Wir glauben, der Siegeszug der digitalen Technik habe innerhalb weniger Jahre alles revolutioniert: unsere Beziehungen, unsere Arbeit und sogar die Funktionsweise demokratischer Wahlen. In seiner neuen Gesellschaftstheorie dreht der Soziologe Armin Nassehi den Spieß um und zeigt jenseits von Panik und Verharmlosung, dass die Digitalisierung nur eine besonders ausgefeilte technische Lösung für ein Problem ist, das sich in modernen Gesellschaften seit jeher stellt: Wie geht die Gesellschaft, wie gehen Unternehmen, Staaten, Verwaltungen, Strafverfolgungsbehörden, aber auch wir selbst mit unsichtbaren Mustern um?
Thomas Assheuer, DIE ZEIT
"Viele Thesen, viele Hinweise, viel Stoff zum Nachdenken über das wunderlichste und nach wie vor unbegriffene Phänomen unserer Zeit."
Jürgen Kaube, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
"Muster folgt mit seiner hermeneutischen Tiefenschärfe den großen Gesellschaftsstudien eines Adorno, Habermas, Luhmann, Bourdieu... Wenn es so klug und unterhaltsam passiert wie hier, könnte Gesellschaftswissenschaft wieder eine echte Leitdisziplin sein."
Marc Reichwein, Die Welt
"Viele Thesen, viele Hinweise, viel Stoff zum Nachdenken über das wunderlichste und nach wie vor unbegriffene Phänomen unserer Zeit."
Jürgen Kaube, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
"Muster folgt mit seiner hermeneutischen Tiefenschärfe den großen Gesellschaftsstudien eines Adorno, Habermas, Luhmann, Bourdieu... Wenn es so klug und unterhaltsam passiert wie hier, könnte Gesellschaftswissenschaft wieder eine echte Leitdisziplin sein."
Marc Reichwein, Die Welt
Thomas Assheuer, DIE ZEIT
"Viele Thesen, viele Hinweise, viel Stoff zum Nachdenken über das wunderlichste und nach wie vor unbegriffene Phänomen unserer Zeit."
Jürgen Kaube, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
"Muster folgt mit seiner hermeneutischen Tiefenschärfe den großen Gesellschaftsstudien eines Adorno, Habermas, Luhmann, Bourdieu... Wenn es so klug und unterhaltsam passiert wie hier, könnte Gesellschaftswissenschaft wieder eine echte Leitdisziplin sein."
Marc Reichwein, Die Welt
"Viele Thesen, viele Hinweise, viel Stoff zum Nachdenken über das wunderlichste und nach wie vor unbegriffene Phänomen unserer Zeit."
Jürgen Kaube, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
"Muster folgt mit seiner hermeneutischen Tiefenschärfe den großen Gesellschaftsstudien eines Adorno, Habermas, Luhmann, Bourdieu... Wenn es so klug und unterhaltsam passiert wie hier, könnte Gesellschaftswissenschaft wieder eine echte Leitdisziplin sein."
Marc Reichwein, Die Welt
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.09.2019Die Verdoppelung der Welt
Wo die Verhältnisse zu unübersichtlich sind, da entdecken die Maschinen hinter unserem Rücken Muster und effektive Lösungen: Armin Nassehi entwirft eine Theorie der digitalen Gesellschaft.
