Die Mutter tauft ihn Anton, nennt ihn aber Percy. Mit ihrer Behauptung, zu seiner Zeugung sei kein Mann nötig gewesen, wächst er auf. Und mit ihren Briefen an Ewald Kainz, der einmal in Stuttgart eine politische Rede hielt. Percy wird Krankenpfleger an einem psychiatrischen Krankenhaus und eines Tages mit einem Fall betraut, an dem die Ärzteschaft verzweifelt. Der Patient heißt: Ewald Kainz.
Ein wilder, ein mit allen Daseinsfarben auftrumpfender Roman darüber, was die Liebe vermag, was der Glaube vermag, was die Sprache vermag.
Ein wilder, ein mit allen Daseinsfarben auftrumpfender Roman darüber, was die Liebe vermag, was der Glaube vermag, was die Sprache vermag.
Ein großer Wurf. Welt am Sonntag
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Bei bester Laune hat Rezensent Adam Soboczynski Martin Walser in diesem Roman erlebt, denn wenn auch andere Autoren im Alter zu formaler Strenge neigen, pflege Walser eher die menschenfreundliche Heiterkeit. Sehr verspielt geht es also bei "Mutttersohn" zu, biografisch und sehr anspielungsreich. Der Roman erzählt vom "anmutigen und würdevollen" Percy Anton, der angeblich ohne Vater gezeugt wurde und in seiner edlen Einfalt sowohl einem Talkshow-Publikum wie auch den Patienten in der Nervenklinik, in der er als Pfleger arbeitet, Trost und Glauben spendet. Um diesen Percy Anton herum baut Walser etliche Ärzte und Patienten, deren psychische Probleme Walser freudig entfaltet, wie sich Rezensent Soboczynski freut, denen er aber auch das "Glück gnädiger Vernebelung" zuteil werden lässt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.07.2011Die letzte Wende
Jesus am Bodensee: Martin Walsers neuer Roman erzählt von einem heiligen Muttersohn
"Es ist", sagt Walser, "die Glaubensfrage am schärfsten Beispiel. Wenn man das glaubt, kann man alles glauben. Da bleibt nur noch die Auferstehung."
Er heißt Percy, ist Pfleger in einer psychiatrischen Landesklinik in Süddeutschland, kam 1977 auf die Welt, und zu seiner Zeugung, so hat es ihm seine Mutter versichert, war kein Vater nötig. Der Roman, den Martin Walser über diesen Percy geschrieben hat, heißt "Muttersohn", und er selbst sagt, es sei sein bislang hellstes Buch geworden. Noch vor fünf Jahren wäre es ihm nicht möglich gewesen, ein solches Buch zu schreiben.
Martin Walser ist 84 Jahre alt, er hat in seinem Leben ungefähr so viele Bücher geschrieben, wie er Jahre zählt, und er ist der deutsche Schriftsteller schlechthin. Unter den Autoren seiner Generation, die das geistige Leben dieses Landes seit mehr als fünfzig Jahren prägen, ist er der mit Abstand produktivste. Einer, der das Leben schreibend erlebt, schreibend erfasst. Seine Romanwelt ist die des deutschen Mittelmannes, des deutschen Bürgers mit all seinen Lebensunterdrückungen, Sehnsüchten, seinen Ängsten vor allem. Seiner Angst. Es kann übrigens natürlich sein, dass das am Anfang gar nicht so war, dass es am Anfang von Martin Walsers Schreiben tatsächlich nur um selbst erlebte oder selbst erdachte Durchschnittslebenswiderstände ging, aber irgendwann war die Walser-Romanwelt so stark und seine Bücher so erfolgreich, dass der deutsche Mittelmann gar nicht mehr umhinkonnte, seine Unterdrückungen nach der Walser-Welt auszurichten. Walser ist ein großes Wir. So unangenehm einem das auch manchmal ist. In "Muttersohn" sagt ein suizidgefährdeter Motorradlehrer und Insasse der Psychiatrie: "Ich bin natürlich wie alle."
