Begleithefte bieten, so bereitwillig möchte man sich in Anführungen und Paraphrasen der vielen Sentenzen verlieren, die das besagte allgemeinere und programmatische Moment an der Arbeit dieses Kritikers behaupten und ausstellen. Es sind Epiphanien von erheblicher Dignität und Übersichtsförderlichkeit darunter wie "Wenn man Nonkonformismus entwickelt, sollte man wenigstens wissen, was der aktuelle Konformismus geschlagen hat", "Nehmt euch vor Leuten in acht, die die Musik ,lieben'" oder "Die Aggression des Punk bedurfte gar nicht der Legitimation durch blöde oder böse Gegner. Die Aggression hatte recht, weil sie die Sprache der Pop-Musik erneuerte, in eine neue Verbindlichkeitsspirale einspeiste."
Auch rein stilistisch ist in der Umgebung von derlei "großen Ansichten" (Goethe über Lessing) einiges zu holen und zu genießen; der mittelspäte Diederichsen scheint sich am Schreibtisch auf eine Edmund-Wilson-hafte, sehr literaturkritikereske Weise wohl zu fühlen und kann milde abwägend, unaufgeregt weltbezweifelnd formulieren: Kadenzen wie "Mit dem Punk-Revival sollte es langsam genug sein. Denkt man" oder ein Satzanfang wie "Der Zeitschrift ,De-Bug' entnehme ich" klingen nach geruhsamer Überprüfung des von einer geschäftigen Welt Veranstalteten und wecken im Leser die Phantasie, daß ein Benjamin, der den Krieg überlebt hätte, nicht unbedingt weniger entschieden, aber womöglich heiterer argumentiert und formuliert hätte als zu wilden Weimarer-Republik-New-Wave-Zeiten.
Diese unmuffige Gesetztheit und ihr Hochsympathisches sollen freilich nicht die Ausrede des Rezensenten dafür sein, zu ignorieren oder zu verschweigen, daß Diederichsen auch in diesem Buch an Prämissen seiner spezifischen Art und Weise, aus Platten Erkenntnisse zu schneiden, festhält, die der Rezensent, der eine Weile in denselben Arbeitszusammenhängen stand wie der Rezensierte, einmal geteilt hat und heute nur sehr eingeschränkt noch teilen will. Es geht dabei um den Gedanken, der aufscheint in Wendungen wie jener von der "Übertragung von an Musik gebundener Lebenssubstanz in tote Film-Erzählungen", die auf schlechten Soundtracks passiere, oder in der Feststellung, daß aus dem Leben mit Pop-Musik im günstigsten Fall - Diederichsen ist weit entfernt von einem Optimismus, der darin den Normalfall sieht - immer wieder "reale Inseln aus sozialer Energie, Kontakt, Praxis entstehen". Die da umspielte These lautet wohl, daß die Beschäftigung mit bestimmten Künsten für linke Kulturkritik ergiebiger ist als das Urteilen und Agitieren entlang anderswo als im Kulturleben gewonnener theoretischer Einsichten. Diese Sicht ist kein Spezifikum von Diederichsens Theorie: Auch Adorno hat so etwas geglaubt; er hat es nur anders begründet. Denn die von ihm für solche kulturkritischen Exerzitien bevorzugte moderne Avantgardekunst schien ihm gefeit gegen die Verschweinung des Lebens durch die Kulturindustrie. Diederichsens Argument geht anders: Je mehr "soziale Energie, Kontakt, Praxis" eine Kunst erzeugt, desto richtiger ist sie als Gegenstand linker Kulturkritik und -analyse. Das hat ihn in genau die Musikzimmer und Konzertsäle geführt, die Adorno entsetzt gemieden hätte. Gemeinsam bleibt ihnen aber, daß sie als Kulturktiker schreiben und eben nicht als, zum Beispiel, Kommunisten: als Leute also, die sich über den erarbeiteten und erlebten Zusammenhang mit Kultur definieren, nicht über eine Parteizugehörigkeit oder Gesinnung. Letztere direkt mit Sozialem kurzzuschließen wäre beiden freilich auch aufgrund der historischen Situation - welche Partei hätte das sein sollen, die SPD? Eine K-Gruppe? - nicht möglich gewesen. Es ist auch heute nicht drin.
Diederichsens programmatischer Ausweg hieraus ist ein letztlich ethisch gedachter: Lieber die problematischste Solidarität mit irgendwelchen real ringenden Menschen im Plattenkaufhaus, im Ghetto von Los Angeles oder im Studentenwohnheim als die richtigste rein theoretische Wahrheit oder Schönheit. Weil er klug ist, sieht er wohl auch ein Problem an diesem Programm, nämlich, daß die Pop-Musik (oder irgendeine andere Welttatsache der genannten sozial-praktischen Art), während sie solche sozialen "Denkräume und Imaginationsvitrinen" bereitstellt, auch etwas kaputtmacht, daß also, "je erfolgreicher sie dabei ist, diese Räume immer mehr zu traurigen Kopien der gesellschaftlichen Verhältnisse von Ausschluß und Hierarchie werden: zu Bibliotheken, in denen sich Spezialisten treffen, zu Vernissagen, auf denen sich traditionelle kulturelle Eliten begegnen, zu Clubs, zu denen man sich gegenseitig den Einlaß verwehrt". Das ist primär ein historisches Problem, wenn man so will: die Dekadenz der Décadence. Es gibt aber auch ein logisches: Die Idee, daß ein sozialer Raum an sich wahrer, weil wirklicher ist als selbst die wahrste Idee, muß nicht stimmen. Es wäre nämlich auch möglich, daß schon der empirische Zusammenhang solcher Räume und Sozialtatsachen eben nicht von einer Praxis gestiftet wird, die das Leben verbessert, sondern vom falschen Bewußtsein derjenigen, die glauben, sie hätten Teil an diesem Zusammenhang. Bist du Deutscher oder Arbeitsloser? Welches Kollektiv ist dasjenige, auf das sich dein Handeln bezieht? Je nachdem, wie dies im Kopf gewichtet ist, wählt man als deutscher Arbeitsloser oder arbeitsloser Deutscher dann NPD oder nicht. Daß das Kollektiv, dessen Praxis er vorfindet, mit der er sich solidarisiert, kein praktisches, sondern ein ideologisches ist, sieht der Kritiker nicht, wenn er gerade dabei ist, diesem Kollektiv ein richtiges Bewußtsein zu basteln und anzudrehen.
