Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.05.1997Nostalgie
Wenn der Autor Kind spielt
Das neue Buch von Jürg Schubiger und Rotraut Susanne Berner ist kostbar ausgestattet: der Einband mit seinem soliden Schutzumschlag, die Fadenheftung, das griffige, leicht getönte Papier mit großzügig gesetztem Text, ganzseitig farbige Bildtafeln - ein Genuß für Auge und Hand.
Jürg Schubiger läßt einen etwa zehnjährigen Jungen Tagebuch schreiben. Die Familie steht im Mittelpunkt seiner Aufzeichnungen. Der Vater, ein Lehrer, ermutigt den Sohn zum Fragen. "Meine Fragen sind kurz, seine Antworten sind viel zu lang." Die Mutter wird von Unruhe und vielleicht zielloser Sehnsucht manchmal in die Welt hinaus getrieben, weg von Mann und Kindern. Am Ende hat sie einen Freund. Die kleine Schwester ist ein etwas lästiger, aber schließlich doch akzeptierter Eindringling. Katze und drei Großeltern vervollständigen das Tableau. Eine Großmutter stirbt. Da es in der Straße auch einen Jungen im Rollstuhl gibt, sind alle Probleme gestellt, die Kinder heute laut Lehrplänen beschäftigen sollten.
Schubiger ist an der kindlichen Innenwelt interessiert. Der Tagebuchschreiber denkt über Welt und Sprache nach, über Armut, Alter und Tod, Traum und Imagination, die Wirklichkeit der Bilder im Museum, die Sinneswahrnehmungen und die eigenen dunklen Empfindungen. Während in Autobiographien Erwachsene die kindlichen Gedanken und Gefühle im Rückblick darstellen, fingiert hier der Autor den Originalton, er spielt Kind. Dabei trifft er durchaus Motive und Erfahrungen, die aus Autobiographien, Beobachtungen und eigenem Erinnern bekannt sind. Aber die Art und Weise, in der Schubiger hier kindliches Denken und Schreiben suggeriert, bringt einen falschen Ton in die Erzählung.
Text und Illustration arbeiten mit Ausdrucksformen produzierter Naivität. Jürg Schubigers Erzählweise ist eine aus der Kniebeuge, und das ist eine hemmende Schrittart. Seine Erzählung bleibt unentschieden zwischen Kindergeschichte, entwicklungspsychologischer Studie und Material für den Philosophieunterricht in der Grundschule. Anders ist es bei der Illustration. Rotraut Susanne Berner wahrt bei allem Spiel mit der Kindlichkeit die Distanz der Erwachsenen. Sie orientiert sich am kindlichen Zeichengestus und arbeitet mit scheinbar ungelenken Strichen, mit den Stereotypen des Kinderbildes, dem Kreissegment der strahlenden Sonne in der linken oberen Ecke, dem Häuschen- und Blumenschema. Sie setzt die Bildgegenstände nebeneinander in die Fläche und stellt Figuren auf den Kopf. Allerdings bindet sie die Elemente der Kinderzeichnung in einen entschieden erwachsenen Kontext von Bildidee und Symbolik ein. Ihre Illustrationen und Vignetten sind kluge, manchmal ingeniöse Metaphern in der Tradition surrealistischen Bilddenkens.
Eines ihrer eindrucksvollsten Bilder ist eine Todesmetapher: Eine menschliche Gestalt mit einer überlebensgroßen Maske gleitet in einem kleinen roten Schiffchen einen Strom hinab, der auch als die Rundung der Erde verstanden werden kann. Mit wenigen Strichen ist eine jahrtausendealte Vorstellungstradition des Todes zitiert, ohne bildungsbeflissene Anspielung, in einem so knappen wie vieldeutigen Bild. Berner hält sich an den Text, nimmt seine Sinnbilder wörtlich, integriert jeweils einen Satz in ihre Bildtafeln und geht dennoch weit über ihn hinaus. Denn sie leistet in aller Einfachheit, was Schubiger im Tagebuch des Kindes angestrengt versucht: die Vertiefung durch die Dimension mythischer und künstlerischer Tradition.
Viele Erwachsene schätzen Kinderbücher für das, was sie selbst aus ihnen gewinnen - wogegen an sich nichts einzuwenden ist. Oft ist das aber nicht viel mehr als der Wunsch nach leichthin serviertem Lebenssinn. Diese Nostalgie spricht der Klappentext an, wenn er etwa von Bildern raunt, die "das Herz der Dinge suchen". Doch der Wille zum poetischen Reiz des Naiven allein macht weder Dichtung noch Philosophie.
