Robert Musils Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" wurde kürzlich bei einer Umfrage zum bedeutendsten Roman deutscher Sprache im 20. Jahrhundert gewählt - das Leben seines Autors war jedoch bisher noch nicht mit der angemessenen Genauigkeit erforscht. Karl Corinos monumentale Musil-Biographie bringt die entscheidende Wende; sie wird für Jahrzehnte die Grundlage aller künftigen Beschäftigung mit Leben und Werk Robert Musils sein.Als Ingenieur, studierter Philosoph und Experimentalpsychologe war Musil einer der gebildetsten und vielseitigsten Autoren seiner Epoche. Die Fähigkeit zur Zusammenschau getrenntester Wissensgebiete, im «Törleß» zum ersten Mal sichtbar, im «Mann ohne Eigenschaften» vollendet, macht ihn zu einem der faszinierendsten Schriftsteller der Moderne. Karl Corinos Buch geht den Stationen und Wendungen von Musils Biographie nach und zeigt mit Akribie und Eleganz, wie aus dem «Lebensstoff» des Autors ein _uvre von weltliterarischem Rang erwuchs.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.12.2003Zur größten Schärfung des Möglichkeitssinns
Vermessungen des Dickichts: Zwei Biographien Robert Musils von Karl Corino und Herbert Kraft / Von Joachim Kalka
Es gibt ein nicht unberechtigtes Mißtrauen gegen die biographische Ergänzung des Kunsterlebnisses. Sagt es uns wirklich etwas, wenn wir erfahren, daß der Tag, an dem der "Ulysses" spielt, der berühmte Bloomsday des 16. Juni 1904, der Tag war, an dem Joyce seine spätere Frau Nora Barnacle kennenlernte? Ein großer Schriftsteller hat die Frage glatt verneint; als Nabokov seinen Studenten diesen biographischen Brosamen abfällig vorwarf, fügte er sardonisch hinzu: "So much for human interest". Denn eigentlich hat uns Derartiges nicht zu interessieren. Das Werk ist alles, das Leben nichts, hat Flaubert uns gelehrt; das Leben des Autors, des wie Gott "unsichtbaren und allmächtigen" Autors, hat im Werk zu verschwinden. Hat es nicht etwas Mediokres, dem Alltag, den Schwächen, den dummen Zufällen eines Lebens nachzugehen, aus dem ein großes Werk hervorgegangen ist?
Diese Haltung, die hierzulande oft vertreten wurde (nicht immer mit der Autorität Nabokovs), zeigt, wie gründlich wir die Ursprünge der biographischen Form vergessen haben. Deren eigentlicher Zweck war einst, ein Vorbild zu zeigen; sie spornte den Leser an. Der will von großen Menschen lesen, und unsere Zeit sucht diese eher unter Künstlern und Schriftstellern als unter Staatsmännern. Doch es geht um Größe. "Mir ekelt", murrt Karl Moor, "vor diesem tintenklecksenden Säkulum, wenn ich in meinem Plutarch lese von großen Menschen." Schiller plante lange selbst einen "Deutschen Plutarch". Wir haben nun unser Interesse vorzugsweise den "Tintenklecksern" zugewandt, ihre Größe wollen wir erkennen. Daran mag viel leere Neugier sein, es steckt aber auch eine Sehnsucht darin, etwas vom richtigen Leben zu erfahren: der Künstler als Exempel. Nicht nur in seinem Gelingen, sondern auch in seinem heroischen Scheitern: Sartres Flaubert.
Die mißtrauische Frage nach der Berechtigung der literarischen Biographie scheint in den angelsächsischen Ländern unbekannt; die Biographie verfügt dort im Gegenteil über ein völlig unangefochtenes Prestige und ist - Zeichen ihrer Beliebtheit - in unseren Tagen selbst zum Gegenstand der Fiktion geworden, etwa in A. S. Byatt Roman "Besessen". Diese Inflation des Biographischen mag in der Tat ein gewisses Mißtrauen verdienen, aber es gibt in England und den Vereinigten Staaten eben nicht nur einen Biographiekultus, es gibt eine Biographiekultur. Vor wenigen Jahren noch hätte man sagen müssen: Es gibt dort eine Virtuosität im Umgang mit der Biographie als Form, die in Deutschland unbekannt ist oder bekannt nur durch wenige glänzende - fast stets längst historische - Ausnahmen, welche die Regel bestätigen.
