NORBERT SCHEUERS GROSSER NEUER ROMAN
Die junge, elternlose Nina Plisson weiß nicht, was aus ihrer Mutter geworden ist und auch nicht, wer ihr Vater war. Wissen andere in ihrer kleinen Heimatstadt Kall mehr? Was wird ihr vorenthalten?
Nachdem das vereinsamte und widerspenstige Mädchen lange Zeit große Schwierigkeiten hatte, lesen und schreiben zu erlernen, wird sie sich, angeleitet von der pensionierten Lehrerin Sophia Molitor, grundlegend verändern. Sie beginnt, Erinnerungen aus ihrer frühen Kindheit aufzuschreiben, vom Liebhaber ihrer verschollenen Mutter, in der Gestalt eines schwarzen Storches, von der Reise mit Großvaters Opel Kapitän ins sagenhafte Byzanz, zum Palast der Störche, und später dann, von ihrer großen, zunächst vergeblichen Liebe zu Paul Arimond. Für Nina verwandelt sich das Urftland mehr und mehr in einen Ort voller Märchen und Mythen, wie sie auf den Bierdeckeln von Evros, dem griechischen Gastwirt, stehen. Immer näher kommt sie einem Geheimnis, das ihr all die Jahre beharrlich verschwiegen wurde. Einfühlsam und spannend erzählt Norbert Scheuer in seinem neuen Roman mit dem ihm eigenen poetischen Ton von der Suche einer einsamen jungen Frau nach ihrer Geschichte, nach Zugehörigkeit und Glück.
Eine junge Frau auf der Suche nach ihrer Herkunft Eine Waise wird zur Autorin ihrer eigenen Geschichte
Die junge, elternlose Nina Plisson weiß nicht, was aus ihrer Mutter geworden ist und auch nicht, wer ihr Vater war. Wissen andere in ihrer kleinen Heimatstadt Kall mehr? Was wird ihr vorenthalten?
Nachdem das vereinsamte und widerspenstige Mädchen lange Zeit große Schwierigkeiten hatte, lesen und schreiben zu erlernen, wird sie sich, angeleitet von der pensionierten Lehrerin Sophia Molitor, grundlegend verändern. Sie beginnt, Erinnerungen aus ihrer frühen Kindheit aufzuschreiben, vom Liebhaber ihrer verschollenen Mutter, in der Gestalt eines schwarzen Storches, von der Reise mit Großvaters Opel Kapitän ins sagenhafte Byzanz, zum Palast der Störche, und später dann, von ihrer großen, zunächst vergeblichen Liebe zu Paul Arimond. Für Nina verwandelt sich das Urftland mehr und mehr in einen Ort voller Märchen und Mythen, wie sie auf den Bierdeckeln von Evros, dem griechischen Gastwirt, stehen. Immer näher kommt sie einem Geheimnis, das ihr all die Jahre beharrlich verschwiegen wurde. Einfühlsam und spannend erzählt Norbert Scheuer in seinem neuen Roman mit dem ihm eigenen poetischen Ton von der Suche einer einsamen jungen Frau nach ihrer Geschichte, nach Zugehörigkeit und Glück.
Eine junge Frau auf der Suche nach ihrer Herkunft Eine Waise wird zur Autorin ihrer eigenen Geschichte
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.07.2022Stadt unter
Die Erosion hat ihr Werk vor der Flutkatastrophe vollendet: In Norbert Scheuers Roman "Mutabor" suchen die Bürger von Kall ihre verschollenen Schicksalsgenossen wie im platonischen Mythos der Liebe die halbierte Menschheit ihre bessere Hälfte.