GUNDEL MATTENKLOTT Jürg Schubiger: "Mutter, Vater, ich und sie". Mit Bildern von Rotraut Susanne Berner. Verlag Beltz & Gelberg, Weinheim 1997. 112 S., geb., 36,- DM. Ab 10 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wenn der Autor Kind spielt
Das neue Buch von Jürg Schubiger und Rotraut Susanne Berner ist kostbar ausgestattet: der Einband mit seinem soliden Schutzumschlag, die Fadenheftung, das griffige, leicht getönte Papier mit großzügig gesetztem Text, ganzseitig farbige Bildtafeln - ein Genuß für Auge und Hand.
Jürg Schubiger läßt einen etwa zehnjährigen Jungen Tagebuch schreiben. Die Familie steht im Mittelpunkt seiner Aufzeichnungen. Der Vater, ein Lehrer, ermutigt den Sohn zum Fragen. "Meine Fragen sind kurz, seine Antworten sind viel zu lang." Die Mutter wird von Unruhe und vielleicht zielloser Sehnsucht manchmal in die Welt hinaus getrieben, weg von Mann und Kindern. Am Ende hat sie einen Freund. Die kleine Schwester ist ein etwas lästiger, aber schließlich doch akzeptierter Eindringling. Katze und drei Großeltern vervollständigen das Tableau. Eine Großmutter stirbt. Da es in der Straße auch einen Jungen im Rollstuhl gibt, sind alle Probleme gestellt, die Kinder heute laut Lehrplänen beschäftigen sollten.
Schubiger ist an der kindlichen Innenwelt interessiert. Der Tagebuchschreiber denkt über Welt und Sprache nach, über Armut, Alter und Tod, Traum und Imagination, die Wirklichkeit der Bilder im Museum, die Sinneswahrnehmungen und die eigenen dunklen Empfindungen. Während in Autobiographien Erwachsene die kindlichen Gedanken und Gefühle im Rückblick darstellen, fingiert hier der Autor den Originalton, er spielt Kind. Dabei trifft er durchaus Motive und Erfahrungen, die aus Autobiographien, Beobachtungen und eigenem Erinnern bekannt sind. Aber die Art und Weise, in der Schubiger hier kindliches Denken und Schreiben suggeriert, bringt einen falschen Ton in die Erzählung.
Text und Illustration arbeiten mit Ausdrucksformen produzierter Naivität. Jürg Schubigers Erzählweise ist eine aus der Kniebeuge, und das ist eine hemmende Schrittart. Seine Erzählung bleibt unentschieden zwischen Kindergeschichte, entwicklungspsychologischer Studie und Material für den Philosophieunterricht in der Grundschule. Anders ist es bei der Illustration. Rotraut Susanne Berner wahrt bei allem Spiel mit der Kindlichkeit die Distanz der Erwachsenen. Sie orientiert sich am kindlichen Zeichengestus und arbeitet mit scheinbar ungelenken Strichen, mit den Stereotypen des Kinderbildes, dem Kreissegment der strahlenden Sonne in der linken oberen Ecke, dem Häuschen- und Blumenschema. Sie setzt die Bildgegenstände nebeneinander in die Fläche und stellt Figuren auf den Kopf. Allerdings bindet sie die Elemente der Kinderzeichnung in einen entschieden erwachsenen Kontext von Bildidee und Symbolik ein. Ihre Illustrationen und Vignetten sind kluge, manchmal ingeniöse Metaphern in der Tradition surrealistischen Bilddenkens.
Eines ihrer eindrucksvollsten Bilder ist eine Todesmetapher: Eine menschliche Gestalt mit einer überlebensgroßen Maske gleitet in einem kleinen roten Schiffchen einen Strom hinab, der auch als die Rundung der Erde verstanden werden kann. Mit wenigen Strichen ist eine jahrtausendealte Vorstellungstradition des Todes zitiert, ohne bildungsbeflissene Anspielung, in einem so knappen wie vieldeutigen Bild. Berner hält sich an den Text, nimmt seine Sinnbilder wörtlich, integriert jeweils einen Satz in ihre Bildtafeln und geht dennoch weit über ihn hinaus. Denn sie leistet in aller Einfachheit, was Schubiger im Tagebuch des Kindes angestrengt versucht: die Vertiefung durch die Dimension mythischer und künstlerischer Tradition.
Viele Erwachsene schätzen Kinderbücher für das, was sie selbst aus ihnen gewinnen - wogegen an sich nichts einzuwenden ist. Oft ist das aber nicht viel mehr als der Wunsch nach leichthin serviertem Lebenssinn. Diese Nostalgie spricht der Klappentext an, wenn er etwa von Bildern raunt, die "das Herz der Dinge suchen". Doch der Wille zum poetischen Reiz des Naiven allein macht weder Dichtung noch Philosophie.
GUNDEL MATTENKLOTT Jürg Schubiger: "Mutter, Vater, ich und sie". Mit Bildern von Rotraut Susanne Berner. Verlag Beltz & Gelberg, Weinheim 1997. 112 S., geb., 36,- DM. Ab 10 J.
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