Der Soziologe Armin Nassehi ist ein Autor, der komplexe Zusammenhänge auf anspruchsvolle Weise verständlich machen kann. Und er versteht es, mit allzu simplen Annahmen und naiven Vorstellungen von Gesellschaft aufzuräumen. Auch sein neues Buch führt das vor Augen: Nein, die Digitalisierung ist keine Kolonialmacht, die auf die Gesellschaft zugreift, welche sich angeblich heftig dagegen wehrt, nämlich gegen Arbeitsplatzverluste oder repetitive Tätigkeiten, gegen Überwachungs- und Kontrolltechniken und gegen die vorgeblichen Autonomieverluste eines quantifizierten Selbst. Denn während die Kritik kritisiert, laufen die Algorithmen weiter, weil sie so nützlich sind und funktionieren. Nein, die Digitalisierung ist nichts, was der Gesellschaft von außen oktroyiert wird, sie ist vielmehr der Gesellschaft abgelauscht und liegt in deren eigener Struktur begründet. Durch Digitalisierung macht sich die Gesellschaft ihre eigene Komplexität zwecks Erkenntnis und Problemlösung in den Bereichen Wissenschaft, Wirtschaft, Verwaltung, aber auch in Liebes- und Freundschaftsangelegenheiten verfügbar. Nein, das Kennzeichen des digitalen Zeitalters ist nicht etwa die Verflüssigung und Auflösung von Strukturen, denn die Digitaltechnik basiert im Gegenteil gerade auf der Gleichförmigkeit gesellschaftlicher Zusammenhänge, ohne die keine statistische, mathematische und damit digitale Aufbereitung möglich wäre.
Mit diesem Zugang positioniert sich der in München lehrende Soziologe - und auch das ist keine Überraschung - in der Theorietradition der funktionalen Gesellschaftsanalyse von Talcott Parsons und Niklas Luhmann, die er mit neueren Ansätzen der Techniksoziologie verknüpft. Charakteristisch für seinen Ansatz ist die grundlegende Frage, für welche gesellschaftlichen Bezugsprobleme Digitalisierung eigentlich eine Lösung darstellt. Ähnlich wie durch die beiden großen Erfindungen des Buchdrucks und der Dampfmaschine erleben Gesellschaften durch Digitalisierung eine alle Lebensbereiche durchdringende Veränderung, die in ihrer Funktionalität zu verstehen allerdings voraussetzt, dass man Digitalisierung nicht einfach als gegeben setzt, sondern vielmehr ihre gesellschaftlichen Voraussetzungen und mithin die gesellschaftlichen Bedingungen ihres Erfolgs erkundet. Das gelingt am besten dadurch, dass man die Funktion des Digitalen in solchen Beispielen untersucht, die das Digitale in statu nascendi beinhalten, das heißt in Praktiken, die bereits vor der Einführung von Computertechnologien bestanden haben, etwa die Entstehung staatlicher Sozialplanung oder die Anfänge der Verbetrieblichung des Kapitalismus und der medizinischen Vermessung des Menschen im neunzehnten Jahrhundert. Gemeinsam ist diesen Anwendungen der Rekurs auf gesellschaftliche Regelmäßigkeiten, deren Komplexität mit dem bloßen Auge nicht erfasst werden kann und die deshalb einer statistisch-mathematischen Aufbereitung bedürfen.
Digitalität deckt latente gesellschaftliche Muster auf. Digitale Algorithmen funktionieren auf der Basis verborgener sozialer Regelmäßigkeiten, und sie finden in der Gesellschaft so große Verbreitung, weil sie effektive Lösungen beziehungsweise Problemlösungs-Tools für kommerzielle, ästhetische, medizinische, politische oder auch amouröse Probleme anbieten. Mit anderen Worten: In dem Maße, wie digitale Algorithmen gesellschaftliche Regelmäßigkeiten und Muster aufdecken, die hinter dem Rücken der Akteure wirken, sind sie in der Lage, intelligente Steuerungs- und Handlungsprozeduren hervorzubringen, die in allen gesellschaftlichen Funktionssystemen - auf Märkten, Börsen, in Krankenhäusern, Universitäten, bei Wahlkämpfen, Werbekampagnen, Militäreinsätzen wie auch in Freundschafts- und Liebesbeziehungen - zum Einsatz kommen und Handlungen durch Technisierung (und mithin unabhängig von gesellschaftlicher Zustimmung oder Kritik) rationalisieren und optimieren können. Das Digitale steht somit im Pakt mit der Komplexität, das heißt den verborgenen Strukturen der Gesellschaft, und greift auf subtile Weise in diese ein, weil es insbesondere dort zum Einsatz kommt, wo Komplexität besonders groß ist und herkömmliche Formen der Ordnungsbildung - wie etwa Normen und Sanktionen, Konventionen und Etikette oder Herrschaft und Macht - zu grobschlächtig sind.