Seltsam, dieses Mädchen. Paul beobachtet Nina, wie sie am frühen Morgen die Zeitung bringt. Und er blickt ihr nach, als sie eilig ihren Leiterwagen hinter sich herzieht und ihn vor dem Nachbarhaus abstellt, wo schon ein Pferdetransporter steht, der nicht mehr vom Fleck bewegt wird. Sie öffnet die Wagentür und verschwindet im Inneren. "Als sie nach einiger Zeit wieder herauskommt, hält sie in den Händen einen Stapel Bücher, den sie vorsichtig zu den Zeitungen auf den Wagen legt; dann setzt sie ihre Arbeit fort." Es ist nicht das erste Mal, dass Pauls Augen sich an Ninas Spuren heften. Sie bekäme einen Schreck, wenn sie es bemerkte. Im Schutz der Routine ihrer morgendlichen Runde ist sie es, die ihn manchmal durch die Fensterscheibe beobachtet. Sie glaubt für ihn unsichtbar zu sein, aber die Symmetrie der Aufmerksamkeit, die sie sich erträumt, ist schon gegeben.
An dieser Stelle in der Mitte von Norbert Scheuers Roman "Mutabor" beschränkt sich Pauls romantisches Interesse an Nina noch auf zerstreute Neugier. "Das Mädchen ist ihm ein Rätsel" - aber vielleicht nur von der Art der Kreuzworträtsel, mit denen die Zeitungen den nachrichtenlosen Raum füllen. Hat man genug Hinweise, kann man die fehlenden Buchstaben restlos ergänzen. Paul hat sogar schon einmal Ninas Versteck durchsucht, den Papierberg gesichtet, den sie im Pferdetransporter aufbewahrt. Unmarkiert bleibt im Protokoll von Pauls Gedanken die Seltsamkeit, die sich in der Einrichtung von Ninas Arbeitsablauf versteckt. Dass sie mitten auf ihrer Runde einen Halt einlegt, ist nicht weiter auffällig, solange ihre Lieferung den schlafenden Abonnenten zuvorkommt. Aber weshalb lädt sie zusätzliche Druckerzeugnisse in ihren Wagen, die nicht zur Verteilung bestimmt sind? Der Erfüllung müsste sie doch allmorgendlich näher kommen, indem der Leiterwagen leichter wird. Warum belastet sie sich mit Lektüre?
Das ist ein Rätsel, das Norbert Scheuer seinen Lesern aufgibt oder besser gesagt mitgibt, weil er die Lösung nicht mitliefert. Beim Kreuzworträtsel findet man sie auf dem Kopf stehend gedruckt, im Roman muss man seine mehr oder weniger glücklichen Einfälle zwischen den Zeilen eintragen, in der Hoffnung, dass das Buch vom Leser weitergeschrieben werden möchte. Zwei Lösungsansätze zu Ninas seltsamer Angewohnheit des Büchertransports: Erstens fungiert der Ballast als Talisman, wie die Storchenfeder, die Paul am Innenspiegel seines Autos befestigt hat, bloß dass der Bücherstapel nicht sichere, sondern unsichere Fahrt garantiert, die Möglichkeit jederzeitiger Fahrtunterbrechung; und zweitens bildet Nina sich vielleicht ein, dass sie den Bücherschatz in seinem Depot nicht alleinlassen darf.
Sie ist bei ihren Großeltern aufgewachsen und wurde nach deren Tod der Obhut einer Sozialarbeiterin ausgeliefert, die ihre Privatsphäre nicht respektiert. Gegen die Zudringlichkeit dieser Amtsperson muss Nina den Schutz von Geheimnissen organisieren, die sie andererseits in detektivischem Eifer selbst aus der Welt schaffen möchte. Wer waren ihre Eltern? Die Eifelausgaben der Kölner Zeitungen werden in Kall, wo dieser Roman wie jeder Roman Scheuers spielt, an manchen Tagen mit handschriftlichen Beilagen zugestellt, mit denen die Austrägerin um Mithilfe bei der Aufklärung dieser Frage bittet. Kennt vielleicht jemand den Reiter auf dem Foto, das bei Evros, dem griechischen Wirt der Ortskneipe, hinter der Theke hängt? Er könnte Ninas Vater sein; unglücklicherweise hat jemand sein Gesicht ausgekratzt.
