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Der Debüt-Roman des Georg-Büchner-Preisträgers 2010.
Faszinierende Textcollage
Eine werdende Mutter, die einen Weg sucht für sich und ihr Kind, ein vom Krieg gezeichneter Heimkehrer, der kein Vater sein will - Reinhard Jirgls Debüt, 1990 erstmals erschienen, enthält bereits die zentralen Themen, die auch sein weiteres Werk bestimmen: deutsche Zeitgeschichte und die Macht politischer Systeme über den Einzelnen. In einer faszinierenden Textcollage entfaltet Jirgl die Geschichten von Margarete und Walter während der letzten Kriegsjahre, der Nachkriegszeit und der Aufbaujahre der DDR, zwischen Mitropa-Gesprächsfetzen und ersten SED-Parolen. …mehr

Produktbeschreibung
Der Debüt-Roman des Georg-Büchner-Preisträgers 2010.
Faszinierende Textcollage

Eine werdende Mutter, die einen Weg sucht für sich und ihr Kind, ein vom Krieg gezeichneter Heimkehrer, der kein Vater sein will - Reinhard Jirgls Debüt, 1990 erstmals erschienen, enthält bereits die zentralen Themen, die auch sein weiteres Werk bestimmen: deutsche Zeitgeschichte und die Macht politischer Systeme über den Einzelnen. In einer faszinierenden Textcollage entfaltet Jirgl die Geschichten von Margarete und Walter während der letzten Kriegsjahre, der Nachkriegszeit und der Aufbaujahre der DDR, zwischen Mitropa-Gesprächsfetzen und ersten SED-Parolen.
Autorenporträt
Reinhard Jirgl wurde am 16. Januar 1953 in Berlin (Ost) geboren. Nach einer Lehre als Elektromechaniker studierte er ab 1971 Elektronik an der Berliner Humboldt-Universität. Noch während des Studiums schrieb Jirgl an ersten Prosatexten. Ab 1975 arbeitete er als Ingenieur an der Akademie der Wissenschaften, gab seinen Beruf 1978 jedoch auf, um sich mehr dem Schreiben widmen zu können. Seinen Unterhalt verdiente er als Beleuchtungs- und Servicetechniker an der Berliner Volksbühne. Als er 1985 sein erstes, umfangreiches Manuskript »Mutter Vater Roman« beim Berliner Aufbau-Verlag einreichte, wurde ihm eine »nichtmarxistische Geschichtsauffassung« vorgeworfen und die Veröffentlichung des Romans verweigert. Jirgl jedoch setzte das Schreiben fort. Bis zur Wende 1989 lagen sechs fertige Manuskripte vor - ohne dass ein einziges Buch von ihm veröffentlicht worden wäre. Erst 1990 konnte »Mutter Vater Roman« bei Aufbau erscheinen. Die entscheidende Änderung in der öffentlichen Wahrnehmung, seine persönliche Wende, wie Jirgl es beschreibt, kam schließlich 1993, als er für das Manuskript seines Romans »Abschied von den Feinden« mit dem Alfred-Döblin-Preis ausgezeichnet und Autor des Carl Hanser Verlags wurde.

1996 gab Jirgl die Tätigkeit als Techniker an der Berliner Volksbühne auf und arbeitet seitdem als freier Schriftsteller in Berlin. Seit 2009 ist er Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Neben dem Alfred-Döblin-Preis wurde sein Werk mit zahlreichen anderen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Anna-Seghers-Preis (1990), der Johannes-Bobrowski-Medaille (1998), dem Josef-Breitbach-Preis (1999), dem Kranichsteiner Literaturpreis (2003), dem Rheingau Literaturpreis (2003), dem Dedalus-Preis für Neue Literatur (2004), der Eugen Viehof Ehrengabe der Deutschen Schillergesellschaft von 1859 (2004), dem Bremer Literaturpreis (2006), dem Lion-Feuchtwanger-Preis (2009), dem Grimmelshausen-Literaturpreis (2009) und zuletzt mit dem Georg-Büchner-Preis (2010). 2007 war er Stadtschreiber von Bergen-Enkheim.