Die Biographie schien hier überhaupt etwas Zwieschlächtiges, Unsolides. Die Historiker sahen sie im wesentlichen als eine subalterne Form, die den Interessenten dort mit Anekdoten abspeist, wo eine Strukturanalyse einzusetzen hätte, und das scheint auch auf die Philologie stark abgefärbt zu haben. Das Biographische galt als eine Chimäre, an deren Stelle das Studium der sozialen und ökonomischen oder sprachlich-literarischen Strukturen zu treten hätte, des großen Netzes, in dem eine Biographie (die Form des Einzellebens) höchstens als bescheidener Knoten geduldet wurde. Nach und nach aber wurde ebendieses Bescheidene wieder sichtbar als das möglicherweise Interessantere. Dazu hat der Eindruck der großen Vorbilder wie Richard Ellmann beigetragen (dessen Joyce-Biographie schon früh einen wahrhaft mythischen Status erlangte); es wird auch ein sozusagen Bourdieuscher Mechanismus mitgespielt haben, ein modischer Paradigmenwechsel.
Jedenfalls darf man nun erleichtert und mit Bewunderung konstatieren: Die formal durchdachte, materiell souveräne Biographie ist in Deutschland kein exotisches Rarum mehr. Es ist in letzter Zeit eine noch vergleichsweise kleine Anzahl solcher Werke erschienen, aber sie scheinen eine Wende anzuzeigen: Rainer Stachs "Kafka", Jens Malte Fischers "Gustav Mahler: Der fremde Vertraute" und nun "Robert Musil: Eine Biographie" von Karl Corino. Die Formulierung "eine Biographie" wirkt hier wie eine stolze Mahnung angesichts viel leichter wiegender Bücher, die sich als "die" Biographie eines Autors ankündigt haben.
Das großartige Buch Corinos ist unerbittlich lang und von entschiedener Trockenheit. Das Leben Musils ist nicht im pittoresken, "interessanten" Sinne bewegt zu nennen - Corino schildert es als unauffällige, stockende Karriere vor dem breiten Bild der Epoche, zwischen Wien und Berlin. Die Kindheit, die Kadettenanstalt, in die man den renitenten Knaben abschiebt, die Studien (Technik, dann Philosophie) in Brünn und Berlin, die Freundschaften und Liebschaften, der Beginn des Schreibens: der "Törleß", die Novellen, die Dissertation über Mach, die ambitionierten und erfolglosen Theaterstücke, die wechselnden Tätigkeiten als Bibliothekar, Redakteur der "Neuen Rundschau", Journalist und so weiter, der Erste Weltkrieg. Die glückliche Ehe. Die Chronik der Schwierigkeiten: Der Entschluß dieses Technikers und Philosophen, als freier Schriftsteller zu leben, führte in die mühevolle und endlose Suche nach Mäzenen und Verdienstmöglichkeiten. Die obsessive Arbeit am großen Werk. Die Meinungen, dahinter: das Denken. Die notwendigerweise eintretende Hilflosigkeit angesichts des Dritten Reiches. Das Exil, der Tod in Genf; die Witwe zerstreut schließlich die Asche und wirft die leere Urne in die Arve. Das letzte Kapitel trägt den Untertitel "Marthas vergeblicher Kampf um die Auferstehung des Werks".
Exkurse wie etwa "Musil und der Sport" (ein faszinierendes Seitenstück zu dem, was wir mittlerweile in dieser Hinsicht über Kafka wissen) kommen hinzu, scharf konturierte Porträts der Freunde, Gegner, Mäzene, Geliebten, oft geschickt an Schlüsselpunkten eingefügt. So erscheint die Beziehung zu Karl Kraus zugespitzt und zusammengefaßt anläßlich der Diskussion der Aufführungsgeschichte von "Vinzenz oder Die Freundin bedeutender Männer". Einige Episoden scheinen von besonderer Aussagekraft; hierher gehört die tragikomische Teilnahme Musils am "Pariser Kongreß zur Verteidigung der Kultur" 1935, wo der Autor - der ähnlich wie Kraus seine unklare Hoffnung auf die austrofaschistische Regierung Dollfuß setzte, die als die letzte Möglichkeit erschien, die Nazis von Österreich fernzuhalten - in seiner Rede Politik und Kultur klar trennen wollte, dem Antifaschismus von Delegierten wie Egon Erwin Kisch in die Arme lief und dann von Bodo Uhse nicht nur bescheinigt bekam, seine Werke seien "ästhetische Dokumentationen für diese Zeit des bürgerlichen Verfalls" , sondern auch sein Schaffen sei "ein Element dieses Zerfalls selbst".