Im Motivhaushalt des Romans ist das Pferd, das sprungbereite Lasttier, so etwas wie die ursprüngliche poetische Idee. Ein Pferdetransporter, also eine Art Pferdeersatz für Pferde, eignet sich vor diesem Hintergrund perfekt als Bibliothek, weil auch Bücher Vehikel der Ortsveränderung mit allem Eigensinn von Lebewesen sind. Da Nina in Kall ihre große Reise plant, muss der Pferdeanhänger abgekoppelt sein. Kall ist die Stadt der Eigenbrötler, Sonderlinge, Privatmythologen und Selbstgesprächstherapeuten - und diese monadologische Grundform der Stadtgesellschaft lässt sich dem Stadtbild ablesen, einer ruinösen Infrastruktur des Individualismus.
Am Ende des Romans wird Kall von einer Überschwemmung heimgesucht, wie sie über die gleichnamige nicht erfundene Stadt, in der Norbert Scheuer lebt, heute vor einem Jahr hereinbrach. Aber die Erosion hatte ihr zerstörerisches Werk viel früher begonnen und in gewissem Sinne auch schon vollendet. Nach dem Hochwasser wird sortiert und zusammengeworfen. "In der Bahnhofstraße luden Bagger Couchgarnituren, Teppiche, Farbeimer, zwei Transportboxen für Katzen, Lebensmittel, Schnapsflaschen und Elektroschrott, worunter sich auch der Glücksspielautomat von Evros befand, in Container. In einem verwüsteten Wohnzimmer war ein Aquarium unversehrt geblieben." Ein Wassertank, der wie zum Spott über die Elemente höchstem Wasserdruck standhält, sodass mitten in verheerter Umwelt das Modell eines natürlichen Habitats überlebt: Das Aquarium, das wie in der Ursprungslegende eines Wallfahrtsortes wundersamerweise heil geblieben ist, sollte ins Wappen der aus den Fluten aufgetauchten Stadt aufgenommen werden, die - mit dem Titel von Scheuers Roman aus dem Jahr 2009 - "Überm Rauschen" errichtet worden ist, einem über weite Strecken unterirdischen Grundstrom. Nach dem Abfließen der Schmutzwasser kann man sehen, dass Kall schon vorher eine Stadt der Container war.
Sophia Molitor, die Lehrerin, die Nina das Lesen beibrachte, hält die herrschaftliche Wohnung, die sie als Erbin der Bergwerksdirektorendynastie gemeinsam mit ihrem in China verschollenen Mann bewohnte, wie ein Museum instand. So macht sich jeder Einwohner von Kall ein Gehäuse zurecht, dessen Geschlossenheit es dem Risiko aussetzt, zum Spielball tektonischer Kräfte zu werden: In einem Fass am Fuße des Staudamms ist Nina mit ihren Büchern vor Beobachtern sicher, aber nicht vor dem Rutschen auf die schiefe Ebene, für das jeden Zylinder seine Körperform aus dem Mathematikbuch prädestiniert.
Der Opel mit dem sprechenden Namen Kapitän, den Ninas Großvater steuert, droht bei jedem Ausflug auf Grund zu laufen. Vom TÜV längst aufgegeben, ist er überhaupt nur noch fahrtüchtig, weil der Großvater ihn gleichzeitig als Transportbox für die Katze nutzt, die belohnt wird für die Massakrierung der Mäuse, die "Unterschlupf im Wageninneren gefunden und es sich in ihren Höhlen dort bequem gemacht" haben. Das vermeintliche Fluchtfahrzeug ist ein Ort des inneren Exils, ein Abbild der Stadt, eines Systems kommunizierender Höhlengänge.