Die Aufdeckung latenter sozialer Strukturen ist nach Nassehi auch das, was an der Digitalisierung als irritierend und verstörend erlebt wird: Die Computertechnologien führen ihren Benutzern gleichsam eine "dritte Entdeckung" der Gesellschaft, eine neue Sprache der Reflexion und Konzeption von Gesellschaft vor Augen: Gesellschaft erscheint in der Brille der Digitalisierung nicht mehr - wie etwa bei Habermas - als emanzipatorisches Projekt der Moderne, sondern als eine vollständig berechenbare Dynamik, als eine gespenstische Maschinerie im Hintergrund, die für ihre Mitglieder, also für die "User", hinter einer Benutzeroberfläche verborgen bleibt und nicht so leicht zu ändern ist. Weshalb Gesellschaftskritik und politische Intervention unter dem Vorzeichen der Erfahrung der grundlegenden Digitalität von Gesellschaft immer nur von begrenzter Reichweite sein kann.
Trotz der Brillanz von Nassehis Ausführungen: Sehr leserfreundlich ist das Buch über weite Strecken nicht geraten, hätte man sich an manchen Stellen zur Illustration der doch sehr abstrakten Thesen mehr Anschaulichkeit, mehr Beispiele gewünscht. Ein weiterer Nachteil der systemtheoretischen Herangehensweise Nassehis besteht darin, dass der Eindruck eines allzu mechanistischen Gesellschaftsbildes heraufbeschworen wird, einer Gesellschaft, bei der Akteure, Maschinen und Algorithmen gleichsam selbstläufig soziale Strukturen hervorbringen. Hinweise auf die Frage, wie Digitalität in die Sozialstruktur und in die Verteilung von Macht und Ressourcen eingreift, finden sich praktisch nicht.
Schließlich bleibt auch der funktionalistische Ansatz in wichtigen Aspekten unterbelichtet, was sich vor allem im Fehlen einer Synthese, wie es doch eigentlich der Untertitel des Buches, "Theorie der digitalen Gesellschaft", suggeriert, bemerkbar macht. Was fehlt, ist ein Panorama der durchs Digitale veränderten Gegenwartsgesellschaft: Wie etwa verändert sich das Politische durch die Digitalisierung von Wahlkämpfen, wie verändert sich der Begriff von Gesundheit/Krankheit durch die Digitalisierung von medizinischer Diagnostik und Therapie, wie verändern sich Öffentlichkeiten und die Funktion von Massenmedien durch die Ausbreitung des Internets?
Ziel einer solchen Gegenwartsdiagnose könnte sein, die funktionale Differenzierung der Moderne durch die Brille des Digitalen neu zu erzählen: Könnte es nämlich sein, dass Digitalisierung nicht nur konventionelle Ordnungsstrukturen durch digitale Kontrollstrukturen ersetzt, sondern auch die von Niklas Luhmann für die moderne Gesellschaft noch maßgeblich gehaltenen "Kommunikationskodes" allmählich überflüssig macht? Ein Beispiel: Hatte Luhmann die Semantik der romantischen Liebe für eine zentrale Institution der Paarbildung unter Bedingungen der Freisetzung von Familien aus ständischen Bindungen und der Vervielfältigung potentieller Partner erklärt, ist die romantische Liebe als Grund der Paarbildung durch die Verbreitung von Online-Datingplattformen vielleicht bald schon obsolet. Wie einschlägige Studien zeigen, sind Datingplattformen - eben durch die Aufdeckung latenter Strukturen der Partnerwahl - sehr effizient in der Identifikation passender Partner, auch sind die sich digital gefunden habenden Paare laut Selbstauskunft glücklicher als Paare, die sich analog kennengelernt haben; romantisch ist die Suche mit Datingplattformen allerdings nicht. Und vielleicht ist es nicht zufällig ein Zeichen der Zeit, dass romantische Liebe in der Partnerschaft auch sonst ein wenig aus der Mode gekommen zu sein scheint.