Corinos Buch hat monumentalen Charakter (erinnern wir uns, daß dieses Adjektiv vom Wort für "Denkmal" herkommt): 1450 Seiten Biographie, dazu vierhundert Seiten Fußnoten, prall vollgestopft mit Nachweisen, Exkursen und Spekulationen, "Zeittafel und Itinerar", Bibliographie und Register, dessen "Z" auf der Seite 2023 erreicht wird. Der gelegentlich kritisch angedeutete Vorwurf, dieses Buch sei einfach zu lang, ist naheliegend. Aber er geht an der Intention von Corinos Werk vorbei, aus mehreren Gründen. Einmal gibt es - ganz banal - immer Leser, die über einen bestimmten Zusammenhang, einen besonderen Punkt im Labyrinth des Lebens eines großen Produzenten Aufklärung suchen; diese Leser will das Werk zufriedenstellen, indem es den Charakter des enzyklopädischen Handbuchs annimmt, in dem man nachschlagen kann.
Am 6. November 1939 war Musil in Genf im Kino; es läßt sich zwar nicht feststellen, welchen Film er gesehen hat, aber Corino hat recherchiert, was in den zwanzig Kinos von Genf lief und welcher Kinobesuch angesichts der relativen Distanz zwischen Café und Kino der wahrscheinlichste hätte sein können. Ist dies der Leerlauf der Unersättlichkeit? Nein, denn jener Kinobesuch hat seine Bedeutung. Musil ist an diesem Tag, seinem neunundfünfzigsten Geburtstag, unruhig umhergegangen, ist schließlich im Dunkel des Kinos gelandet und hat dort das Erlebnis einer "faulenzenden", widerwärtigen Nichtigkeit: "zu schlimm". Den Film zu identifizieren, der dieses Gefühl bei einem eigentlich eifrigen Kinogänger ausgelöst hat, wäre - für manchen Leser - in der Tat von großem Interesse.
Zum anderen zeigt das ruhige, gleichmäßig "malende" Tempo, das zwar keine Mimese der Romanepik anstrebt, aber eine vergleichbare Dichte erzielt, dem Leser nicht nur panoramatisch die Lebenswelt des Dargestellten, sie läßt auch das Quälende, Stockende, Hilflose an einem Leben scharf hervortreten: die immer neuen vergeblichen Anläufe. Zum dritten handelt es sich hier eben um einen besonderen Fall. Um die Biographie Robert Musils, also - vermittelt - auch um ein Buch über das riesenhafte Romanfragment "Der Mann ohne Eigenschaften". Zwar hätte eine Biographie Sternes sich nicht unbedingt am "Tristram Shandy" zu modellieren, aber daß eine Biographie Musils den Ehrgeiz hat, bei ihrer Erzählung nicht unter dem theoretischen Niveau seines Hauptwerk zu bleiben, dürfte begreiflich sein.
Musil hat gelebt, "alles für die Vollendung seines Hauptwerkes opfernd" - wie er selbst einmal in der dritten Person eines Lebenslaufs über sich schrieb. Es blieb unvollendet; die Hoffnung des Autors, drei Tage vor seinem Tod ausgedrückt, er werde in wenigen Wochen damit beginnen können, "die erste Hälfte des Schlußbands ins Reine zu schreiben", hat sich nicht erfüllt, die komplizierte Editionsgeschichte dessen, was wir nun besitzen, hat lange gedauert. In diesem Buch nimmt ein junger Mann kurz vor dem Ersten Weltkrieg ein Jahr "Urlaub von seinem Leben", um über sich und seine Möglichkeiten nachzudenken; die Bewegung des Romans erfaßt die große Welt und die vielen kleinen Welten einzelner Menschen. Charakteristisch sind das breite, ostentative, für viele Leser provozierende Hervortreten der Reflexion (einer Reflexion, die ironisch ist und nicht auratisch wie bei Proust) und die labyrinthische Wucherung von Potentialität ("die bekannte Zusammenhanglosigkeit der Einfälle und ihre Verzweigung ohne Mittelpunkt, die für die Gegenwart kennzeichnend ist"). Corino hat keine Schneisen geschlagen, er hat unerschütterlich das Dickicht kartographiert. Darf man auf die Arbeit dieses Biographen ein Musil-, genauer ein Ulrich-Zitat beziehen? "Es muß der Mensch in seinen Möglichkeiten, Plänen und Gefühlen zuerst durch Vorurteile, Überlieferungen, Schwierigkeiten und Beschränkungen jeder Art eingeengt werden wie ein Narr in einer Zwangsjacke, und erst dann hat, was er hervorzubringen vermag, vielleicht Wert, Gewachsenheit und Bestand." Corino hat alles darangesetzt, sich einengen zu lassen, als Weiser in der Zwangsjacke seines Gegenstandes.