Seit 1998 erscheinen die Werke von Reinhard Jirgl im Deutschen Taschenbuch Verlag.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.10.2012

Gespensterreigen
Aha-Erlebnis: Reinhard Jirgls "Mutter Vater Roman"

Er wuchs auf als Kind der DDR: Reinhard Jirgl, geboren 1953 in Ost-Berlin. Allerdings legte er auf diese Herkunft keinen besonderen Wert - was nicht heißen soll, dass man aus der Geschichte seiner Jugend die eines Rebellen herauslesen müsste. So wie es damals üblich war, vervollständigte er als braver Knabe sein Schulwissen durch eine Ausbildung zum Elektromechaniker, arbeitete auch auf diesem Gebiet, ergänzte später seine technischen Fertigkeiten durch das Studium der Elektronik, wurde schließlich Ingenieur.

Sein eigentliches Interesse aber galt der Schriftstellerei, und dieser Kunstgattung näherte er sich gegen Ende der siebziger Jahre. Zu jener Zeit arbeitete er als Beleuchtungstechniker an der Ost-Berliner Volksbühne und begegnete dort allerlei Persönlichkeiten aus der Künstlerszene der DDR, darunter auch dem Dramatiker Heiner Müller. Und der, ein engagierter Förderer von Talenten, ermutigte den jungen Mann, seinen literarischen Gelüsten nachzugeben und sich als Schriftsteller zu versuchen.

Gesagt, getan, der Beleuchtungsfachmann wandelte sich zum Romanschreiber. In den frühen achtziger Jahren fertigte er, langsam, aber beharrlich sein erstes Werk und verlieh ihm den Titel "Die Eltern". Etwa alle sechs Wochen legte er dem Ost-Berliner Aufbau-Verlag ein neues Kapitel vor, ließ sich von einem Lektor beraten und dichtete weiter. Im Juni 1985 setzte er den letzten Punkt, dann folgte eine große Enttäuschung: Die Cheflektorin des Aufbau-Verlags lehnte das Buch ab und rügte den Autor: "Ihre Geschichtsauffassung ist nicht marxistisch!" Erst im Frühjahr 1990, jetzt unter dem Titel "Mutter Vater Roman", schaffte Reinhard Jirgls Arbeit es in die Buchläden, jedoch immer noch nicht in die Bücherschränke der Kunden, weil, so der Autor, man sich "inmitten des deutschen Rumors nach der ,Wende' ... für alles Mögliche, nur nicht für neu veröffentlichte Bücher aus der DDR interessierte".

Nun aber, zweiundzwanzig Jahre nach diesem Debakel, nach einer Reihe weiterer Werke und etlichen Auszeichnungen darf Reinhard Jirgl seine literarische Erstgeburt noch einmal vorführen. Und wir, nicht mehr von Wende-Aufregung gehemmt, können jetzt zur Kenntnis nehmen, was der Autor einst den deutschen Menschen sagen wollte. Wartet unser ein nachträgliches Aha-Erlebnis? Ein erhellender Blick in die deutsche Welt unter den Auspizien des fatalen zwanzigsten Jahrhunderts? Der Verfasser macht es seinem Publikum nicht leicht, herauszufinden, was für eine Art Kosmos er abbildet und uns Deutschen zuordnet, weil es für uns - wenn nicht gar für die gesamte Menschheit - keinen weiteren geben kann. So jedenfalls lautet das Urteil von Richter Reinhard Jirgl.

