Unbestritten sind anti-jüdische Einstellungen unter Muslimen weit verbreitet. Aber warum? Die gängigen Definitionen und Erkenntnismuster, erklärt David Ranan, reichen nicht mehr aus, um den Antisemitismus vieler Muslime zu beschreiben. Hat das Ganze nur mit dem Nahostkonflikt zu tun oder sind Muslime grundsätzlich antisemitisch? Ist Judenhass ein integraler Teil des Islam? Oder ist er eine Erscheinungsform des Islamismus?Um eine Antwort zu finden, hat Ranan mehr als 70 Interviews mit jungen muslimischen Studierenden und Akademikern vor allem in Deutschland geführt. Im Zentrum standen ihre Haltungen und Gefühle zu Juden, Judentum, dem Holocaust und Israel und schließlich die Frage, wie sie sich zu Deutschland stellen, seiner Israelpolitik und seiner Geschichtskultur.Mit den Ergebnissen der Gespräche, die er in die historischen Beziehungen zwischen Juden und Muslimen und den ungelösten Nahostkonflikt einbettet, zeigt Ranan, dass dieses brisante, heftig umkämpfte Feld neu angegangenwerden muss.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.04.2018Ein entschiedenes Ja, aber
Muslimischer Antisemitismus - gespeist vor allem durch den Palästina-Konflikt?
Der Verdacht liegt schnell auf der Hand: Der Antisemitismus unter Muslimen müsse auf den Koran zurückgehen. Schließlich wünscht er in Sure 2, Vers 65 den Juden, sie sollten zu "verstoßenen Affen" werden. Der in Berlin lebende israelische Politikwissenschaftler David Ranan, der einer deutsch-jüdischen Familie entstammt, begnügte sich nicht mit diesem Verdacht. In Deutschland und Großbritannien führte er mit 70 jungen Muslimen Interviews. Dabei kommt Ranan zu dem Ergebnis, dass der Judenhass unter vielen Muslimen auf den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern zurückgeht und somit, im Gegensatz zum Antisemitismus im Abendland, ein junges Phänomen ist.
Hart geht Ranan mit vielen Umfragen zum Antisemitismus ins Gericht. Er nimmt sich besonders die Anti-Defamation League aus New York vor, die gegen die Diskriminierung und Diffamierung der Juden eintritt. Ranan wirft deren Umfragen zum Antisemitismus und auch denen anderer Organisationen vor, sie nähmen mit ihren Fragestellungen das gewünschte Ergebnis vorweg. Dann werde der Antisemitismus-Vorwurf instrumentalisiert, um den Gegner zu diskreditieren. Ranan hält Behauptungen über einen erhöhten Antisemitismus unter Muslimen sogar oft für ideologisch motiviert, sie entsprängen einem antimuslimischen Vorurteil. Daher wollte Ranan in Interviews, die im Durchschnitt zwei Stunden gedauert haben, dem Antisemitismus unter Muslimen auf den Grund gehen.
Unter den vielen Definitionen zum Antisemitismus macht er sich jene des britischen Philosophen Brian Klug zu eigen: Antisemitismus als Art Feindseligkeit gegen Juden als Juden. Ranan unterscheidet zwischen dem Juden, der seine Religion befolgt, dem Zionisten, der der Nationalbewegung zur Gründung und Vergrößerung eines Staates für die Juden folgt, und dem Israeli, dem Bürger dieses Staates.
In den Interviews hätten seine Gesprächspartner, auch die sehr religiösen unter ihnen, für ihr Verhalten direkte religiöse Begründungen und den Koran nicht ins Feld geführt. Keiner habe den Koran als Ursprung, der an einigen Stellen ja auch zu einem friedlichen Zusammenleben mit den Juden aufrufe, für seine antijüdischen Gefühle genannt. Sie hätten nicht einmal die einschlägigen Stellen im Koran gekannt. "Sie sagen Jude und meinen Israeli", schreibt Ranan. Ständig bringen die Gesprächspartner die Begriffe Jude, Zionist und Israeli durcheinander.
Bekannt waren den Gesprächspartnern indessen Pamphlete wie die "Protokolle der Weisen von Zion", eine aus dem Russischen stammende Hetzschrift aus dem Jahr 1903, die eine jüdische Weltverschwörung belegen sollte. Ranan hörte ein breites Repertoire von Stereotypen, Vorurteilen und Verschwörungstheorien. Die Juden seien reich, hätten Macht und könnten sich deshalb im Palästinakonflikt alles herausnehmen. Ganz ins Reich der Fabeln verweist Ranan dieses Vorurteil nicht. So gehörten die jüdischen Milliardäre Haim Saban und Sheldon Adelson zu den größten Spendern im amerikanischen Präsidentenwahlkampf, und es sprach kein ausländischer Politiker so häufig vor dem amerikanischen Kongress wie der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu.