Fast gleichzeitig ist ein ganz anderes Buch über denselben Autor herausgekommen. Wäre Herbert Krafts "Musil" nicht quasi im Windschatten des Riesenbuches von Corino erschienen, hätte es sicher größeres Aufsehen erregt, denn es ist eine sehr beachtliche Studie. Es ist eine knappe, manches bewußt auslassende, stark mit großartig orchestrierten Zitaten Musils operierende Narration. Anders als das bewußt langsame, alles ausschöpfende Vorgehen Corinos setzt dieser Text stark auf die eindringliche, zwingende, raffende Geschwindigkeit von Entwicklungen. Die Werke werden in sicheren Vignetten gezeichnet. Corinos Werk wird den Lesern Musils alle Wünsche erfüllen; das Werk von Herbert Kraft wird Musil neue Leser zuführen.
In einem hübschen Rollentausch schreibt Kraft, Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte in Münster, weniger professoral als der studierte Germanist Corino. Die Details sind dort, wo kleine Divergenzen auftauchen, sicher bei Corino zuverlässiger: Die Delegierten in Paris 1935 stimmten nach Musils Rede wohl kein "Pfeifkonzert" (Kraft) an, schon deshalb, weil sie Musils Deutsch zum größten Teil nicht verstanden hatten, wie Corino schreibt. Aber die knappe, bündige Analyse dieser Konfrontation findet man bei Herbert Kraft. Er zitiert Musil: "Was Kisch geschrieben hat, bedarf keiner anderen Widerlegung, als meine Bücher zu verstehen." Kraft fügt hinzu: "Damit hatte er recht, allerdings aus dem Grund, weil seine Bücher das Gegenteil von dem enthielten, was er in Paris vorgetragen hatte. Mit seinen literarischen Texten schuf er die genauen Abbildungen, erkannte aber manchmal in ihnen die Wirklichkeit nicht mehr, die sie abbildeten."
Wenn es einen fundamentalen inhaltlichen Unterschied zwischen diesen beiden schönen Büchern gibt, dann ist es der Umstand, daß in der knapperen, schnelleren Narration Krafts die Liebe zwischen Martha und Robert Musil als zweites großes Thema neben der Anstrengung des Riesenromans viel deutlicher hervortritt. Ansonsten spiegeln die rasche Erzählung wie die longue durée der enzyklopädischen Ausschweifung je auf ihre Art das Konjunktivisch-Labyrinthische von Musils Werk. Und von dem Leben, das sich der Rechtfertigung des Konjunktivischen gewidmet hat, der Privilegierung des Noch-Nicht und Nicht-Mehr im Roman. Beide Autoren haben darauf verzichtet, eine andere Logik als die der Kontingenz und des Scheiterns zu konstruieren. Dieser Verzicht stellt ins Zentrum die große schöpferische Leistung Musils: sein großartiges Scheitern, dessen Fragment einen der größten Romane seines Jahrhunderts abgibt.
Karl Corino: "Robert Musil". Eine Biographie. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2003. 2026 S., geb., 78,- [Euro].
