Produktdetails
  • Verlag: Fischer Verlag
  • ISBN-13: 9783436004637
  • ISBN-10: 3436004634
  • Artikelnr.: 23959826
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.07.2004

Band 18
Der Löwe scheut den Prankenhieb
Uwe Johnsons Roman „Mutmassungen über Jakob”
Am 31. März 1959 fand Siegfried Unseld im Sterbezimmer Peter Suhrkamps ein noch eingepacktes Manuskript. Er öffnete den Umschlag und nahm das Manuskript mit nach Hause. Als Unseld es schließlich las, verstand er zwar den „Text in seiner Ganzheit nicht”, aber eines wurde ihm klar: „Hier war die Klaue eines Löwen am Werk.” Der Löwe war Uwe Johnson, ein Löwe, der den direkten Prankenhieb scheute. Denn Johnson umschleicht seine Geschichte, lauscht deren Protagonisten, bietet Dialogfetzen, Telefonate, Erinnerungen, konstruiert so gekonnt, dass man das Leben selbst zu lesen meint.
Im Juni 1959 übersiedelte Johnson nach Westberlin, wenig später erschien der Roman „Mutmassungen über Jakob”, der von Bewegungen zwischen Ost und West berichtet. Er spielt im Herbst 1956, in den Wochen des ungarischen Aufstands und der Suez-Krise. Er erzählt vom Eisenbahn-Dispatcher Jakob Abs, der 1945 mit seiner Mutter aus Pommern vertrieben worden und auf der Flucht vor der Roten Armee in Jerichow in Mecklenburg gestrandet war, wo der Kunsttischler Heinrich Cresspahl sie aufgenommen hatte. „Und ein für alle Male hatte Gesine Cresspahl”, Heinrichs Tochter, die spätere Heldin der „Jahrestage”, „die Mutter Jakobs zu eigen genommen wie Jakob als den geschenkten großen Bruder.”
Gemeinsam erleben sie die verkrampfte Hoffnung auf das bessere Deutschland, aber Gesine geht 1953 in den Westen, wo sie drei Jahre später als Dolmetscherin in einer Nato-Dienststelle arbeitet. Deswegen interessiert sich Herr Rohlfs, ein Mann des Staatssicherheitsdienstes, für sie und fragt auch Frau Abs nach ihr, die unverzüglich nach Westberlin flüchtet. Nun wird Jakob observiert. Man beobachtet, wie er sich mit dem regimekritischen Philologen Jonas Blach trifft. Jakob besucht Gesine im Westen, aber er kehrt zurück mit dem Interzonenzug, geht über die Gleise und stirbt. War es Mord, Selbstmord oder ein Unfall?
Johnson erzählt nicht chronologisch. Er baut aus Bruchstücken eine Welt, in der man wohnen, mit deren Bewohnern man denken kann. „Modern” heißt das Etikett für Johnsons erzählerisches Virtuosentum, aber es dient der Vergegenwärtigung einer längst versunkenen Welt. Das Unerträgliche des „Drittelstaates”, der von seinen Menschen erwartet, dass sie „sich versäumen” über dem Zweck des Fortschritts, ist kaum je beklemmender geschildert worden. In Johnsons Welt gibt es kaum Hoffnung, aber die ganz altertümliche Sehnsucht nach Heimat. Aber eben die Heimat scheint zu entschwinden, wirkt flüchtig, sich entziehend und lebt allein in der Sprache. Präzise Benennung und vage Andeutungen stehen darin unverbunden nebeneinander: Johnson-Sound. Dieses Jerichow-Deutsch ist reich an Sätzen, die man nicht wieder vergessen will. Der erste, der schönste Anfangssatz der deutschen Nachkriegsliteratur, gehört unbedingt dazu: „Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen.”
JENS BISKY
Uwe Johnson
Foto: Renate von Mangoldt
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»Dieses Buch ... heute noch einmal zu lesen ist eine Offenbarung.« Regina Mönch Frankfurter Allgemeine Zeitung 20170503