Statt solchen Phänomenen nachzugehen, gleitet der Autor immer wieder ins Philosophische ab, indem er in großangelegten Exkursen und mit großer Begeisterung die Grundlagen von Zeichen-, System-, Bewusstseins- und Medientheorie unter Aufbietung vieler Beispiele wie in einem Lehrbuch erläutert. Das ist nicht uninteressant, man erfährt viele Details, die sicherlich eine wichtige Propädeutik für das Verständnis der Zeichenimmanenz und die Dynamik des Digitalen darstellen, aber von einer Gesellschaftsanalyse weit entfernt sind.
Zu den Highlights des Buches gehören zweifellos die stärker materialgesättigten Ausführungen in den Abschnitten über das Internet als Massenmedium und das Störungs- und Veränderungspotential des Digitalen für die bisherige Gesellschaftsordnung: Im Ökonomischen stört Big Data bisherige Geschäftsmodelle und schafft neue Vertriebswege, während der Vertrieb über Ladengeschäfte schwieriger wird; innerhalb unterschiedlicher Bereiche wird Privatheit wie auch das Konstrukt des selbstbestimmten Subjekts zur Illusion; die ausgreifende Datentechnik macht das Automobil möglicherweise zu einem Sensorpunkt im elektronisch gesteuerten Verkehrsstrom und so fort. Besonders relevant erscheint in diesem Zusammenhang die Einsicht, dass die Digitaltechnik Entscheidungen trifft, die im bisherigen Institutionenarrangement noch menschlichen oder korporativen Akteuren zugerechnet worden sind, womit digitale Algorithmen Akteursstatus erlangen.
Diese an sich nicht neuen Erkenntnisse gewinnen dadurch an theoretischer Brisanz, dass Nassehi sie - analog zur Einführung des Buchdrucks - als Struktur der Verdoppelung begreift, welche die funktional differenzierte Gesellschaft von innen verändert, ohne ihre Funktionen im Einzelnen auszuhebeln. Ähnlich wie Schriftlichkeit sich wie ein Netz über die gesellschaftlichen Praktiken legt und damit gewissermaßen eine zweite Realität erzeugt, die in die erste eingreift und selbst zum Teil der Gesellschaft geworden ist, so ist auch Digitalisierung als eine Verdoppelung der Welt zu begreifen, welche einen inneren Verweisungs- und Operationshorizont erzeugt, der in die Welt eingreift. Aber welche Veränderungen hier konkret stattgefunden haben und welche Auswirkungen Digitalisierung auf gesellschaftliche Denkweisen, soziale Praktiken und Strukturen im Einzelnen hat, wird, wenn überhaupt, nur ausschnittweise behandelt. Dennoch ist das Buch von Nassehi insgesamt eine sehr anregende und lohnende Lektüre, die nicht mit den sonst üblichen Katastrophenszenarien aufwartet, sondern zum differenzierten Weiterdenken einlädt.
CORNELIA KOPPETSCH
Armin Nassehi: "Muster". Theorie der digitalen
Gesellschaft.
Verlag C. H. Beck, München 2019. 352 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wo die Verhältnisse zu unübersichtlich sind, da entdecken die Maschinen hinter unserem Rücken Muster und effektive Lösungen: Armin Nassehi entwirft eine Theorie der digitalen Gesellschaft.