Sie sind keinen sehr weiten Weg gegangen, die Helden seiner Romane in den letzten fünfzig Jahren. Die Lebenskonventionen sind ähnlich geblieben, die hoffnungslosen Ausbruchsversuche auch. Im hohen Alter wirken ihre Kämpfe mitunter etwas lächerlicher, aussichtsloser, dadurch aber oft auch: heroischer. Der Autor selbst ist in diesen Jahren dafür einen umso weiteren Weg gegangen. So heißt es normalerweise: vom Kommunisten zum nationalbewussten Redner am rechten Rand. Walser selber sagt immer, er habe sich eigentlich gar nicht bewegt. Gegen den Vietnamkrieg, für die Wiedervereinigung, gegen die "Monumentalisierung unserer Schande", das Holocaust-Mahnmal in der Mitte Berlins, jetzt für Winfried Kretschmann und seine Grünen, für Angela Merkel, aber gegen ihre Außenpolitik und den Krieg in Afghanistan. Schlingerpfade einer deutschen Mitte. Oder auch: irgendwie geradeaus.
Und jetzt also: die Helligkeit. Jetzt also: Percy. Jetzt also: die letzte Wende. Viele Vorbilder gibt es ja nicht für einen vaterlos gezeugten jungen Mann, und als dieser Percy in der Mitte des Romans - sein Ruhm ist schon gewaltig - in einer Talkshow erstmals gefragt wird: "Dass Sie mit Nazareth konkurrieren ist Ihnen bewusst?", antwortet er zwar ausweichend: "Ich weiß nicht, was das ist: konkurrieren." Aber da ist es raus: Ja, Percy ist eine Jesus-Figur unserer Zeit. Ein Mann mit unglaublicher Herkunftsgeschichte. Walser selbst hat in einem Interview dazu gesagt: "Es ist die Glaubensfrage am schärfsten Beispiel. Wenn man das glaubt, kann man alles glauben. Da bleibt nur noch die Auferstehung."
Martin Walser hat einen Glaubensroman geschrieben, einen Roman gegen die Vernunft, über die Möglichkeit eines Percy in unserer Welt. Percy selbst macht gar nicht so eine große Sache daraus, aus der Vaterlosigkeit, der Wundererzählung seiner Mutter Fini. Doch der Mangel treibt ihn an, die Lücke in seinem Leben. Er sucht nach einem Vater. Nicht nach dem echten, das glaubt er schon, dass es den nicht gibt, aber nach einem anderen Vater, einem hier von dieser Welt. Diese Suche treibt ihn, treibt den Roman voran. Am Anfang steht Ewald Kainz, der Motorradlehrer, der sagt, dass er wie alle ist.
Er liegt in der Psychiatrie in Scherblingen, wo Percy Pfleger ist, im Bett und schweigt. Percy schweigt mit ihm, nur wenige können so gut und innig schweigen wie er, doch schließlich erzählt er ihm seine Geschichte: Percys Mutter hat Kainz geliebt, seit sie ihm bei einer Rede auf einer Demonstration in Stuttgart 1973 gegen Radikalenerlass und Vietnamkrieg einmal für wenige Minuten das Mikrofon halten durfte. Seit diesem Moment schrieb sie ihm Briefe, unendlich viele Briefe, Liebesbriefe, die sie nie abschickte. Ihrem Sohn Percy las sie die Briefe später vor, immer wieder. Er hat mit diesen Briefen Lesen gelernt. Er kann sie auswendig, bis heute. Jetzt trägt er Ewald Kainz, dem Selbstmordgefährdeten, der sich in der Praxis einer von ihm hoffnungslos Geliebten mit Kognak übergossen und angezündet hat, die Briefe vor. Die Wirkung auf den Patienten wird nicht die gewünschte sein.
Percys Mutter lebte damals, als sie diesen Kainz aussichtslos liebte und ihm diese Briefe schrieb, mit einem Mann zusammen, der sich Arno Schmidt nannte: ein schwuler, gewalttätiger Alkoholiker, der eigentlich Hugo Schwillk hieß, aber die Werke Arno Schmidts bis zur völligen Anverwandlung bewunderte, auswendig zitierte, sein Leben danach ausrichtete. Auch diesen Mann hatte Fini in Briefen lieben gelernt. Die schickte sie damals aber noch ab und empfing seine dafür. Die Wirkung seiner Worte war ungeheuerlich: "Sie ist, wenn sie wieder einen Brief von ihm gelesen hat, richtig zerzaust. An Leib und Seele. Seit sie seine Briefe liest, begreift sie die ganze Welt." Leider lernten sie sich kennen, in der Wirklichkeit: "Unsere Briefe haben sich ineinander verliebt. Als wir dann einander sahen, war es aus." Es folgte eine Ehe des Schreckens.
