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Barbara, das "Hexenkind", ist das jüngste von vier Kindern, Vater und Mutter sind glühende Anhänger Hitlers. Durch einen - so absichtslosen wie folgenschweren - Verrat Barbaras gerät ihre Familie in so erhebliche Schwierigkeiten, daß sie alle ihre Heimatstadt verlassen und während des Krieges in den Osten Deutschlands flüchten müssen. Der Verrat kostet anderen Menschen wahrscheinlich das Leben. Barbaras Schuldgefühle gegenüber ihren Eltern vermischen sich mit der belastenden Erinnerung an ein jüdisches Mädchen namens Ruth, von dem Barbara nicht weiß, wo es geblieben ist. Ein halbes Jahrhundert…mehr

Produktbeschreibung
Barbara, das "Hexenkind", ist das jüngste von vier Kindern, Vater und Mutter sind glühende Anhänger Hitlers. Durch einen - so absichtslosen wie folgenschweren - Verrat Barbaras gerät ihre Familie in so erhebliche Schwierigkeiten, daß sie alle ihre Heimatstadt verlassen und während des Krieges in den Osten Deutschlands flüchten müssen. Der Verrat kostet anderen Menschen wahrscheinlich das Leben. Barbaras Schuldgefühle gegenüber ihren Eltern vermischen sich mit der belastenden Erinnerung an ein jüdisches Mädchen namens Ruth, von dem Barbara nicht weiß, wo es geblieben ist. Ein halbes Jahrhundert nach dieser Zeit und nach dem Schweigen in der Familie kämpft Barbara darum, die tiefen Beschädigungen im eigenen Körper loszuwerden und die Schuldgefühle zu bewältigen - und zugleich mit der Beziehung zur geliebten und gehassten Mutter ins reine zu kommen. Tilmann Moser legt mit diesem "Fall" ein Buch vor, in dem er deutsche Geschichte auf der Grundlage einer individuellen Geschichte erzählt.
Autorenporträt
Tilmann Moser, Dr. phil., geboren 1938, ist als Psychoanalytiker und Körperpsychotherapeut in freier Praxis in Freiburg tätig. Besondere Tätigkeitsfelder: seelische Nachwirkungen von NS-Zeit und Krieg; die Verbindung von Psychoanalyse und Körpertherapie; Nachwirkungen von repressiven Gottesbildern.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.04.1999

Mama bekam das Mutterkreuz für ein Monster
Tilmann Moser besichtigt die Hinterlassenschaften einer Kindheit im Nazireich

Vielleicht ist es ihr nur so herausgerutscht, wie Kinder eben manchmal irgendwas daherplappern. "Unsere Juden werden nicht wegfahren, weil wir sie im Keller versteckt haben", hat Barbara erklärt. Das muß 1942 gewesen sein, im Bäckerladen um die Ecke: Die Kundschaft unterhält sich gerade angeregt über den Abtransport dieser "schlimmen Juden", jeder hat was beizusteuern. Warum soll ausgerechnet Barbara den Mund halten?

Wenig später rollt daheim ein Lastwagen vor. Die SS zerrt die beiden Juden aus dem Gelaß, verhaftet Barbaras Mutter und den Schuster, dem der Keller gehört. Die Mutter kommt noch am gleichen Abend wieder frei. Ein paar SS-Leute, die sie jeden Mittag bewirtet, haben sich für sie verwendet. Freilich kann die Familie nicht länger bleiben, nicht in der feinen Wohnung am Marktplatz, nicht in der schönen Stadt am Rhein. Die Mutter muß mit den vier Kindern in den Osten flüchten. "Du bist meine Strafe", hat sie zu Barbara gesagt.

Wie die Haßliebe zwischen Mutter und Tochter und die Spuren der NS-Zeit ein ganzes Leben überschatten, erzählt der Freiburger Therapeut Tilmann Moser in seinem Buch "Mutterkreuz und Hexenkind". Ob Barbara tatsächlich existiert oder nur Mosers psychodidaktische Erfindung ist, bleibt allerdings sein Geheimnis. Denn Barbara tritt dem Leser zwar als Chronistin des eigenen Schicksals entgegen. Doch wer hier wirklich spricht, ist ungewiß. Ist es der Therapeut, die Patientin, sind es beide zusammen, handelt es sich um ein redigiertes Tagebuch, um Gesprächsprotokolle oder schlicht um eine literarische Fiktion? Moser hat sich jeden Kommentar zu dieser "Fallgeschichte" erspart.