Der Soziologe Armin Nassehi ist ein Autor, der komplexe Zusammenhänge auf anspruchsvolle Weise verständlich machen kann. Und er versteht es, mit allzu simplen Annahmen und naiven Vorstellungen von Gesellschaft aufzuräumen. Auch sein neues Buch führt das vor Augen: Nein, die Digitalisierung ist keine Kolonialmacht, die auf die Gesellschaft zugreift, welche sich angeblich heftig dagegen wehrt, nämlich gegen Arbeitsplatzverluste oder repetitive Tätigkeiten, gegen Überwachungs- und Kontrolltechniken und gegen die vorgeblichen Autonomieverluste eines quantifizierten Selbst. Denn während die Kritik kritisiert, laufen die Algorithmen weiter, weil sie so nützlich sind und funktionieren. Nein, die Digitalisierung ist nichts, was der Gesellschaft von außen oktroyiert wird, sie ist vielmehr der Gesellschaft abgelauscht und liegt in deren eigener Struktur begründet. Durch Digitalisierung macht sich die Gesellschaft ihre eigene Komplexität zwecks Erkenntnis und Problemlösung in den Bereichen Wissenschaft, Wirtschaft, Verwaltung, aber auch in Liebes- und Freundschaftsangelegenheiten verfügbar. Nein, das Kennzeichen des digitalen Zeitalters ist nicht etwa die Verflüssigung und Auflösung von Strukturen, denn die Digitaltechnik basiert im Gegenteil gerade auf der Gleichförmigkeit gesellschaftlicher Zusammenhänge, ohne die keine statistische, mathematische und damit digitale Aufbereitung möglich wäre.
Mit diesem Zugang positioniert sich der in München lehrende Soziologe - und auch das ist keine Überraschung - in der Theorietradition der funktionalen Gesellschaftsanalyse von Talcott Parsons und Niklas Luhmann, die er mit neueren Ansätzen der Techniksoziologie verknüpft. Charakteristisch für seinen Ansatz ist die grundlegende Frage, für welche gesellschaftlichen Bezugsprobleme Digitalisierung eigentlich eine Lösung darstellt. Ähnlich wie durch die beiden großen Erfindungen des Buchdrucks und der Dampfmaschine erleben Gesellschaften durch Digitalisierung eine alle Lebensbereiche durchdringende Veränderung, die in ihrer Funktionalität zu verstehen allerdings voraussetzt, dass man Digitalisierung nicht einfach als gegeben setzt, sondern vielmehr ihre gesellschaftlichen Voraussetzungen und mithin die gesellschaftlichen Bedingungen ihres Erfolgs erkundet. Das gelingt am besten dadurch, dass man die Funktion des Digitalen in solchen Beispielen untersucht, die das Digitale in statu nascendi beinhalten, das heißt in Praktiken, die bereits vor der Einführung von Computertechnologien bestanden haben, etwa die Entstehung staatlicher Sozialplanung oder die Anfänge der Verbetrieblichung des Kapitalismus und der medizinischen Vermessung des Menschen im neunzehnten Jahrhundert. Gemeinsam ist diesen Anwendungen der Rekurs auf gesellschaftliche Regelmäßigkeiten, deren Komplexität mit dem bloßen Auge nicht erfasst werden kann und die deshalb einer statistisch-mathematischen Aufbereitung bedürfen.
Digitalität deckt latente gesellschaftliche Muster auf. Digitale Algorithmen funktionieren auf der Basis verborgener sozialer Regelmäßigkeiten, und sie finden in der Gesellschaft so große Verbreitung, weil sie effektive Lösungen beziehungsweise Problemlösungs-Tools für kommerzielle, ästhetische, medizinische, politische oder auch amouröse Probleme anbieten. Mit anderen Worten: In dem Maße, wie digitale Algorithmen gesellschaftliche Regelmäßigkeiten und Muster aufdecken, die hinter dem Rücken der Akteure wirken, sind sie in der Lage, intelligente Steuerungs- und Handlungsprozeduren hervorzubringen, die in allen gesellschaftlichen Funktionssystemen - auf Märkten, Börsen, in Krankenhäusern, Universitäten, bei Wahlkämpfen, Werbekampagnen, Militäreinsätzen wie auch in Freundschafts- und Liebesbeziehungen - zum Einsatz kommen und Handlungen durch Technisierung (und mithin unabhängig von gesellschaftlicher Zustimmung oder Kritik) rationalisieren und optimieren können. Das Digitale steht somit im Pakt mit der Komplexität, das heißt den verborgenen Strukturen der Gesellschaft, und greift auf subtile Weise in diese ein, weil es insbesondere dort zum Einsatz kommt, wo Komplexität besonders groß ist und herkömmliche Formen der Ordnungsbildung - wie etwa Normen und Sanktionen, Konventionen und Etikette oder Herrschaft und Macht - zu grobschlächtig sind.