Dieser Arno Schmidt jedenfalls ist Percys Vater nicht. Wenn überhaupt sind seine Briefe eine Art Vaterschaft, die Vorstellung nur kann diesen Percy geschaffen haben.
Sein Ruhm wächst langsam. Zunächst ist es nur der Leiter des psychiatrischen Krankenhauses, Augustin Feinlein, Nachfahr eines Abtes, der ihn verehrt. Der gerne mit ihm schweigt, sich von ihm belehren lässt und selber lehrt. Latein bringt er ihm bei, die christliche Liturgie, Kirchengeschichte, die Lehren der Mystiker Jakob Böhme, Emanuel Swedenborg und Heinrich Seuse. Es geht um Einheit mit der Natur, Vertrauen, die Verschönerung der Welt mittels des Glaubens. Percy ist ein Sonnenmensch. Er hat unendliches Vertrauen in sich und in die Menschen, geht auf einem Lichtstrahl durchs Leben.
Seine Mutter, die in Briefen lebte und in Vorstellungen, hat es ihm mitgegeben. "Du bist geleitet", hat sie ihm gesagt und "Du bist ein Engel ohne Flügel". Irgendwann hat er seine Gabe zur öffentlichen Rede entdeckt. Percy redet einfach, Manuskripte kennt er nicht. Das Leben hat ihn genug gelehrt; er redet immer direkt. Sein einziges Bedürfnis sei es, "das Unwillkürliche zur Geltung zu bringen", sagt er. Reden gegen Redeschranken, gegen Unmöglichkeiten, gegen die sogenannte Vernunft, gegen die Verneiner. Percy ist der Jasager zum Leben und zur Unmittelbarkeit. Seine Wirkungen sind beeindruckend, aber nicht immer von langer Dauer.
Sein Lehrer und Schweigepartner Augustin Feinlein, den er sich zum Vater wählen wollte, wird ein jähes Ende nehmen. Feinleins Geschichte kennen Walser-Leser schon. Er hat das Feinlein-Kapitel des Romans letztes Jahr schon unter dem Titel "Mein Jenseits" vorveröffentlicht. Ein etwas ungewöhnliches Verfahren. Fast wirkte es so, als könne der stolze Autor keine Sekunde mehr damit warten, der Welt wenigstens schon einen Teil seines kommenden Erleuchtungsbuches zu präsentieren.
Jetzt fügt sich die Novelle bruchlos in den Roman ein. Feinlein wird schließlich zum Patienten in jenem Landeskrankenhaus, das er jahrzehntelang geleitet hatte. Er hatte dreißig Jahre einen falschen Glauben geglaubt, hatte an das Liebesversprechen einer Frau geglaubt, das eine Lüge war. Das wirft ihn aus der Lebensbahn. Doch war der Glaube falsch? Gibt es das, den falschen Glauben? "Glauben heißt, die Welt so schön machen, wie sie nicht ist", heißt es an einer Stelle des Buches. Früher hatte Walser immer dasselbe über das Schreiben gesagt, dass das Schreiben die Welt verschönere, dafür sei es da.
Die Welt, die Walser hier, in seinem neuen Roman, beschreibt, ist die Walser-Welt zwischen Donau und Bodensee, wie sie immer ist. Diesmal ist es eben eine Psychiatrie, am Ende eine neugegründete sogenannte Akademie für Unvollendete, eine Akademie für Musiker, die etwas klingen lassen wollen, ohne perfekt zu sein. Im Grunde eine Außenstelle der alten Psychiatrie. Die Unzulänglichkeiten, die Verzweiflungen der Walser-Helden sind die gleichen wie eh und je. Sie schlagen sich nur nicht mehr die Nasen blutig an den Wänden der Literatur, die sie umgibt. Es ist, als habe jemand eine Tür aufgestoßen und lasse Licht und Luft hinein in diese oftmals dunkle, schwere Walser-Welt.
Es ist, als habe er sich freigeschrieben von vielen bösen Geistern. "Wie im Rausch" habe er Teile des Buches verfasst, hatte er gesagt. Das musste jetzt für die Leser nicht unbedingt eine gute Nachricht sein. Doch Walsers Jesus-Rausch bringt in diesen 500-Seiten-Roman Tempo, Farbigkeit und Licht. Und am (natürlich dramatischen, wenn auch historisch irgendwie bekannten) Ende einen gelösten Abschiedston von einem Autor, der aber mit Sicherheit noch sechs, sieben Romane schreiben wird.