Herbert Kraft: "Musil". Zsolnay Verlag, Wien 2003. 357 S., geb., 23,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vermessungen des Dickichts: Zwei Biographien Robert Musils von Karl Corino und Herbert Kraft / Von Joachim Kalka
Es gibt ein nicht unberechtigtes Mißtrauen gegen die biographische Ergänzung des Kunsterlebnisses. Sagt es uns wirklich etwas, wenn wir erfahren, daß der Tag, an dem der "Ulysses" spielt, der berühmte Bloomsday des 16. Juni 1904, der Tag war, an dem Joyce seine spätere Frau Nora Barnacle kennenlernte? Ein großer Schriftsteller hat die Frage glatt verneint; als Nabokov seinen Studenten diesen biographischen Brosamen abfällig vorwarf, fügte er sardonisch hinzu: "So much for human interest". Denn eigentlich hat uns Derartiges nicht zu interessieren. Das Werk ist alles, das Leben nichts, hat Flaubert uns gelehrt; das Leben des Autors, des wie Gott "unsichtbaren und allmächtigen" Autors, hat im Werk zu verschwinden. Hat es nicht etwas Mediokres, dem Alltag, den Schwächen, den dummen Zufällen eines Lebens nachzugehen, aus dem ein großes Werk hervorgegangen ist?
Diese Haltung, die hierzulande oft vertreten wurde (nicht immer mit der Autorität Nabokovs), zeigt, wie gründlich wir die Ursprünge der biographischen Form vergessen haben. Deren eigentlicher Zweck war einst, ein Vorbild zu zeigen; sie spornte den Leser an. Der will von großen Menschen lesen, und unsere Zeit sucht diese eher unter Künstlern und Schriftstellern als unter Staatsmännern. Doch es geht um Größe. "Mir ekelt", murrt Karl Moor, "vor diesem tintenklecksenden Säkulum, wenn ich in meinem Plutarch lese von großen Menschen." Schiller plante lange selbst einen "Deutschen Plutarch". Wir haben nun unser Interesse vorzugsweise den "Tintenklecksern" zugewandt, ihre Größe wollen wir erkennen. Daran mag viel leere Neugier sein, es steckt aber auch eine Sehnsucht darin, etwas vom richtigen Leben zu erfahren: der Künstler als Exempel. Nicht nur in seinem Gelingen, sondern auch in seinem heroischen Scheitern: Sartres Flaubert.
Die mißtrauische Frage nach der Berechtigung der literarischen Biographie scheint in den angelsächsischen Ländern unbekannt; die Biographie verfügt dort im Gegenteil über ein völlig unangefochtenes Prestige und ist - Zeichen ihrer Beliebtheit - in unseren Tagen selbst zum Gegenstand der Fiktion geworden, etwa in A. S. Byatt Roman "Besessen". Diese Inflation des Biographischen mag in der Tat ein gewisses Mißtrauen verdienen, aber es gibt in England und den Vereinigten Staaten eben nicht nur einen Biographiekultus, es gibt eine Biographiekultur. Vor wenigen Jahren noch hätte man sagen müssen: Es gibt dort eine Virtuosität im Umgang mit der Biographie als Form, die in Deutschland unbekannt ist oder bekannt nur durch wenige glänzende - fast stets längst historische - Ausnahmen, welche die Regel bestätigen.
Die Biographie schien hier überhaupt etwas Zwieschlächtiges, Unsolides. Die Historiker sahen sie im wesentlichen als eine subalterne Form, die den Interessenten dort mit Anekdoten abspeist, wo eine Strukturanalyse einzusetzen hätte, und das scheint auch auf die Philologie stark abgefärbt zu haben. Das Biographische galt als eine Chimäre, an deren Stelle das Studium der sozialen und ökonomischen oder sprachlich-literarischen Strukturen zu treten hätte, des großen Netzes, in dem eine Biographie (die Form des Einzellebens) höchstens als bescheidener Knoten geduldet wurde. Nach und nach aber wurde ebendieses Bescheidene wieder sichtbar als das möglicherweise Interessantere. Dazu hat der Eindruck der großen Vorbilder wie Richard Ellmann beigetragen (dessen Joyce-Biographie schon früh einen wahrhaft mythischen Status erlangte); es wird auch ein sozusagen Bourdieuscher Mechanismus mitgespielt haben, ein modischer Paradigmenwechsel.