Die Hauptpersonen und Teile ihrer Geschichten können die Leser aus den Romanen "Die Sprache der Vögel" von 2015 und "Am Grund des Universums" von 2017 kennen, ohne dass sie diese Bücher gelesen haben müssen, um das neue Buch zu verstehen. Eine Schicksalsgemeinschaft stiften in Kall gekappte Verbindungen; Personen suchen einander wie die entlang der Geschlechtergrenze halbierten Menschen im platonischen Mythos der Liebe, nur dass man sich angesichts der Alltäglichkeit von Inzest, Ehebruch und Nötigung die Wiedervereinigung kraft Vervollständigung der Stadtgeschichte nicht harmonisch vorstellt. Aus dem Mund des Großvaters hat Nina das Märchen von Kalif Storch gehört, dem der Roman das Zauberwort des Titels entnimmt. Mutabor: Ich werde verwandelt werden. Vom Versprechen der Freiheit verwandelt sich der Storchenschnabel in ein Symbol sexueller Gewalt. Es tröstet, dass Scheuer seiner Stadt auch idyllische Züge verleiht. Eine Einheit, die Nina täglich erfährt, bildet Kall als Stadt der Leser, und die Bezieher von Zeitungen sterben nicht aus. PATRICK BAHNERS
Norbert Scheuer:
"Mutabor". Roman. Mit 33 Zeichnungen von Erasmus Scheuer.
Verlag C.H. Beck, München 2022. 192 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Erosion hat ihr Werk vor der Flutkatastrophe vollendet: In Norbert Scheuers Roman "Mutabor" suchen die Bürger von Kall ihre verschollenen Schicksalsgenossen wie im platonischen Mythos der Liebe die halbierte Menschheit ihre bessere Hälfte.
Seltsam, dieses Mädchen. Paul beobachtet Nina, wie sie am frühen Morgen die Zeitung bringt. Und er blickt ihr nach, als sie eilig ihren Leiterwagen hinter sich herzieht und ihn vor dem Nachbarhaus abstellt, wo schon ein Pferdetransporter steht, der nicht mehr vom Fleck bewegt wird. Sie öffnet die Wagentür und verschwindet im Inneren. "Als sie nach einiger Zeit wieder herauskommt, hält sie in den Händen einen Stapel Bücher, den sie vorsichtig zu den Zeitungen auf den Wagen legt; dann setzt sie ihre Arbeit fort." Es ist nicht das erste Mal, dass Pauls Augen sich an Ninas Spuren heften. Sie bekäme einen Schreck, wenn sie es bemerkte. Im Schutz der Routine ihrer morgendlichen Runde ist sie es, die ihn manchmal durch die Fensterscheibe beobachtet. Sie glaubt für ihn unsichtbar zu sein, aber die Symmetrie der Aufmerksamkeit, die sie sich erträumt, ist schon gegeben.
An dieser Stelle in der Mitte von Norbert Scheuers Roman "Mutabor" beschränkt sich Pauls romantisches Interesse an Nina noch auf zerstreute Neugier. "Das Mädchen ist ihm ein Rätsel" - aber vielleicht nur von der Art der Kreuzworträtsel, mit denen die Zeitungen den nachrichtenlosen Raum füllen. Hat man genug Hinweise, kann man die fehlenden Buchstaben restlos ergänzen. Paul hat sogar schon einmal Ninas Versteck durchsucht, den Papierberg gesichtet, den sie im Pferdetransporter aufbewahrt. Unmarkiert bleibt im Protokoll von Pauls Gedanken die Seltsamkeit, die sich in der Einrichtung von Ninas Arbeitsablauf versteckt. Dass sie mitten auf ihrer Runde einen Halt einlegt, ist nicht weiter auffällig, solange ihre Lieferung den schlafenden Abonnenten zuvorkommt. Aber weshalb lädt sie zusätzliche Druckerzeugnisse in ihren Wagen, die nicht zur Verteilung bestimmt sind? Der Erfüllung müsste sie doch allmorgendlich näher kommen, indem der Leiterwagen leichter wird. Warum belastet sie sich mit Lektüre?