Über das Alter hat Walser gesagt, "dass es sehr anregend sein kann, wenn man spürt, es wird eng". Anregend für ihn und seine Leser. Mit seinem Percy winkt er zum vorläufigen Abschied so: "Ich verjuble alle Jahre, alle Zeit / Ich baue Leichtigkeit an wie andere Mais / und dünge sie mit Himmelslicht. / Ich hebe ab, um abzustürzen, / irre aufwärts in die Welt, zugeklebt / die Augen mit Schmetterlingsflügeln. / Ich bin eine prima Konstruktion. / Produziert ihr Kälte. / Ich produzier' Wärme."
VOLKER WEIDERMANN
Martin Walser: "Muttersohn". Rowohlt-Verlag, 500 Seiten, 24,95 Euro. Das Buch erscheint am 12. Juli.
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Jesus am Bodensee: Martin Walsers neuer Roman erzählt von einem heiligen Muttersohn
"Es ist", sagt Walser, "die Glaubensfrage am schärfsten Beispiel. Wenn man das glaubt, kann man alles glauben. Da bleibt nur noch die Auferstehung."
Er heißt Percy, ist Pfleger in einer psychiatrischen Landesklinik in Süddeutschland, kam 1977 auf die Welt, und zu seiner Zeugung, so hat es ihm seine Mutter versichert, war kein Vater nötig. Der Roman, den Martin Walser über diesen Percy geschrieben hat, heißt "Muttersohn", und er selbst sagt, es sei sein bislang hellstes Buch geworden. Noch vor fünf Jahren wäre es ihm nicht möglich gewesen, ein solches Buch zu schreiben.
Martin Walser ist 84 Jahre alt, er hat in seinem Leben ungefähr so viele Bücher geschrieben, wie er Jahre zählt, und er ist der deutsche Schriftsteller schlechthin. Unter den Autoren seiner Generation, die das geistige Leben dieses Landes seit mehr als fünfzig Jahren prägen, ist er der mit Abstand produktivste. Einer, der das Leben schreibend erlebt, schreibend erfasst. Seine Romanwelt ist die des deutschen Mittelmannes, des deutschen Bürgers mit all seinen Lebensunterdrückungen, Sehnsüchten, seinen Ängsten vor allem. Seiner Angst. Es kann übrigens natürlich sein, dass das am Anfang gar nicht so war, dass es am Anfang von Martin Walsers Schreiben tatsächlich nur um selbst erlebte oder selbst erdachte Durchschnittslebenswiderstände ging, aber irgendwann war die Walser-Romanwelt so stark und seine Bücher so erfolgreich, dass der deutsche Mittelmann gar nicht mehr umhinkonnte, seine Unterdrückungen nach der Walser-Welt auszurichten. Walser ist ein großes Wir. So unangenehm einem das auch manchmal ist. In "Muttersohn" sagt ein suizidgefährdeter Motorradlehrer und Insasse der Psychiatrie: "Ich bin natürlich wie alle."
Sie sind keinen sehr weiten Weg gegangen, die Helden seiner Romane in den letzten fünfzig Jahren. Die Lebenskonventionen sind ähnlich geblieben, die hoffnungslosen Ausbruchsversuche auch. Im hohen Alter wirken ihre Kämpfe mitunter etwas lächerlicher, aussichtsloser, dadurch aber oft auch: heroischer. Der Autor selbst ist in diesen Jahren dafür einen umso weiteren Weg gegangen. So heißt es normalerweise: vom Kommunisten zum nationalbewussten Redner am rechten Rand. Walser selber sagt immer, er habe sich eigentlich gar nicht bewegt. Gegen den Vietnamkrieg, für die Wiedervereinigung, gegen die "Monumentalisierung unserer Schande", das Holocaust-Mahnmal in der Mitte Berlins, jetzt für Winfried Kretschmann und seine Grünen, für Angela Merkel, aber gegen ihre Außenpolitik und den Krieg in Afghanistan. Schlingerpfade einer deutschen Mitte. Oder auch: irgendwie geradeaus.