Die Aufdeckung latenter sozialer Strukturen ist nach Nassehi auch das, was an der Digitalisierung als irritierend und verstörend erlebt wird: Die Computertechnologien führen ihren Benutzern gleichsam eine "dritte Entdeckung" der Gesellschaft, eine neue Sprache der Reflexion und Konzeption von Gesellschaft vor Augen: Gesellschaft erscheint in der Brille der Digitalisierung nicht mehr - wie etwa bei Habermas - als emanzipatorisches Projekt der Moderne, sondern als eine vollständig berechenbare Dynamik, als eine gespenstische Maschinerie im Hintergrund, die für ihre Mitglieder, also für die "User", hinter einer Benutzeroberfläche verborgen bleibt und nicht so leicht zu ändern ist. Weshalb Gesellschaftskritik und politische Intervention unter dem Vorzeichen der Erfahrung der grundlegenden Digitalität von Gesellschaft immer nur von begrenzter Reichweite sein kann.
Trotz der Brillanz von Nassehis Ausführungen: Sehr leserfreundlich ist das Buch über weite Strecken nicht geraten, hätte man sich an manchen Stellen zur Illustration der doch sehr abstrakten Thesen mehr Anschaulichkeit, mehr Beispiele gewünscht. Ein weiterer Nachteil der systemtheoretischen Herangehensweise Nassehis besteht darin, dass der Eindruck eines allzu mechanistischen Gesellschaftsbildes heraufbeschworen wird, einer Gesellschaft, bei der Akteure, Maschinen und Algorithmen gleichsam selbstläufig soziale Strukturen hervorbringen. Hinweise auf die Frage, wie Digitalität in die Sozialstruktur und in die Verteilung von Macht und Ressourcen eingreift, finden sich praktisch nicht.
Schließlich bleibt auch der funktionalistische Ansatz in wichtigen Aspekten unterbelichtet, was sich vor allem im Fehlen einer Synthese, wie es doch eigentlich der Untertitel des Buches, "Theorie der digitalen Gesellschaft", suggeriert, bemerkbar macht. Was fehlt, ist ein Panorama der durchs Digitale veränderten Gegenwartsgesellschaft: Wie etwa verändert sich das Politische durch die Digitalisierung von Wahlkämpfen, wie verändert sich der Begriff von Gesundheit/Krankheit durch die Digitalisierung von medizinischer Diagnostik und Therapie, wie verändern sich Öffentlichkeiten und die Funktion von Massenmedien durch die Ausbreitung des Internets?