Jedenfalls darf man nun erleichtert und mit Bewunderung konstatieren: Die formal durchdachte, materiell souveräne Biographie ist in Deutschland kein exotisches Rarum mehr. Es ist in letzter Zeit eine noch vergleichsweise kleine Anzahl solcher Werke erschienen, aber sie scheinen eine Wende anzuzeigen: Rainer Stachs "Kafka", Jens Malte Fischers "Gustav Mahler: Der fremde Vertraute" und nun "Robert Musil: Eine Biographie" von Karl Corino. Die Formulierung "eine Biographie" wirkt hier wie eine stolze Mahnung angesichts viel leichter wiegender Bücher, die sich als "die" Biographie eines Autors ankündigt haben.
Das großartige Buch Corinos ist unerbittlich lang und von entschiedener Trockenheit. Das Leben Musils ist nicht im pittoresken, "interessanten" Sinne bewegt zu nennen - Corino schildert es als unauffällige, stockende Karriere vor dem breiten Bild der Epoche, zwischen Wien und Berlin. Die Kindheit, die Kadettenanstalt, in die man den renitenten Knaben abschiebt, die Studien (Technik, dann Philosophie) in Brünn und Berlin, die Freundschaften und Liebschaften, der Beginn des Schreibens: der "Törleß", die Novellen, die Dissertation über Mach, die ambitionierten und erfolglosen Theaterstücke, die wechselnden Tätigkeiten als Bibliothekar, Redakteur der "Neuen Rundschau", Journalist und so weiter, der Erste Weltkrieg. Die glückliche Ehe. Die Chronik der Schwierigkeiten: Der Entschluß dieses Technikers und Philosophen, als freier Schriftsteller zu leben, führte in die mühevolle und endlose Suche nach Mäzenen und Verdienstmöglichkeiten. Die obsessive Arbeit am großen Werk. Die Meinungen, dahinter: das Denken. Die notwendigerweise eintretende Hilflosigkeit angesichts des Dritten Reiches. Das Exil, der Tod in Genf; die Witwe zerstreut schließlich die Asche und wirft die leere Urne in die Arve. Das letzte Kapitel trägt den Untertitel "Marthas vergeblicher Kampf um die Auferstehung des Werks".
Exkurse wie etwa "Musil und der Sport" (ein faszinierendes Seitenstück zu dem, was wir mittlerweile in dieser Hinsicht über Kafka wissen) kommen hinzu, scharf konturierte Porträts der Freunde, Gegner, Mäzene, Geliebten, oft geschickt an Schlüsselpunkten eingefügt. So erscheint die Beziehung zu Karl Kraus zugespitzt und zusammengefaßt anläßlich der Diskussion der Aufführungsgeschichte von "Vinzenz oder Die Freundin bedeutender Männer". Einige Episoden scheinen von besonderer Aussagekraft; hierher gehört die tragikomische Teilnahme Musils am "Pariser Kongreß zur Verteidigung der Kultur" 1935, wo der Autor - der ähnlich wie Kraus seine unklare Hoffnung auf die austrofaschistische Regierung Dollfuß setzte, die als die letzte Möglichkeit erschien, die Nazis von Österreich fernzuhalten - in seiner Rede Politik und Kultur klar trennen wollte, dem Antifaschismus von Delegierten wie Egon Erwin Kisch in die Arme lief und dann von Bodo Uhse nicht nur bescheinigt bekam, seine Werke seien "ästhetische Dokumentationen für diese Zeit des bürgerlichen Verfalls" , sondern auch sein Schaffen sei "ein Element dieses Zerfalls selbst".
Corinos Buch hat monumentalen Charakter (erinnern wir uns, daß dieses Adjektiv vom Wort für "Denkmal" herkommt): 1450 Seiten Biographie, dazu vierhundert Seiten Fußnoten, prall vollgestopft mit Nachweisen, Exkursen und Spekulationen, "Zeittafel und Itinerar", Bibliographie und Register, dessen "Z" auf der Seite 2023 erreicht wird. Der gelegentlich kritisch angedeutete Vorwurf, dieses Buch sei einfach zu lang, ist naheliegend. Aber er geht an der Intention von Corinos Werk vorbei, aus mehreren Gründen. Einmal gibt es - ganz banal - immer Leser, die über einen bestimmten Zusammenhang, einen besonderen Punkt im Labyrinth des Lebens eines großen Produzenten Aufklärung suchen; diese Leser will das Werk zufriedenstellen, indem es den Charakter des enzyklopädischen Handbuchs annimmt, in dem man nachschlagen kann.