Und jetzt also: die Helligkeit. Jetzt also: Percy. Jetzt also: die letzte Wende. Viele Vorbilder gibt es ja nicht für einen vaterlos gezeugten jungen Mann, und als dieser Percy in der Mitte des Romans - sein Ruhm ist schon gewaltig - in einer Talkshow erstmals gefragt wird: "Dass Sie mit Nazareth konkurrieren ist Ihnen bewusst?", antwortet er zwar ausweichend: "Ich weiß nicht, was das ist: konkurrieren." Aber da ist es raus: Ja, Percy ist eine Jesus-Figur unserer Zeit. Ein Mann mit unglaublicher Herkunftsgeschichte. Walser selbst hat in einem Interview dazu gesagt: "Es ist die Glaubensfrage am schärfsten Beispiel. Wenn man das glaubt, kann man alles glauben. Da bleibt nur noch die Auferstehung."
Martin Walser hat einen Glaubensroman geschrieben, einen Roman gegen die Vernunft, über die Möglichkeit eines Percy in unserer Welt. Percy selbst macht gar nicht so eine große Sache daraus, aus der Vaterlosigkeit, der Wundererzählung seiner Mutter Fini. Doch der Mangel treibt ihn an, die Lücke in seinem Leben. Er sucht nach einem Vater. Nicht nach dem echten, das glaubt er schon, dass es den nicht gibt, aber nach einem anderen Vater, einem hier von dieser Welt. Diese Suche treibt ihn, treibt den Roman voran. Am Anfang steht Ewald Kainz, der Motorradlehrer, der sagt, dass er wie alle ist.
Er liegt in der Psychiatrie in Scherblingen, wo Percy Pfleger ist, im Bett und schweigt. Percy schweigt mit ihm, nur wenige können so gut und innig schweigen wie er, doch schließlich erzählt er ihm seine Geschichte: Percys Mutter hat Kainz geliebt, seit sie ihm bei einer Rede auf einer Demonstration in Stuttgart 1973 gegen Radikalenerlass und Vietnamkrieg einmal für wenige Minuten das Mikrofon halten durfte. Seit diesem Moment schrieb sie ihm Briefe, unendlich viele Briefe, Liebesbriefe, die sie nie abschickte. Ihrem Sohn Percy las sie die Briefe später vor, immer wieder. Er hat mit diesen Briefen Lesen gelernt. Er kann sie auswendig, bis heute. Jetzt trägt er Ewald Kainz, dem Selbstmordgefährdeten, der sich in der Praxis einer von ihm hoffnungslos Geliebten mit Kognak übergossen und angezündet hat, die Briefe vor. Die Wirkung auf den Patienten wird nicht die gewünschte sein.
Percys Mutter lebte damals, als sie diesen Kainz aussichtslos liebte und ihm diese Briefe schrieb, mit einem Mann zusammen, der sich Arno Schmidt nannte: ein schwuler, gewalttätiger Alkoholiker, der eigentlich Hugo Schwillk hieß, aber die Werke Arno Schmidts bis zur völligen Anverwandlung bewunderte, auswendig zitierte, sein Leben danach ausrichtete. Auch diesen Mann hatte Fini in Briefen lieben gelernt. Die schickte sie damals aber noch ab und empfing seine dafür. Die Wirkung seiner Worte war ungeheuerlich: "Sie ist, wenn sie wieder einen Brief von ihm gelesen hat, richtig zerzaust. An Leib und Seele. Seit sie seine Briefe liest, begreift sie die ganze Welt." Leider lernten sie sich kennen, in der Wirklichkeit: "Unsere Briefe haben sich ineinander verliebt. Als wir dann einander sahen, war es aus." Es folgte eine Ehe des Schreckens.
Dieser Arno Schmidt jedenfalls ist Percys Vater nicht. Wenn überhaupt sind seine Briefe eine Art Vaterschaft, die Vorstellung nur kann diesen Percy geschaffen haben.
Sein Ruhm wächst langsam. Zunächst ist es nur der Leiter des psychiatrischen Krankenhauses, Augustin Feinlein, Nachfahr eines Abtes, der ihn verehrt. Der gerne mit ihm schweigt, sich von ihm belehren lässt und selber lehrt. Latein bringt er ihm bei, die christliche Liturgie, Kirchengeschichte, die Lehren der Mystiker Jakob Böhme, Emanuel Swedenborg und Heinrich Seuse. Es geht um Einheit mit der Natur, Vertrauen, die Verschönerung der Welt mittels des Glaubens. Percy ist ein Sonnenmensch. Er hat unendliches Vertrauen in sich und in die Menschen, geht auf einem Lichtstrahl durchs Leben.