Das ist ein Rätsel, das Norbert Scheuer seinen Lesern aufgibt oder besser gesagt mitgibt, weil er die Lösung nicht mitliefert. Beim Kreuzworträtsel findet man sie auf dem Kopf stehend gedruckt, im Roman muss man seine mehr oder weniger glücklichen Einfälle zwischen den Zeilen eintragen, in der Hoffnung, dass das Buch vom Leser weitergeschrieben werden möchte. Zwei Lösungsansätze zu Ninas seltsamer Angewohnheit des Büchertransports: Erstens fungiert der Ballast als Talisman, wie die Storchenfeder, die Paul am Innenspiegel seines Autos befestigt hat, bloß dass der Bücherstapel nicht sichere, sondern unsichere Fahrt garantiert, die Möglichkeit jederzeitiger Fahrtunterbrechung; und zweitens bildet Nina sich vielleicht ein, dass sie den Bücherschatz in seinem Depot nicht alleinlassen darf.
Sie ist bei ihren Großeltern aufgewachsen und wurde nach deren Tod der Obhut einer Sozialarbeiterin ausgeliefert, die ihre Privatsphäre nicht respektiert. Gegen die Zudringlichkeit dieser Amtsperson muss Nina den Schutz von Geheimnissen organisieren, die sie andererseits in detektivischem Eifer selbst aus der Welt schaffen möchte. Wer waren ihre Eltern? Die Eifelausgaben der Kölner Zeitungen werden in Kall, wo dieser Roman wie jeder Roman Scheuers spielt, an manchen Tagen mit handschriftlichen Beilagen zugestellt, mit denen die Austrägerin um Mithilfe bei der Aufklärung dieser Frage bittet. Kennt vielleicht jemand den Reiter auf dem Foto, das bei Evros, dem griechischen Wirt der Ortskneipe, hinter der Theke hängt? Er könnte Ninas Vater sein; unglücklicherweise hat jemand sein Gesicht ausgekratzt.
Im Motivhaushalt des Romans ist das Pferd, das sprungbereite Lasttier, so etwas wie die ursprüngliche poetische Idee. Ein Pferdetransporter, also eine Art Pferdeersatz für Pferde, eignet sich vor diesem Hintergrund perfekt als Bibliothek, weil auch Bücher Vehikel der Ortsveränderung mit allem Eigensinn von Lebewesen sind. Da Nina in Kall ihre große Reise plant, muss der Pferdeanhänger abgekoppelt sein. Kall ist die Stadt der Eigenbrötler, Sonderlinge, Privatmythologen und Selbstgesprächstherapeuten - und diese monadologische Grundform der Stadtgesellschaft lässt sich dem Stadtbild ablesen, einer ruinösen Infrastruktur des Individualismus.
Am Ende des Romans wird Kall von einer Überschwemmung heimgesucht, wie sie über die gleichnamige nicht erfundene Stadt, in der Norbert Scheuer lebt, heute vor einem Jahr hereinbrach. Aber die Erosion hatte ihr zerstörerisches Werk viel früher begonnen und in gewissem Sinne auch schon vollendet. Nach dem Hochwasser wird sortiert und zusammengeworfen. "In der Bahnhofstraße luden Bagger Couchgarnituren, Teppiche, Farbeimer, zwei Transportboxen für Katzen, Lebensmittel, Schnapsflaschen und Elektroschrott, worunter sich auch der Glücksspielautomat von Evros befand, in Container. In einem verwüsteten Wohnzimmer war ein Aquarium unversehrt geblieben." Ein Wassertank, der wie zum Spott über die Elemente höchstem Wasserdruck standhält, sodass mitten in verheerter Umwelt das Modell eines natürlichen Habitats überlebt: Das Aquarium, das wie in der Ursprungslegende eines Wallfahrtsortes wundersamerweise heil geblieben ist, sollte ins Wappen der aus den Fluten aufgetauchten Stadt aufgenommen werden, die - mit dem Titel von Scheuers Roman aus dem Jahr 2009 - "Überm Rauschen" errichtet worden ist, einem über weite Strecken unterirdischen Grundstrom. Nach dem Abfließen der Schmutzwasser kann man sehen, dass Kall schon vorher eine Stadt der Container war.