Zu Zeiten, da so einer das noch sehen konnte, hieß er nicht Kritiker, sondern Aufklärer. Die sind lange vorbei. Aber was man jetzt tun muß, damit das, was seither schlechter wurde, nicht noch schlechter werde, erfährt man nicht von Kunst.
Diedrich Diederichsen: "Musikzimmer". Avantgarde und Alltag. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005. 239 S., br., 9,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main KTX: Wenn man den Zugang zu einer Kunst sucht, die wie die Popmusik oder die Avantgarde vor allem anhand der Leute zu verstehen ist, die sie mögen, wird man Praxis wichtiger finden als Überzeugungen. Aber woher kommen dann die richtigen Ideen?
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Eine Rezension als Gipfelgespräch der zwei großen Dds der linken Poptheorie.
Erst einmal setzt es scharfes Lob von Dietmar Dath für Diedrich Diederichsen, denn dieser sei, summa summarum, für die Popkritik heute nicht weniger, als Walter Benjamin einst für die Literaturkritik gewesen sei. Erst einmal wird der neue Band, eine Sammlung von Kolumnen aus dem "Tagesspiegel", eingeordnet ins Gesamtwerk als genauso "wichtig, wertvoll und manchmal heikel" wie das bisherige Schaffen. Wichtig und wertvoll, weil nach wie vor wenig feuilletonistisch und immer "auf etwas Allgemeines, von Lebens- und Politikzusammenhängen gestiftetes" zielend. Etwas verändert habe Diederichsen sich dennoch, es interessiere ihn denn doch nicht mehr, wie früher, einfach "alles". Und was ihn in der "mittelspäten" Phase interessiere, dem nähere er sich in zusehends "literaturkritikeresker" Weise, so Dath. Das ist aber mehr oder weniger als Kompliment gemeint. Und doch gibt es einen zentralen Kritikpunkt Daths, an dem er eine Scheidelinie zieht zwischen DD und DD. Zu sehr bleibt ihm Diederichsen der "linken Kulturkritik" und zuletzt Adorno verhaftet im Widerstreben, die Idee der Möglichkeit einer "realen Insel aus sozialer Energie, Kontakt, Praxis" und damit die Erlösbarkeit durch real existierende kulturell-soziale Kollektive aufzugeben. Dath sieht in der Vorstellung der Wahrheitsfähigkeit solcher sozialen Kollektive eher eine Blindheit deren zuallermeist ideologischer Verfasstheit gegenüber und setzt dagegen die Kraft der reinen politischen Theorie.
© Perlentaucher Medien GmbH
Erst einmal setzt es scharfes Lob von Dietmar Dath für Diedrich Diederichsen, denn dieser sei, summa summarum, für die Popkritik heute nicht weniger, als Walter Benjamin einst für die Literaturkritik gewesen sei. Erst einmal wird der neue Band, eine Sammlung von Kolumnen aus dem "Tagesspiegel", eingeordnet ins Gesamtwerk als genauso "wichtig, wertvoll und manchmal heikel" wie das bisherige Schaffen. Wichtig und wertvoll, weil nach wie vor wenig feuilletonistisch und immer "auf etwas Allgemeines, von Lebens- und Politikzusammenhängen gestiftetes" zielend. Etwas verändert habe Diederichsen sich dennoch, es interessiere ihn denn doch nicht mehr, wie früher, einfach "alles". Und was ihn in der "mittelspäten" Phase interessiere, dem nähere er sich in zusehends "literaturkritikeresker" Weise, so Dath. Das ist aber mehr oder weniger als Kompliment gemeint. Und doch gibt es einen zentralen Kritikpunkt Daths, an dem er eine Scheidelinie zieht zwischen DD und DD. Zu sehr bleibt ihm Diederichsen der "linken Kulturkritik" und zuletzt Adorno verhaftet im Widerstreben, die Idee der Möglichkeit einer "realen Insel aus sozialer Energie, Kontakt, Praxis" und damit die Erlösbarkeit durch real existierende kulturell-soziale Kollektive aufzugeben. Dath sieht in der Vorstellung der Wahrheitsfähigkeit solcher sozialen Kollektive eher eine Blindheit deren zuallermeist ideologischer Verfasstheit gegenüber und setzt dagegen die Kraft der reinen politischen Theorie.
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»Ein dichter Essay, der diskutiert, was Pop alles ist [...]. Eindrucksvoll bleibt die Fähigkeit dieses Autors, die ästhetische Grammatik von Musik [...] in originelle Worte zu fassen.« Literaturen