Obwohl der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern das Hauptmotiv für die negativen Einstellungen gegenüber Israel und den Juden ist, kannten sich die Gesprächspartner in der Geschichte des Konflikts nicht besonders gut aus, stellt Ranan fest. Ein bemerkenswertes Unwissen fand er auch bei dem Thema Holocaust.
"Sind Kritiker Israels Antisemiten?", fragt Ranan. So hatten 2016 immerhin 40 Prozent der deutschen Bevölkerung Antworten gegeben, die einen israelbezogenen Antisemitismus belegen. Dazu zählt die Aussage, Israel führe einen Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser. Auf diese Art kann sich Judenhass als Kritik an Israel tarnen. Ein entgegengesetztes Phänomen beobachtet Ranan bei Muslimen, insbesondere arabischen. Denn dort reflektierten Meinungen über Juden eigentlich Meinungen über Israel. Ein Syrer sagte: "Wenn die Syrer schlecht über Juden sprechen, meinen sie Israel, sie sagen Juden, aber im Kopf denken sie Israel. Es geht nicht um Religion." Der abendländische Judenhass basiert auf dem Vorwurf des Gottesmordes, den die Kirchen und die Staaten über Jahrhunderte geschürt haben. Die Judenfeindschaft unter Muslimen ist jedoch ein spätes Phänomen. Sie habe in muslimischen Ländern nie die Tiefen und die Barbarei der christlichen Judenverfolgung erreicht, schreibt Ranan. Die Gewalttaten gegen Juden in muslimischen Ländern seien auf keinen Fall vergleichbar mit der systematischen christlichen Judenverfolgung in Europa. Für gefährlich hält er jedoch den radikalen politischen Islam mit dessen Antisemitismus.
Als Strategie schlägt Ranan vor, gegenüber dem Islam und den Muslimen offen zu sein. Statt der verbreiteten Islamophobie solle man zu einem Zusammenleben mit den Muslimen bereit sein. "Ist also muslimischer Antisemitismus eine Gefahr für den gesellschaftlichen Frieden in Deutschland?", fragt er. Der sei zwar immer unangenehm, aber nicht eine Gefahr für den gesellschaftlichen Frieden. Kriminelle Handlungen, etwa Übergriffe auf Juden oder das Verbrennen einer israelischen Flagge, dürften nicht geduldet werden. Aber unehrlich sei die Behauptung, dass antiisraelische Äußerungen, deren Quelle offensichtlich der territoriale Streit um Palästina sei, antijüdisch und damit antisemitisch seien.
RAINER HERMANN
David Ranan: Muslimischer Antisemitismus. Eine Gefahr für den gesellschaftlichen Frieden in Deutschland? Verlag J.H.W.Dietz Nachf., Bonn, 2018, 222 Seiten, 19,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Muslimischer Antisemitismus - gespeist vor allem durch den Palästina-Konflikt?
Der Verdacht liegt schnell auf der Hand: Der Antisemitismus unter Muslimen müsse auf den Koran zurückgehen. Schließlich wünscht er in Sure 2, Vers 65 den Juden, sie sollten zu "verstoßenen Affen" werden. Der in Berlin lebende israelische Politikwissenschaftler David Ranan, der einer deutsch-jüdischen Familie entstammt, begnügte sich nicht mit diesem Verdacht. In Deutschland und Großbritannien führte er mit 70 jungen Muslimen Interviews. Dabei kommt Ranan zu dem Ergebnis, dass der Judenhass unter vielen Muslimen auf den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern zurückgeht und somit, im Gegensatz zum Antisemitismus im Abendland, ein junges Phänomen ist.
Hart geht Ranan mit vielen Umfragen zum Antisemitismus ins Gericht. Er nimmt sich besonders die Anti-Defamation League aus New York vor, die gegen die Diskriminierung und Diffamierung der Juden eintritt. Ranan wirft deren Umfragen zum Antisemitismus und auch denen anderer Organisationen vor, sie nähmen mit ihren Fragestellungen das gewünschte Ergebnis vorweg. Dann werde der Antisemitismus-Vorwurf instrumentalisiert, um den Gegner zu diskreditieren. Ranan hält Behauptungen über einen erhöhten Antisemitismus unter Muslimen sogar oft für ideologisch motiviert, sie entsprängen einem antimuslimischen Vorurteil. Daher wollte Ranan in Interviews, die im Durchschnitt zwei Stunden gedauert haben, dem Antisemitismus unter Muslimen auf den Grund gehen.