Am 6. November 1939 war Musil in Genf im Kino; es läßt sich zwar nicht feststellen, welchen Film er gesehen hat, aber Corino hat recherchiert, was in den zwanzig Kinos von Genf lief und welcher Kinobesuch angesichts der relativen Distanz zwischen Café und Kino der wahrscheinlichste hätte sein können. Ist dies der Leerlauf der Unersättlichkeit? Nein, denn jener Kinobesuch hat seine Bedeutung. Musil ist an diesem Tag, seinem neunundfünfzigsten Geburtstag, unruhig umhergegangen, ist schließlich im Dunkel des Kinos gelandet und hat dort das Erlebnis einer "faulenzenden", widerwärtigen Nichtigkeit: "zu schlimm". Den Film zu identifizieren, der dieses Gefühl bei einem eigentlich eifrigen Kinogänger ausgelöst hat, wäre - für manchen Leser - in der Tat von großem Interesse.
Zum anderen zeigt das ruhige, gleichmäßig "malende" Tempo, das zwar keine Mimese der Romanepik anstrebt, aber eine vergleichbare Dichte erzielt, dem Leser nicht nur panoramatisch die Lebenswelt des Dargestellten, sie läßt auch das Quälende, Stockende, Hilflose an einem Leben scharf hervortreten: die immer neuen vergeblichen Anläufe. Zum dritten handelt es sich hier eben um einen besonderen Fall. Um die Biographie Robert Musils, also - vermittelt - auch um ein Buch über das riesenhafte Romanfragment "Der Mann ohne Eigenschaften". Zwar hätte eine Biographie Sternes sich nicht unbedingt am "Tristram Shandy" zu modellieren, aber daß eine Biographie Musils den Ehrgeiz hat, bei ihrer Erzählung nicht unter dem theoretischen Niveau seines Hauptwerk zu bleiben, dürfte begreiflich sein.
Musil hat gelebt, "alles für die Vollendung seines Hauptwerkes opfernd" - wie er selbst einmal in der dritten Person eines Lebenslaufs über sich schrieb. Es blieb unvollendet; die Hoffnung des Autors, drei Tage vor seinem Tod ausgedrückt, er werde in wenigen Wochen damit beginnen können, "die erste Hälfte des Schlußbands ins Reine zu schreiben", hat sich nicht erfüllt, die komplizierte Editionsgeschichte dessen, was wir nun besitzen, hat lange gedauert. In diesem Buch nimmt ein junger Mann kurz vor dem Ersten Weltkrieg ein Jahr "Urlaub von seinem Leben", um über sich und seine Möglichkeiten nachzudenken; die Bewegung des Romans erfaßt die große Welt und die vielen kleinen Welten einzelner Menschen. Charakteristisch sind das breite, ostentative, für viele Leser provozierende Hervortreten der Reflexion (einer Reflexion, die ironisch ist und nicht auratisch wie bei Proust) und die labyrinthische Wucherung von Potentialität ("die bekannte Zusammenhanglosigkeit der Einfälle und ihre Verzweigung ohne Mittelpunkt, die für die Gegenwart kennzeichnend ist"). Corino hat keine Schneisen geschlagen, er hat unerschütterlich das Dickicht kartographiert. Darf man auf die Arbeit dieses Biographen ein Musil-, genauer ein Ulrich-Zitat beziehen? "Es muß der Mensch in seinen Möglichkeiten, Plänen und Gefühlen zuerst durch Vorurteile, Überlieferungen, Schwierigkeiten und Beschränkungen jeder Art eingeengt werden wie ein Narr in einer Zwangsjacke, und erst dann hat, was er hervorzubringen vermag, vielleicht Wert, Gewachsenheit und Bestand." Corino hat alles darangesetzt, sich einengen zu lassen, als Weiser in der Zwangsjacke seines Gegenstandes.
Fast gleichzeitig ist ein ganz anderes Buch über denselben Autor herausgekommen. Wäre Herbert Krafts "Musil" nicht quasi im Windschatten des Riesenbuches von Corino erschienen, hätte es sicher größeres Aufsehen erregt, denn es ist eine sehr beachtliche Studie. Es ist eine knappe, manches bewußt auslassende, stark mit großartig orchestrierten Zitaten Musils operierende Narration. Anders als das bewußt langsame, alles ausschöpfende Vorgehen Corinos setzt dieser Text stark auf die eindringliche, zwingende, raffende Geschwindigkeit von Entwicklungen. Die Werke werden in sicheren Vignetten gezeichnet. Corinos Werk wird den Lesern Musils alle Wünsche erfüllen; das Werk von Herbert Kraft wird Musil neue Leser zuführen.