Wovon genau handelt dieser Roman? Dem ersten Eindruck zufolge vom fatalen Tun und Lassen der Menschen vor Hitler, unter Hitler und ein bisschen nach Hitler, also auch noch zur Frühzeit der DDR. Dabei geht es durchaus nicht um politische Verdammungen oder das Weisen besserer politischer Wege. Vielmehr erleben wir die Personen, die uns vorgeführt werden, als moralische Nieten, von denen nichts anderes zu erwarten war als das, was sie im Laufe der schlimmen Jahrzehnte anrichteten und verbrachen. Die blutigen Kriege, das grausame Wüten in den Konzentrationslagern und alle übrigen Unrechtstaten sind sozusagen Ergebnisse der Anlagen, mit denen die Menschen bei ihrer Erschaffung ausgerüstet wurden. Offensichtlich hat der liebe Gott beim Erschaffen der Erde und ihrer Bewohner nicht genügend aufgepasst und deshalb fürchterlich gepatzt.

Natürlich sagt der Autor Reinhard Jirgl dergleichen nicht wörtlich, bietet uns aber keine Möglichkeit, einen anderen Schluss zu ziehen. Er lässt nämlich seine Figuren bei ihren unangenehmen bis schrecklichen Unternehmungen nicht allein, sondern umgibt sie mit Vorläufern aus allen nur denkbaren Vergangenheiten und mit Ausblicken auf künftige Zeiten. Im Anhang des Romans nennt er die Quellen, die er nutzte, von der Bibel bis zur modernen Dichtung. Aus der Literatur von Jahrtausenden keltert er Zeugnisse dafür, dass der Mensch eine Fehlkonstruktion war und ist, unfähig, etwas anderes hervorzubringen als die Unannehmlichkeiten, mit denen er die eigene Geschichte seit je besudelte und wohl weiterhin besudeln wird.

Wenn uns dies verstört, so heißt das keineswegs, dass wir Partei ergreifen für die einstige Cheflektorin vom Aufbau-Verlag. Deren Politrezept zur Besserung der Welt kann unseres nicht sein. Aber in Reinhard Jirgls Romanhelden wiedererkennen möchten wir uns keinesfalls, und das nicht bloß in Bezug auf deren politisches Wirken. Politik ist ja nur eines der Felder, das diese Typen mit ihren höllischen Charakteren verschmutzen. Es gibt nichts, was sie nicht verderben, allem voraus die privaten Beziehungen zwischen Mann und Frau, Eltern und Kindern, Nachbarn und Kollegen. Was sich da abspielt, grenzt immer wieder an Vergewaltigung, Liebesverweigerung, Missgunst, Hass. All so etwas existiert unter Menschen, keine Frage, aber existiert wirklich nur das?

Reinhard Jirgl deutet an, dass im Gespensterreigen auch die eigenen Eltern tanzten. Die Mutter nennt er Margarete, den Vater Walter. Am Ende erwartet Margarete ein Kind, ob wirklich von Walter, ist für den Leser nicht einwandfrei festzustellen. Aus Zeitgründen liegt jedoch nahe, dass sich in dem Embryo der spätere Romanautor anmeldet. Falls das stimmt - was für einen grässlichen Ursprung hat er sich da zugeschrieben! Und ist denn aus ihm, wie aus allen übrigen Gestalten, auch nur die Fortsetzung dessen geworden, was sein Buch anklagt? Eben wegen dieser Anklage mag der Leser das nicht glauben, jedenfalls keiner, der sich bis zur letzten Zeile durch den Roman gearbeitet hat. Übrigens darf der Autor nicht darauf bauen, dass dies ein jeder Leser schafft, und zwar nicht bloß wegen des niederdrückenden Mangels an Lebensmut und Hoffnung. Erschwerend kommt nämlich hinzu, dass man über vierhundert Seiten lang einer Wörterflut standhalten muss, deren Botschaften sich nur immer wiederholen.

SABINE BRANDT.

Reinhard Jirgl: "Mutter Vater Roman".

Hanser Verlag, München 2012. 437 S., geb., 24,90 [Euro].

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