Unter den vielen Definitionen zum Antisemitismus macht er sich jene des britischen Philosophen Brian Klug zu eigen: Antisemitismus als Art Feindseligkeit gegen Juden als Juden. Ranan unterscheidet zwischen dem Juden, der seine Religion befolgt, dem Zionisten, der der Nationalbewegung zur Gründung und Vergrößerung eines Staates für die Juden folgt, und dem Israeli, dem Bürger dieses Staates.
In den Interviews hätten seine Gesprächspartner, auch die sehr religiösen unter ihnen, für ihr Verhalten direkte religiöse Begründungen und den Koran nicht ins Feld geführt. Keiner habe den Koran als Ursprung, der an einigen Stellen ja auch zu einem friedlichen Zusammenleben mit den Juden aufrufe, für seine antijüdischen Gefühle genannt. Sie hätten nicht einmal die einschlägigen Stellen im Koran gekannt. "Sie sagen Jude und meinen Israeli", schreibt Ranan. Ständig bringen die Gesprächspartner die Begriffe Jude, Zionist und Israeli durcheinander.
Bekannt waren den Gesprächspartnern indessen Pamphlete wie die "Protokolle der Weisen von Zion", eine aus dem Russischen stammende Hetzschrift aus dem Jahr 1903, die eine jüdische Weltverschwörung belegen sollte. Ranan hörte ein breites Repertoire von Stereotypen, Vorurteilen und Verschwörungstheorien. Die Juden seien reich, hätten Macht und könnten sich deshalb im Palästinakonflikt alles herausnehmen. Ganz ins Reich der Fabeln verweist Ranan dieses Vorurteil nicht. So gehörten die jüdischen Milliardäre Haim Saban und Sheldon Adelson zu den größten Spendern im amerikanischen Präsidentenwahlkampf, und es sprach kein ausländischer Politiker so häufig vor dem amerikanischen Kongress wie der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu.
Obwohl der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern das Hauptmotiv für die negativen Einstellungen gegenüber Israel und den Juden ist, kannten sich die Gesprächspartner in der Geschichte des Konflikts nicht besonders gut aus, stellt Ranan fest. Ein bemerkenswertes Unwissen fand er auch bei dem Thema Holocaust.
"Sind Kritiker Israels Antisemiten?", fragt Ranan. So hatten 2016 immerhin 40 Prozent der deutschen Bevölkerung Antworten gegeben, die einen israelbezogenen Antisemitismus belegen. Dazu zählt die Aussage, Israel führe einen Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser. Auf diese Art kann sich Judenhass als Kritik an Israel tarnen. Ein entgegengesetztes Phänomen beobachtet Ranan bei Muslimen, insbesondere arabischen. Denn dort reflektierten Meinungen über Juden eigentlich Meinungen über Israel. Ein Syrer sagte: "Wenn die Syrer schlecht über Juden sprechen, meinen sie Israel, sie sagen Juden, aber im Kopf denken sie Israel. Es geht nicht um Religion." Der abendländische Judenhass basiert auf dem Vorwurf des Gottesmordes, den die Kirchen und die Staaten über Jahrhunderte geschürt haben. Die Judenfeindschaft unter Muslimen ist jedoch ein spätes Phänomen. Sie habe in muslimischen Ländern nie die Tiefen und die Barbarei der christlichen Judenverfolgung erreicht, schreibt Ranan. Die Gewalttaten gegen Juden in muslimischen Ländern seien auf keinen Fall vergleichbar mit der systematischen christlichen Judenverfolgung in Europa. Für gefährlich hält er jedoch den radikalen politischen Islam mit dessen Antisemitismus.
Als Strategie schlägt Ranan vor, gegenüber dem Islam und den Muslimen offen zu sein. Statt der verbreiteten Islamophobie solle man zu einem Zusammenleben mit den Muslimen bereit sein. "Ist also muslimischer Antisemitismus eine Gefahr für den gesellschaftlichen Frieden in Deutschland?", fragt er. Der sei zwar immer unangenehm, aber nicht eine Gefahr für den gesellschaftlichen Frieden. Kriminelle Handlungen, etwa Übergriffe auf Juden oder das Verbrennen einer israelischen Flagge, dürften nicht geduldet werden. Aber unehrlich sei die Behauptung, dass antiisraelische Äußerungen, deren Quelle offensichtlich der territoriale Streit um Palästina sei, antijüdisch und damit antisemitisch seien.
RAINER HERMANN
David Ranan: Muslimischer Antisemitismus. Eine Gefahr für den gesellschaftlichen Frieden in Deutschland? Verlag J.H.W.Dietz Nachf., Bonn, 2018, 222 Seiten, 19,90 Euro.
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