Sophia Molitor, die Lehrerin, die Nina das Lesen beibrachte, hält die herrschaftliche Wohnung, die sie als Erbin der Bergwerksdirektorendynastie gemeinsam mit ihrem in China verschollenen Mann bewohnte, wie ein Museum instand. So macht sich jeder Einwohner von Kall ein Gehäuse zurecht, dessen Geschlossenheit es dem Risiko aussetzt, zum Spielball tektonischer Kräfte zu werden: In einem Fass am Fuße des Staudamms ist Nina mit ihren Büchern vor Beobachtern sicher, aber nicht vor dem Rutschen auf die schiefe Ebene, für das jeden Zylinder seine Körperform aus dem Mathematikbuch prädestiniert.
Der Opel mit dem sprechenden Namen Kapitän, den Ninas Großvater steuert, droht bei jedem Ausflug auf Grund zu laufen. Vom TÜV längst aufgegeben, ist er überhaupt nur noch fahrtüchtig, weil der Großvater ihn gleichzeitig als Transportbox für die Katze nutzt, die belohnt wird für die Massakrierung der Mäuse, die "Unterschlupf im Wageninneren gefunden und es sich in ihren Höhlen dort bequem gemacht" haben. Das vermeintliche Fluchtfahrzeug ist ein Ort des inneren Exils, ein Abbild der Stadt, eines Systems kommunizierender Höhlengänge.
Die Hauptpersonen und Teile ihrer Geschichten können die Leser aus den Romanen "Die Sprache der Vögel" von 2015 und "Am Grund des Universums" von 2017 kennen, ohne dass sie diese Bücher gelesen haben müssen, um das neue Buch zu verstehen. Eine Schicksalsgemeinschaft stiften in Kall gekappte Verbindungen; Personen suchen einander wie die entlang der Geschlechtergrenze halbierten Menschen im platonischen Mythos der Liebe, nur dass man sich angesichts der Alltäglichkeit von Inzest, Ehebruch und Nötigung die Wiedervereinigung kraft Vervollständigung der Stadtgeschichte nicht harmonisch vorstellt. Aus dem Mund des Großvaters hat Nina das Märchen von Kalif Storch gehört, dem der Roman das Zauberwort des Titels entnimmt. Mutabor: Ich werde verwandelt werden. Vom Versprechen der Freiheit verwandelt sich der Storchenschnabel in ein Symbol sexueller Gewalt. Es tröstet, dass Scheuer seiner Stadt auch idyllische Züge verleiht. Eine Einheit, die Nina täglich erfährt, bildet Kall als Stadt der Leser, und die Bezieher von Zeitungen sterben nicht aus. PATRICK BAHNERS
Norbert Scheuer:
"Mutabor". Roman. Mit 33 Zeichnungen von Erasmus Scheuer.
Verlag C.H. Beck, München 2022. 192 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Marie Schmidt ist fasziniert davon, wie Norbert Scheuer auch in diesem neusten seiner Eifel-Romane den Ort Kall mit einer globalen und mythischen Bedeutung auflädt. Es geht dieses Mal um Nina Plisson, die als gewaltgebeutelte Frau und Außenseiterin in der Stadtgemeinschaft versucht, ihren Vater zu finden. Wie Scheuer hierbei einen Anschluss an vorherige Romane anbiete, diesen dann aber unterlaufe - so ist die Protagonistin bereits aus einem Vorgängerband bekannt, hieß damals aber noch "Plission" - findet die Kritikerin äußerst spannend zu lesen. Auch wie der Autor den Schauplatz Kall einerseits auf Supermarkt-Cafeteria-Provinzialität verenge und dann wieder auf die antike Mythenwelt ausweite, etwa wenn die Besucher eben jener Supermarkt-Cafeteria als allwissender Chor beschrieben werden, beeindruckt die Kritikerin. Auch Nina begegne immer wieder mythischen Figuren oder Symbolen; und wie Scheuer dies als "Zeichen der Verdrängung" von Ninas Missbrauchsgeschichte wende, findet Schmidt bemerkenswert. Ein weiterer gelungener Band von Scheuers "Gesamtkunstwerk", in dem das Partikulare und das Allgemeine Hand in Hand gehen, staunt die Kritikerin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Aus einer Fülle von Gedächtnissplittern, Traumsequenzen, Lektürefragmenten und familiengeschichtlichen Episoden entsteht ein klug komponiertes Wimmelbild. ... Einmal mehr sucht Scheuer die großen Zusammenhänge und den Reichtum des Lebens in der kleinen, kärglichen Welt vor der Haustür."