Ziel einer solchen Gegenwartsdiagnose könnte sein, die funktionale Differenzierung der Moderne durch die Brille des Digitalen neu zu erzählen: Könnte es nämlich sein, dass Digitalisierung nicht nur konventionelle Ordnungsstrukturen durch digitale Kontrollstrukturen ersetzt, sondern auch die von Niklas Luhmann für die moderne Gesellschaft noch maßgeblich gehaltenen "Kommunikationskodes" allmählich überflüssig macht? Ein Beispiel: Hatte Luhmann die Semantik der romantischen Liebe für eine zentrale Institution der Paarbildung unter Bedingungen der Freisetzung von Familien aus ständischen Bindungen und der Vervielfältigung potentieller Partner erklärt, ist die romantische Liebe als Grund der Paarbildung durch die Verbreitung von Online-Datingplattformen vielleicht bald schon obsolet. Wie einschlägige Studien zeigen, sind Datingplattformen - eben durch die Aufdeckung latenter Strukturen der Partnerwahl - sehr effizient in der Identifikation passender Partner, auch sind die sich digital gefunden habenden Paare laut Selbstauskunft glücklicher als Paare, die sich analog kennengelernt haben; romantisch ist die Suche mit Datingplattformen allerdings nicht. Und vielleicht ist es nicht zufällig ein Zeichen der Zeit, dass romantische Liebe in der Partnerschaft auch sonst ein wenig aus der Mode gekommen zu sein scheint.
Statt solchen Phänomenen nachzugehen, gleitet der Autor immer wieder ins Philosophische ab, indem er in großangelegten Exkursen und mit großer Begeisterung die Grundlagen von Zeichen-, System-, Bewusstseins- und Medientheorie unter Aufbietung vieler Beispiele wie in einem Lehrbuch erläutert. Das ist nicht uninteressant, man erfährt viele Details, die sicherlich eine wichtige Propädeutik für das Verständnis der Zeichenimmanenz und die Dynamik des Digitalen darstellen, aber von einer Gesellschaftsanalyse weit entfernt sind.
Zu den Highlights des Buches gehören zweifellos die stärker materialgesättigten Ausführungen in den Abschnitten über das Internet als Massenmedium und das Störungs- und Veränderungspotential des Digitalen für die bisherige Gesellschaftsordnung: Im Ökonomischen stört Big Data bisherige Geschäftsmodelle und schafft neue Vertriebswege, während der Vertrieb über Ladengeschäfte schwieriger wird; innerhalb unterschiedlicher Bereiche wird Privatheit wie auch das Konstrukt des selbstbestimmten Subjekts zur Illusion; die ausgreifende Datentechnik macht das Automobil möglicherweise zu einem Sensorpunkt im elektronisch gesteuerten Verkehrsstrom und so fort. Besonders relevant erscheint in diesem Zusammenhang die Einsicht, dass die Digitaltechnik Entscheidungen trifft, die im bisherigen Institutionenarrangement noch menschlichen oder korporativen Akteuren zugerechnet worden sind, womit digitale Algorithmen Akteursstatus erlangen.
Diese an sich nicht neuen Erkenntnisse gewinnen dadurch an theoretischer Brisanz, dass Nassehi sie - analog zur Einführung des Buchdrucks - als Struktur der Verdoppelung begreift, welche die funktional differenzierte Gesellschaft von innen verändert, ohne ihre Funktionen im Einzelnen auszuhebeln. Ähnlich wie Schriftlichkeit sich wie ein Netz über die gesellschaftlichen Praktiken legt und damit gewissermaßen eine zweite Realität erzeugt, die in die erste eingreift und selbst zum Teil der Gesellschaft geworden ist, so ist auch Digitalisierung als eine Verdoppelung der Welt zu begreifen, welche einen inneren Verweisungs- und Operationshorizont erzeugt, der in die Welt eingreift. Aber welche Veränderungen hier konkret stattgefunden haben und welche Auswirkungen Digitalisierung auf gesellschaftliche Denkweisen, soziale Praktiken und Strukturen im Einzelnen hat, wird, wenn überhaupt, nur ausschnittweise behandelt. Dennoch ist das Buch von Nassehi insgesamt eine sehr anregende und lohnende Lektüre, die nicht mit den sonst üblichen Katastrophenszenarien aufwartet, sondern zum differenzierten Weiterdenken einlädt.
CORNELIA KOPPETSCH
Armin Nassehi: "Muster". Theorie der digitalen
Gesellschaft.
Verlag C. H. Beck, München 2019. 352 S., geb., 26,- [Euro].
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