Seine Mutter, die in Briefen lebte und in Vorstellungen, hat es ihm mitgegeben. "Du bist geleitet", hat sie ihm gesagt und "Du bist ein Engel ohne Flügel". Irgendwann hat er seine Gabe zur öffentlichen Rede entdeckt. Percy redet einfach, Manuskripte kennt er nicht. Das Leben hat ihn genug gelehrt; er redet immer direkt. Sein einziges Bedürfnis sei es, "das Unwillkürliche zur Geltung zu bringen", sagt er. Reden gegen Redeschranken, gegen Unmöglichkeiten, gegen die sogenannte Vernunft, gegen die Verneiner. Percy ist der Jasager zum Leben und zur Unmittelbarkeit. Seine Wirkungen sind beeindruckend, aber nicht immer von langer Dauer.
Sein Lehrer und Schweigepartner Augustin Feinlein, den er sich zum Vater wählen wollte, wird ein jähes Ende nehmen. Feinleins Geschichte kennen Walser-Leser schon. Er hat das Feinlein-Kapitel des Romans letztes Jahr schon unter dem Titel "Mein Jenseits" vorveröffentlicht. Ein etwas ungewöhnliches Verfahren. Fast wirkte es so, als könne der stolze Autor keine Sekunde mehr damit warten, der Welt wenigstens schon einen Teil seines kommenden Erleuchtungsbuches zu präsentieren.
Jetzt fügt sich die Novelle bruchlos in den Roman ein. Feinlein wird schließlich zum Patienten in jenem Landeskrankenhaus, das er jahrzehntelang geleitet hatte. Er hatte dreißig Jahre einen falschen Glauben geglaubt, hatte an das Liebesversprechen einer Frau geglaubt, das eine Lüge war. Das wirft ihn aus der Lebensbahn. Doch war der Glaube falsch? Gibt es das, den falschen Glauben? "Glauben heißt, die Welt so schön machen, wie sie nicht ist", heißt es an einer Stelle des Buches. Früher hatte Walser immer dasselbe über das Schreiben gesagt, dass das Schreiben die Welt verschönere, dafür sei es da.
Die Welt, die Walser hier, in seinem neuen Roman, beschreibt, ist die Walser-Welt zwischen Donau und Bodensee, wie sie immer ist. Diesmal ist es eben eine Psychiatrie, am Ende eine neugegründete sogenannte Akademie für Unvollendete, eine Akademie für Musiker, die etwas klingen lassen wollen, ohne perfekt zu sein. Im Grunde eine Außenstelle der alten Psychiatrie. Die Unzulänglichkeiten, die Verzweiflungen der Walser-Helden sind die gleichen wie eh und je. Sie schlagen sich nur nicht mehr die Nasen blutig an den Wänden der Literatur, die sie umgibt. Es ist, als habe jemand eine Tür aufgestoßen und lasse Licht und Luft hinein in diese oftmals dunkle, schwere Walser-Welt.
Es ist, als habe er sich freigeschrieben von vielen bösen Geistern. "Wie im Rausch" habe er Teile des Buches verfasst, hatte er gesagt. Das musste jetzt für die Leser nicht unbedingt eine gute Nachricht sein. Doch Walsers Jesus-Rausch bringt in diesen 500-Seiten-Roman Tempo, Farbigkeit und Licht. Und am (natürlich dramatischen, wenn auch historisch irgendwie bekannten) Ende einen gelösten Abschiedston von einem Autor, der aber mit Sicherheit noch sechs, sieben Romane schreiben wird.
Über das Alter hat Walser gesagt, "dass es sehr anregend sein kann, wenn man spürt, es wird eng". Anregend für ihn und seine Leser. Mit seinem Percy winkt er zum vorläufigen Abschied so: "Ich verjuble alle Jahre, alle Zeit / Ich baue Leichtigkeit an wie andere Mais / und dünge sie mit Himmelslicht. / Ich hebe ab, um abzustürzen, / irre aufwärts in die Welt, zugeklebt / die Augen mit Schmetterlingsflügeln. / Ich bin eine prima Konstruktion. / Produziert ihr Kälte. / Ich produzier' Wärme."
VOLKER WEIDERMANN
Martin Walser: "Muttersohn". Rowohlt-Verlag, 500 Seiten, 24,95 Euro. Das Buch erscheint am 12. Juli.
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