DIE ZEIT, Daniela Strigl
"In Norbert Scheuers Roman 'Mutabor' suchen die Bürger von Kall ihre verschollenen Schicksalsgenossen wie im platonischen Mythos der Liebe die halbierte Menschheit ihre bessere Hälfte."
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Patrick Bahners
"Vieles packt Norbert Scheuer in sein Buch, das reich an engmaschigen wie an losen Fäden ist. Von dem Netz, das daraus entsteht, lässt man sich bei der Lektüre nur zu gern umfangen."
Frankfurter Rundschau, Martin Oehlen
"Es ist hochkonzentriertes, verdichtetes Erzählen, wie immer bei diesem Autor: Wieder packen einen die Geschichte, der Tonfall, die Bilder - und Ninas Stimme."
Trierischer Volksfreund, Fritz-Peter Linden
"Was Realität und was Imagination ist, ist in diesem zarten und elegant gebauten Roman kaum voneinander zu unterscheiden."
Deutschlandfunk, Christoph Schröder
"Poetisch, gelungen und sehr gut"
Deutschlandfunk Kultur, Jörg Magenau
"Eines von Norbert Scheuers eindringlichsten und schönsten Erzählwerken."
SWR, Wolfgang Schneider
"Aus vielen kleinen Formen und Anrissen entwickelt sich ein Roman, der sich liest wie ein langes dramatisches Gedicht."
STERN, Oliver Creutz
"Einzeln wirken seine Bücher schmal, bescheiden, eingesponnen in ihre besonderen Interessen und Perspektiven. Zusammen erschließen sie einen enormen erzählerischen Kosmos." Süddeutsche Zeitung, Marie Schmidt
"'Mutabor' ist ein Buch der Verwandlungen, der Adolenszenzroman einer Außenseiterin. Nina findet in ihm auf märchenhafte Weise zur Sprache und zu einem selbstbestimmten Leben."
DIE LITERARISCHE WELT, Richard Kämmerlings
"Norbert Scheuer hat mit 'Mutabor' seinen schönsten und rätselhaftesten Roman geschrieben."
Der Tagesspiegel, Gerrit Bartels
"Es geht immer um Wandlungen, um Zauber, Schönheit, Traurigkeit und die Abgründe des Lebens."
Aachner Nachrichten, Roland Mischke
"Autor Scheuer ist der Literaturarchäologe und Meister des Wundersamen, der das alles in eine Form bringt."
Kölner Stadt-Anzeiger, Stefan Lieser
"Norbert Scheuer dreht immerzu am Fokussierrad, um dieses Schwebemoment von Schärfe und Unschärfe, von Erkennen und Deuten, von Gewissheit und Vermutung immer wieder neu einzustellen."
Claude Conter anlässlich des Stefan-Andres-Preises an Norbert Scheuer
"Scheuer schreibt weiter an seinem Urftland-Universum. In der Gegend rund um den Ort Kall in der Eifel entsteht seit zwei Jahrzehnten ein literarisches Universum von sich kreuzenden Lebensläufen und Geschichten."
SWR Bestenliste Platz 8
"'Mutabor' ist ein höchst poetischer, aber auch höchst dunkler Text, in den auf subtile Weise Fragen von Schuld und Ausbeutung, Inzest und sexueller Macht, Herkunft und Schicksal verwoben sind. ... Meisterlich."
Neue Württembergische Presse, Ulrich Rüdenauer
DIE ZEIT, Daniela Strigl
"In Norbert Scheuers Roman 'Mutabor' suchen die Bürger von Kall ihre verschollenen Schicksalsgenossen wie im platonischen Mythos der Liebe die halbierte Menschheit ihre bessere Hälfte."