In einem hübschen Rollentausch schreibt Kraft, Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte in Münster, weniger professoral als der studierte Germanist Corino. Die Details sind dort, wo kleine Divergenzen auftauchen, sicher bei Corino zuverlässiger: Die Delegierten in Paris 1935 stimmten nach Musils Rede wohl kein "Pfeifkonzert" (Kraft) an, schon deshalb, weil sie Musils Deutsch zum größten Teil nicht verstanden hatten, wie Corino schreibt. Aber die knappe, bündige Analyse dieser Konfrontation findet man bei Herbert Kraft. Er zitiert Musil: "Was Kisch geschrieben hat, bedarf keiner anderen Widerlegung, als meine Bücher zu verstehen." Kraft fügt hinzu: "Damit hatte er recht, allerdings aus dem Grund, weil seine Bücher das Gegenteil von dem enthielten, was er in Paris vorgetragen hatte. Mit seinen literarischen Texten schuf er die genauen Abbildungen, erkannte aber manchmal in ihnen die Wirklichkeit nicht mehr, die sie abbildeten."
Wenn es einen fundamentalen inhaltlichen Unterschied zwischen diesen beiden schönen Büchern gibt, dann ist es der Umstand, daß in der knapperen, schnelleren Narration Krafts die Liebe zwischen Martha und Robert Musil als zweites großes Thema neben der Anstrengung des Riesenromans viel deutlicher hervortritt. Ansonsten spiegeln die rasche Erzählung wie die longue durée der enzyklopädischen Ausschweifung je auf ihre Art das Konjunktivisch-Labyrinthische von Musils Werk. Und von dem Leben, das sich der Rechtfertigung des Konjunktivischen gewidmet hat, der Privilegierung des Noch-Nicht und Nicht-Mehr im Roman. Beide Autoren haben darauf verzichtet, eine andere Logik als die der Kontingenz und des Scheiterns zu konstruieren. Dieser Verzicht stellt ins Zentrum die große schöpferische Leistung Musils: sein großartiges Scheitern, dessen Fragment einen der größten Romane seines Jahrhunderts abgibt.
Karl Corino: "Robert Musil". Eine Biographie. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2003. 2026 S., geb., 78,- [Euro].
Herbert Kraft: "Musil". Zsolnay Verlag, Wien 2003. 357 S., geb., 23,50 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
In nichts, stellt Franz Haas staunend und bewundernd fest, steht diese Biografie ihrem Gegenstand nach: jedenfalls, was die Besessenheit angeht, mit der hier ein Projekt verfolgt wird. Seit 36 Jahren nämlich ist Karl Corino Musil verfallen - hat gelesen, gesammelt, recherchiert und nun, auf nicht weniger als 2.000 Seiten mit 1.000 Literaturangaben, sein magnum opus veröffentlicht, die Biografie des vielleicht bedeutendsten Literaten deutscher Zunge des 20. Jahrhunderts. Wenig, stellt der Rezensent fest, wird danach noch kommen können, so umfassend sei Corino den Spuren Musils und den Spuren derer, die irgendwie mit Musil in Kontakt gekommen sind, gefolgt, "bis in die letzten Faltenwürfe und Ausläufer der beschriebenen Existenz". Es entsteht, so Haas, wie nebenbei ein detailversessenes "Epochengemälde", bei dem es allerdings gelegentlich auch dem glühendsten und neugierigsten Verehrer Musils zu viel werde: wenn man 14 Seiten etwa über die Hintergründe nicht gerade zentraler Figuren des Werks serviert bekomme. Sonst aber nur Lob: für die Ungeschminktheit, mit der Corino die weniger angenehmen Seiten Musils schildere, auch für die ohne allen Germanistenjargon daherkommende stilistische Brillanz. Viele Freunde, so Haas eher nebenbei, wird sich Corino unter Germanisten ohnehin nicht machen, zu unbekümmert setze er Leben und Werk in den Biografien realer und fiktiver Figuren hier gleich. Den Rezensenten freilich stört's nicht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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