Schon deshalb liegt der Verdacht nahe, daß "Mutterkreuz und Hexenkind" vor allem die therapeutischen Thesen und Vorlieben des Autors bebildern soll. Die klassische Übertragungsanalyse hält Moser - wie er schon in "Dämonische Figuren. Die Wiederkehr des Dritten Reiches in der Psychotherapie" (1996) verkündet hat - bei der Bearbeitung der NS-Vergangenheit für wenig tauglich. Er bevorzugt statt dessen ein Inszenierungsmodell, das sich der "Familienaufstellung" seines umstrittenen Münchner Kollegen Bert Hellinger nähert: Die Patienten schaffen sich virtuelle Ansprechpartner und agieren ihre Spannungen und Konflikte psychodramatisch aus.

"Mutterkreuz und Hexenkind" spiegelt ganz offensichtlich ein solches Setting: Häufig sucht Barbara den Dialog mit der Mutter, manchmal mit dem Vater. Doch im Unterschied zu den Behandlungen, die Mosers "Dämonische Figuren" reflektieren, hat der Therapeut nun keine Stimme mehr. Barbara erzählt ihre Geschichte scheinbar aus eigenem Antrieb - mal als altkluge Göre, mal als einsam revoltierende Tochter. Nirgends aber scheint der Terror wirklichen Leidens auf. Stets bleibt die Sprache flach, unbelebt, verhalten. Allzu viele falsche Töne, allzu klischierte Gefühlshüllen geistern über die Seiten. An der Übertragungsanalyse stört Moser die Wucht der Affekte, der negativen Energien und Zuschreibungen, mit denen der Patient sein Gegenüber überzieht. Genau an dieser emotionalen Dichte mangelt es seinem Buch. Deshalb geht es nicht zu Herzen.

Dabei ist Barbaras Biographie ein Beleg für alles, was die Forschung über die Belastung der Nachgeborenen zusammengetragen hat: das Schweigen der Eltern, das Mißtrauen, Ohnmacht und gespaltene Identitäten erzeugt; die unterschwellige Infizierung mit rassistischem Gedankengut; das Gefühl einer diffusen Schuld, einer Erblast, die es stellvertretend abzutragen gilt. Barbara entpuppt sich als prototypischer Fall: Ihre Mutter liebte den Führer und haßte die Juden, ein Leben lang. Dennoch gab sie den Männern im Keller zu essen. Kein Wunder, daß dem Kind alle Maßstäbe verrutschen: Ist die Mutter gut, ist sie böse? Und was ist mit Ruth passiert, die aus der herrschaftlichen Wohnung am Marktplatz verschwand, damit Barbaras Familie dort einziehen konnte? Fragen über Fragen, auf die das Mädchen keine Antworten findet.

Das einzige, was die Heranwachsende begreift, ist das tödliche Ausmaß ihres Verrats: Sie hat die beiden Juden und den Schuster ans Messer geliefert und zugleich ihre Nächsten um Heimat, Auskommen und Ehre betrogen. Doch niemand - nicht die Mutter, nicht der Vater, nicht die Geschwister - wird jemals mit ihr darüber sprechen. "Mama hat das Mutterkreuz für ein Monster bekommen." Am lautesten klagt Barbara sich selbst an.

Nach dem Krieg ist die Familie gebrandmarkt, verarmt, enttäuscht. Barbara rebelliert, sucht sich jüdische Freunde, läßt sich einen Davidstern auf die Brust tätowieren. Ruhe findet sie nicht. Die Eltern sterben, um weiterhin durch ihre Träume zu spuken. So beschließt das Kind, in die Haut der Toten zu schlüpfen.

Das Rollenspiel beginnt, und Tilmann Moser wacht darüber - der lautlose Meister und sein Geschöpf. "Mutterkreuz und Hexenkind" scheint am therapeutischen Reißbrett entstanden zu sein. Trotzdem sieht der Leser am Ende womöglich klarer: Einen rückwärtigen Trost gibt es nicht. Die braunen Flecken auf der Seele mögen verblassen. Vergehen werden sie nicht. DORION WEICKMANN

Tilmann Moser: "Mutterkreuz und Hexenkind". Eine Gewissensbildung im Dritten Reich. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999. 141 S., geb., 34,- DM.

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