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Patrick Bahners
"Vieles packt Norbert Scheuer in sein Buch, das reich an engmaschigen wie an losen Fäden ist. Von dem Netz, das daraus entsteht, lässt man sich bei der Lektüre nur zu gern umfangen."
Frankfurter Rundschau, Martin Oehlen
"Es ist hochkonzentriertes, verdichtetes Erzählen, wie immer bei diesem Autor: Wieder packen einen die Geschichte, der Tonfall, die Bilder - und Ninas Stimme."
Trierischer Volksfreund, Fritz-Peter Linden
"Was Realität und was Imagination ist, ist in diesem zarten und elegant gebauten Roman kaum voneinander zu unterscheiden."
Deutschlandfunk, Christoph Schröder
"Poetisch, gelungen und sehr gut"
Deutschlandfunk Kultur, Jörg Magenau
"Eines von Norbert Scheuers eindringlichsten und schönsten Erzählwerken."
SWR, Wolfgang Schneider
"Aus vielen kleinen Formen und Anrissen entwickelt sich ein Roman, der sich liest wie ein langes dramatisches Gedicht."
STERN, Oliver Creutz
"Einzeln wirken seine Bücher schmal, bescheiden, eingesponnen in ihre besonderen Interessen und Perspektiven. Zusammen erschließen sie einen enormen erzählerischen Kosmos." Süddeutsche Zeitung, Marie Schmidt
"'Mutabor' ist ein Buch der Verwandlungen, der Adolenszenzroman einer Außenseiterin. Nina findet in ihm auf märchenhafte Weise zur Sprache und zu einem selbstbestimmten Leben."
DIE LITERARISCHE WELT, Richard Kämmerlings
"Norbert Scheuer hat mit 'Mutabor' seinen schönsten und rätselhaftesten Roman geschrieben."
Der Tagesspiegel, Gerrit Bartels
"Es geht immer um Wandlungen, um Zauber, Schönheit, Traurigkeit und die Abgründe des Lebens."
Aachner Nachrichten, Roland Mischke
"Autor Scheuer ist der Literaturarchäologe und Meister des Wundersamen, der das alles in eine Form bringt."
Kölner Stadt-Anzeiger, Stefan Lieser
"Norbert Scheuer dreht immerzu am Fokussierrad, um dieses Schwebemoment von Schärfe und Unschärfe, von Erkennen und Deuten, von Gewissheit und Vermutung immer wieder neu einzustellen."
Claude Conter anlässlich des Stefan-Andres-Preises an Norbert Scheuer
"Scheuer schreibt weiter an seinem Urftland-Universum. In der Gegend rund um den Ort Kall in der Eifel entsteht seit zwei Jahrzehnten ein literarisches Universum von sich kreuzenden Lebensläufen und Geschichten."
SWR Bestenliste Platz 8
"'Mutabor' ist ein höchst poetischer, aber auch höchst dunkler Text, in den auf subtile Weise Fragen von Schuld und Ausbeutung, Inzest und sexueller Macht, Herkunft und Schicksal verwoben sind. ... Meisterlich."
Neue Württembergische Presse, Ulrich Rüdenauer
Rezensent Patrick Bahners erzählt fast mit Ehrfurcht aus Norbert Scheuers neuem Roman. Als wollte er die zarte Rätselhaftigkeit um den Ort Kall in der Eifel, wo alle Romane des Autors spielen, und die Figuren, eine zeitungsaustragende Waisin mit Faible für Bücher und Talismane vor allem, nicht stören. Eine Flutkatastrophe, die die Ortsbewohner zur Schicksalsgemeinschaft macht, Inzest, Ehebruch - und doch entdeckt Bahners auch "idyllische Züge" im Text. Das Buch schließt laut Rezensent an frühere Romane Scheuers an, kennen muss sie der Leser aber nicht, um den neuen Roman zu verstehen, meint er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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